Kuratorisches Statement

Die Notwendigkeit, Kunst und Gestaltung grundsätzlich neu zu begreifen, zu praktizieren und zu vermitteln, zieht sich wie ein roter Faden durch das 20. Jahrhundert. Nimmt man das historische Bauhaus und seine Rezeption in den Blick, wird diese transnationale Geschichte radikaler Bildungsideen sichtbar. Das Bauhaus, gegründet 1919 nach dem Ende des katastrophalen Ersten Weltkriegs, war aus dem Aufbruch der deutschen Novemberrevolution als eine Schule für Gestaltung neuer Art hervorgegangen. Am Bauhaus versammelte sich eine jüngere Generation von Künstler*innen und Architekt*innen, die mit der nationalistischen, militaristischen und obrigkeitsstaatlichen Vergangenheit abschließen wollte. Die künstlerischen und gestalterischen Avantgarden und ihre radikal-pädagogischen Ideen prägten die Weimarer Republik als erste demokratische Gesellschaft Deutschlands. Mit der Umgestaltung der materiellen Umwelt in der Verbindung von Kunst, Handwerk, