In Snail (Spiral) greift Chingiz Aidarov auf seine Erfahrung als ausländischer Vertragsarbeiter in Russland zurück und nimmt das migrantische Leben in den Fokus, wie es sich in der monotonen und vorbestimmten täglichen Existenz jener Menschen ausdrückt, die im System der industriell-betrieblichen Ausbeutung gefangen sind. Aidarov entwickelte seine Performance, während er als Ladearbeiter bei einer Backwaren-Fabrik angestellt war und in einer sogenannten Gummi-Wohnung hauste. So wurden umgangssprachlich einfache, überbelegte Wohnungen bezeichnet, in denen die Menschen für einen bloßen Schlafplatz zahlten. In dieser Welt kommen Wochenenden praktisch nicht vor, jeder Tag beginnt mit dem Einrollen der Matratze. Aidarov erinnert sich, dass man nach drei Monaten Arbeit ohne einen einzigen freien Tag „die Zeit anders erlebt; man verliert die Verbindung zu ihr, das Leben misst sich am Aus- und Einrollen der Matratze“. Für seine Performance tauschte Aidarov diverse alte Matratzen seiner Kollegen auf einer Baustelle gegen neue ein und vernähte sie zu einem langen Band, das als ein kollektives Bild für deren Schicksal verstanden werden kann. Dieses Band rollt er mühsam zu einer riesigen Schnecke auf, die beinahe über ihn hinauswächst. Aidarov wählte eine lauschige Waldlichtung als Ort für seine Performance – ein Ort, der noch von aggressiver Stadtentwicklung unbehelligt ist, der aber bald auch zu einer Baustelle werden könnte. Von der Sonne beleuchtet und von organischem Leben erfüllt, ist der gewählte Ort eine Antithese zu der entmenschlichenden sonnenlosen Welt, in der viele immigrierte Menschen zu leben gezwungen sind.

Werk in der AusstellungУлитка (Спираль) / Snail (Spiral) (2021), Videodokumentation einer Performance, 10' 9"
Courtesy Chingiz Aidarov