Lesung und Gespräch

Der Angriff der Zeit auf das übrige Leben: Revolution

Mit Guo Jinniu, Martin Mosebach, Yang Lian, Yongle Zhang, YoYo und Lena Stolze

Sa 3.10.2015
16–18h
Eintritt: Einzelveranstaltung 5€/3€, Tagesticket 8€/6€
Mit Simultanübersetzung ins Deutsche und Englische

Das Ordnungssystem Zeit durchdringt alle Lebensbereiche. Im „global village“ der technologischen Zeit kann jeder zu jedem Zeitpunkt von jedem erdenklichen Ort Informationen erhalten. Der drahtlosen Kommunikation sind keine Grenzen gesetzt. Als Grundlage der Finanzmärkte treibt sie die permanente Beschleunigung der Welt voran. Die Zukunft wird bereits von der Gegenwart aufgebraucht und mit riesigen Mengen von Daten, Müll und Schulden zugebaut. Unter den Bedingungen von Echtzeitkommunikation und globaler Mobilität gehen zwei Zeitressourcen verloren: Die Sinn und Identität stiftende Vergangenheit, und eine Zukunft, die utopische Gegenentwürfe zum Jetzt erlaubt.
Im Rahmen des Auftakts von „100 Jahre Gegenwart“ untersuchen vier Veranstaltungen den Zeitraum von hundert Jahren als historischen Imaginationsraum unterschiedlicher Ausdehnungen und Verknüpfungen von Zeit: Was prägt die gegenwärtig vorherrschende Auffassung von Zeit im beschleunigten Kapitalismus? Wie beeinflusst sie unsere Wahrnehmung und Deutung der Welt? Wie wird Zeit im Experiment und im Labor hergestellt? Wie werden historische Ereignisse, Texte und Kulturen zu erfahrbaren Räumen? Und wie könnten andere Zeitvorstellungen Handlungsspielräume eröffnen?

Die Arbeitsbedingungen bei chinesischen Konzernen wie Foxconn machen die immensen Kollateralschäden des kapitalistischen Fortschrittsglaubens deutlich: Während die Fabrikarbeiter*innen selbst einem unmenschlichen Zeitregime unterworfen sind, tragen die von ihnen hergestellten Mobiltelefone und Tablets zur Ausweitung globaler Echtzeitkommunikation bei. Selbstbestimmte Zeit finden viele chinesische Arbeiter*innen nur in der Beschäftigung mit Poesie, in der ein anderes, nicht-lineares Zeitverständnis möglich ist: Im Chinesischen haben Verben keine Zeitform. In welchem Verhältnis stehen die Literaturen Chinas und Europas zum Konzept der Zeit? Kam der Fortschrittsglaube schon mit der Kulturrevolution nach China? Welche Rolle spielt die Geschichte der chinesischen Umstürze und Verfassungen in diesem Zusammenhang?
Die literarischen Texte werden im chinesischen Original gelesen, die Schauspielerin Lena Stolze liest die deutschen Fassungen.

Guo Jinniu, Dichter, ehemaliger Foxconn-Arbeiter, Shenzhen, Yang Lian, Dichter, Berlin, Martin Mosebach, Schriftsteller, Frankfurt am Main, Lena Stolze, Schauspielerin, Berlin, Yongle Zhang, Verfassungstheoretiker, Beijing, YoYo, Autorin, Berlin


Biografien

Guo Jinniu wurde im chinesischen Hebei geboren und lebt jetzt in Shenzhen. Für einige Zeit arbeitete er als Wanderarbeiter in Südchina in einer Foxconn-Fabrik. Dort bestand eine seiner Aufgaben darin, Sicherheitsnetze anzubringen, um die Angestellten davon abzuhalten, Selbstmord zu begehen, indem sie sich von den Fabrikgebäuden stürzen. Guo hat Gedichte und Geschichten in China veröffentlicht und seine Gedichte sind ins Englische, Deutsche, Niederländische und Tschechische übersetzt worden. Seine chinesische Gedichtsammlung, deren Titel sich mit Heimkehr auf dem Papier übersetzen lässt, gewann weltweit zahlreiche Preise. Auf Deutsch erschienen seine Gedichte bisher nur vereinzelt in Tageszeitungen, auf Englisch erschienen sie in dem von Yang Lian herausgegebenen Band A Massively Single Number.

