Jurystatement

So vielfältig die Titel der diesjährigen Shortlist sind, sie alle widmen sich einem bedrohten Ich, das sich zugleich als widerständiges Ich zeigt. Eines, das an sich selbst festhält, nicht gewillt, sich ungesehen und ungehört dem Kreislauf der Gewalt in dieser Welt hinzugeben.

In So gehn wir denn hinab treffen wir auf ein schutzloses, ums Überleben kämpfendes Mädchen, dessen außergewöhnliche Stimme gleichermaßen ihr selbst und der Historie gehört. Voller sprachlicher und emotionaler Wucht widersetzt sie sich der Entmenschlichung und Entwurzelung, die das Verbrechen der Versklavung ausmachen.

Mit Finesse verbindet Sankofa mehrere Lebensgeschichten mit prägenden historischen Momenten, die bis in unsere Gegenwart hineinwirken, und offenbart damit, dass Geschichte weder abgeschlossen noch glatt und politische Gewalt nie determiniert, sondern immer auch ein Resultat individueller Entscheidungen ist.

Wie sehr diese mit Machtverhältnissen verknüpft sind, zeigt die Erzählerin in Übung in Gehorsam. Sie bringt uns einem moralisch ambivalenten Opfer so nahe, dass sich alle Gewissheiten auflösen. Weitab von etablierten Narrationen stellt sich die Frage, welche persönlichen Konsequenzen aus kollektiv erfahrenen Geschichten der Unterdrückung und Verfolgung gezogen werden können.

Trauriger Tiger verlangt uns Leser*innen ab, der Realität des Kindesmissbrauchs durch die Augen eines erwachsenen Opfers zu begegnen, das auf seine Autonomie ebenso besteht wie auf die Erzählbarkeit seiner Gewalterfahrung. In dieser beeindruckenden Reflexion begegnet uns die Brutalität von gewöhnlichen Menschen, aber vor allem auch die bohrende Frage nach Komplizenschaft.

Diese spielt ebenfalls eine maßgebliche Rolle in Ich ertrinke in einem fliehenden See, eine schmerzhafte Rückschau auf eine Liebesbeziehung und zugleich eine schonungslose Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im großen Gefüge des Weltgeschehens. Verloren in einem zerstörerischen Begehren, erkämpft sich die Protagonistin durch ihr politisches Erwachen einen Weg zurück zu sich selbst.

In Autobiographie des Todes empfängt uns schließlich ein Chor, aus dem jede Stimme einen individuellen und damit würdevollen Tod für sich einfordert. Er zelebriert sowohl die fragile, rätselhafte und einzigartige Innenwelt eines jeden Menschen, wie auch die verbindende Zeitlosigkeit von kulturellen Bildern, Geschichten und Denkwelten.

Alle sechs im Folgenden von meinen Kolleg*innen der Jury eingehender vorgestellten Titel der Shortlist sind mit Souveränität und Kunstfertigkeit ins Deutsche übertragen worden. Ihre Übersetzungsleistung ist also eine doppelte: Erleben ist zu Sprache und Sprache zu Literatur geworden.
– Asal Dardan für die Jury

Sankofa
Doğan Akhanlı
Aus dem Türkischen von Recai Hallaç
Bremen: Sujet Verlag, 2024

Übung in Gehorsam
Sarah Bernstein
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2025

Autobiographie des Todes
Kim Hyesoon
Aus dem Koreanischen von Sool Park und Uljana Wolf
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2025

Ich ertrinke in einem fliehenden See
Anna Melikova
Aus dem Russischen und Ukrainischen von Christiane Pöhlmann
Berlin: Matthes & Seitz, 2024

Trauriger Tiger
Neige Sinno
Aus dem Französischen von Michaela Meßner
München: dtv Verlag, 2024

So gehn wir denn hinab
Jesmyn Ward
Aus dem Englischen von Ulrike Becker
München: Antje Kunstmann Verlag, 2024