Jurystatement

Die Werke der diesjährigen Shortlist begegnen der Vielheit der Gewalt unserer Zeit mit einem polyphonen Erleben. Die Gewalt ist grob und subtil, körperlich und verbal, städtisch und ländlich, politisch, historisch, zwischenmenschlich. Sie findet statt in der Liebe, im male gaze, im rassistischen Sehen und übersehen, im Übergang vom Individuum zur Masse, in den Erinnerungen Gefolterter und in den Bedingungen von Unterdrückung. Das Pochen einer historischen Wunde mag sich zu einem Klagegesang rhythmisieren, eine Dorfgemeinschaft zur Erzählinstanz erhoben werden. Zärtlichkeit kann der Gewalt als ihr Anderes innewohnen und in der Poetik der Begegnungen durch Humor, Zuwendung oder Trauer spürbar werden. Die Übersetzungen schaffen dem Ausgedrückten einen Sprachraum, in dem sich sein Sinn entfalten kann. In einigen Texten zurückgenommen und subtil, in anderen als poetologisch spürbare Auseinandersetzung – vor allem da, wo dem Ausdruck des Ursprungstextes selbst die Übersetzungsarbeit inhärent ist; etwa zwischen Zeichnung und Wort oder mündlicher Äußerung und Verschriftlichung. Es handelt sich hier um acht Bücher in sechs Sprachen aus sechs Regionen der Welt, die durch das Spiel mit Gattung und Genre, mit Kanon und Referenzrahmen, etwas Unwahrscheinliches schaffen: sie finden Momente der Leichtigkeit, wo sie kaum zu erwarten wären.
– Deniz Utlu für die Jury
 

DMZ Kolonie
Don Mee Choi
Aus dem Englischen von Uljana Wolf

Leere Menge
Verónica Gerber Bicecci
Aus dem Spanischen von Birgit Weilguny

Wie die einarmige Schwester das Haus fegt
Cherie Jones
Aus dem Englischen von Karen Gerwig

Schauergeschichten
Péter Nádas
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer

Über die See
Mariette Navarro
Aus dem Französischen von Sophie Beese

Die geheimste Erinnerung der Menschen
Mohamed Mbougar Sarr 
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Preisträger*innen 2023

Mädchen ohne Kleider
Maria Stepanova
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja

Was suchst du, Wolf?
Eva Viežnaviec
Aus dem Belarussischen von Tina Wünschmann