Yang Lian ist ein in Berlin lebender chinesischer Dichter. Seine zahlreichen Gedicht-, Prosa- und Essaybände wurden in über 25 Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen von ihm zuletzt das Langpoem Konzentrische Kreise (Hanser 2013) und der Essayband Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons (Suhrkamp 2009). Ihm wurden mehrere chinesische Literaturpreise verliehen, u.a. der International Capri Prize 2014, der Tian Duo (Himmlische Glocke) Preis für das lange Gedicht 2013 und der Nonino International Literature Prize 2012. Yang Lian wurde in den Vorstand von PEN International gewählt, hat an mehreren chinesischen Universitäten gelehrt und war DAAD-Stipendiat sowie Mitglied des Wissenschaftskollegs in Berlin.

Martin Mosebach, geboren in Frankfurt am Main, ließ sich nach dem Abschluss des zweiten juristischen Staatsexamens in seiner Geburtsstadt als Schriftsteller nieder. Sein erster Roman Das Bett erschien 1983. Bis heute sind zehn Romane entstanden, zuletzt 2014 Das Blutbuchenfest, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur. 2007 erhielt er den Büchner-Preis; 2015 die Goethe Plakette der Stadt Frankfurt am Main. Er ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg und der Bayrischen Akademie der Schönen Künste. Er war Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin und des Wissenschaftskollegs Morphomata der Universität zu Köln. 2014 war er Stipendiat der Deutschen Akademie Villa Massimo, Rom und 2015 Stipendiat der C.F. von Siemens-Stiftung in München.

Lena Stolze ist Schauspielerin und lebt in Berlin. Nach dem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte begann sie 1975 ihre Schauspiel-Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Ab 1977 spielte sie u.a. am Wiener Burgtheater, am Residenztheater in München und am Thalia Theater in Hamburg. Auch außerhalb des Theaters wurde Lena Stolze 1982 mit der Rolle der Sophie Scholl in Michael Verhoevens Film Die weiße Rose und Percy Adlons Fünf letzte Tage bekannt. Ein weiterer großer internationaler Erfolg war Stolzes komödiantische Interpretation in Das schreckliche Mädchen (1990/ Michael Verhoeven). Stolze erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. zwei Bundesfilmpreise. Sie arbeitete u.a. mit Michael Haneke, Marleen Gorris, Christoph Roehl, Robert Thalheim und Margarethe von Trotta, ist Jurorin der Filmakademie und des Europäischen Filmpreises.

YoYo (Liu Youhong) ist Schriftstellerin und Künstlerin und lebt in Berlin. Einer ihrer Romane wurde unter dem Titel Ghost Tide aus dem Chinesischen ins Englische übersetzt. YoYo hat an unterschiedlichen Institutionen wie dem Eton Collge in Windsor und der School of Oriental and African Studies (SOAS) an der University of London unterrichtet. Ihr künstlerisches Werk umfasst Performances und Malerei, die 2013 in der Berlin Avantgarde-Galerie gezeigt wurden. YoYo erhielt Schriftstellerstipendien und wurde zu künstlerischen Projekten in China, den USA und in Europa eingeladen, unter anderem an die Universität von Shantou in der Provinz Guangdong, China, nach Yaddo, eine Künstlerkolonie in New York, an die Akademie Schloss Solitude und vom Deutschen Akademischen Austauschdienst, an das Centro Civitella Ranieri in Italien, nach Cove Park in England und an das MEET in Frankreich.

Yongle Zhang ist Verfassungshistoriker und Politiktheoretiker. Nach seiner Promotion in Politischen Wissenschaften an der University of California, Los Angeles, ist er jetzt Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Peking. In seinem Buch The Remaking of An Old Country: 1911-1917 (2011) stellt er theoretische Perspektiven der vergleichenden Imperiengeschichte und der State-Building-Prozesse vor und analysiert verschiedene politische und juristische Ansätze, das riesige chinesische Territorium als ein Land zu konstituieren. Im Gegensatz zur Mainstream-Historiografie der Revolution von 1911 verschiebt er den Fokus weg vom revolutionären Bruch und hin zu Kompromiss und Kontinuität und zeigt, wie der Glaube an den Fortschritt nach China kam.