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Als hätten wir die Sonne verscharrt im Meer der Geschichten

Fragmente zu einer Geopoetik Nordeurasiens

Ausstellung, Publikation

21.10.2023–14.1.2024

Als hätten wir die Sonne verscharrt im Meer der Geschichten – gleichermaßen Ausstellung und Forschungsprojekt – webt einen unendlichen Stoff aus Erzählungen von Künstler*innen, Kurator*innen, Schriftsteller*innen und Kenner*innen traditioneller Kulturpraktiken. Das Projekt spürt den vielen Welten nach, die neben- und miteinander existierten, häufig trotz oder entgegen der repressiven Vorstellungen der wechselnden Regime – vom Russischen Kaiserreich, über die UdSSR bis zum heutigen Russland –, die weite Teile Osteuropas sowie Zentral- und Nordasiens kontrollierten.

Angesichts dieses geografischen Bezugs erscheint der Projekttitel ein wenig exzentrisch. Er ist inspiriert vom Gedicht „The Blesséd Word: A Prologue on Kashmir“ des kaschmirischen Autors Agha Shahid Ali, das dieser 1990 seinem von Gewalt gezeichneten Land widmete. Ali behandelt darin die Trauer über die Zerstörung seiner Heimat und setzt das eigene Schicksal in Beziehung zu jenem des Dichters Ossip Mandelstam, der von Stalins Regime verfolgt und ins innere Exil gezwungen wurde und schließlich in einem Lager umkam. Alis Gedicht bringt die Tragödie seines Volkes und die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat zum Ausdruck und zitiert dabei eine Zeile von Mandelstam – wodurch ein anderen Verlust, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort erinnert wird. Ali besingt sein Land, er beschwört dessen Name in 18 verschiedenen phonetischen und grafischen Varianten (darunter auch cauchemar, das französische Wort für Alptraum). Als hätten wir die Sonne verscharrt im Meer der Geschichten steht im Zeichen dieser Rhythmisierung von Zeiten und Orten, der Verflechtung von Versen aus Alis und Mandelstams Gedichten sowie einer Vielstimmigkeit von Bedeutungen, besonders in Zeiten der erneuten imperialen kriegerischen Aggression Russlands, die mit der Invasion der Ukraine 2014 begann und sich heute in einem brutalen Angriffskrieg fortsetzt.

Worte sind oft eine Form des Missbrauchs. Ob der Begriff „postsowjetisch“, der mit Bezug auf eine bestimmte historische Ära auch die Gegenwart bestimmt, oder das Konstrukt „Eurasien“, wie es im zeitgenössischen Russland von der extremen politischen Rechten verstanden wird (die den Staat vereinnahmt hat): Worte zwingen Orten bestimmte Bedeutungen auf. Der Begriff „Nordeurasien“ im Untertitel der Ausstellung ist nicht als eine zukünftige alternative Bezeichnung gedacht. Er soll vielmehr eine möglichst neutrale geografische Bezeichnung sein – so neutral, wie Geografie es irgendwie erlaubt –, eine Verortung, die auf der Abwesenheit bisheriger Benennungen sowie der des Imperiums selbst beruht. In dieser Lücke lässt sich aus der Vielfalt unterdrückten Lebens, aus Communitys, die allen Widrigkeiten zum Trotz weiter existieren, eher eine Zukunft erahnen, die frei und voll von Bedeutung ist.

Ausstellungen finden nie im luftleeren Raum statt. Diese folgt den Prämissen ihrer Vorgängerin O Quilombismo, die von der Kraft erzählte, die aus einer Vielzahl epistemischer Traditionen erwächst, als Grundlage für neue Modelle des Zusammenlebens, frei von der Unterdrückung, die sich sonst auf allen Ebenen des Lebens und des Wissens manifestiert.

Lyrik ist ein mächtiges Werkzeug, denn sie formt die Vorstellungskraft, die selbst Wirklichkeiten schaffen kann. Wie kann sich eine andere Idee dieses riesigen Teils der Erde entwickeln, der durch imperiale Eroberung zusammengezurrt wurde und der Gewalt der Benennung gemeinsam mit zahllosen anderen Formen der Brutalität gegen Individuen, Gemeinschaften und die Umwelt ausgesetzt war? Eine Idee, die sich von dem Hegemonen befreit, der die einzelnen Gebiete überhaupt erst zu einer Einheit ge- und verbunden hat? Eine Vorstellung, in der diese Gebiete nicht mehr als ein Ganzes dastehen, sondern in ihre konstitutiven Teile aufgelöst werden, die alle eine individuelle Betrachtung verdienen? Und wie kann sich bei alledem eine solidarische Haltung konsolidieren zwischen den Gesellschaften und Gemeinschaften, die sich in unterschiedlichen Stadien der Emanzipation befinden, während sie sich zugleich aus dem epistemischen Amalgam herausarbeiten, das die repressive Macht geschaffen hat – die selbst am wenigsten von Prozessen der Dekolonisierung beeinflusst wurde und sich ihnen mit unsäglicher Gewalt entgegenstellt?

Als hätten wir die Sonne verscharrt im Meer der Geschichten präsentiert eine nicht-totalisierende Vision, indem vielfältige Formen von Subjektivitäten, Imaginationen und Sinnlichkeiten aufgerufen werden, welche die Kolonisierung verdrängt hat und die später im Kanon der Moderne keinen Platz fanden; und indem zeitgenössische Werke gezeigt werden, die Beharrlichkeit, Widerstand und Freude betonen und eine Verbundenheit jenseits von zwanghaft begrenzten Vergangenheiten erforschen. Viele der Positionen sind durch eben diesen Kanon geprägt, ihm aber nicht unterworfen. Die Ausstellung und Publikation laden ein zu Prozessen der kollektiven Erinnerung, zur Wiederbelebung von Kosmologien und verschwundenen Wissensbeständen, zur Betrachtung der Netzwerke all jener, die sich über imperial gezogene Grenzen hinwegsetzen, zur Formierung von kollektivem Widerstand und schließlich zu einer Vorstellung von Zukünften, die gelebt, überlebt und genossen werden können.

Dieses Projekt wurde konzipiert in Zusammenarbeit mit dem Kurator Iaroslav Volovod, der die Kolonialgeschichte des Russischen Kaiserreichs und der UdSSR erforscht; den Künstler*innen und Kurator*innen Nikolay Karabinovych und Saodat Ismailova; und der Historikerin Kimberly St. Julian-Varnon, deren Forschungen sich auf die ehemalige sowjetische Einflusssphäre konzentrieren.

Ausstellungsarchitektur: interdisciplinary agency 2050+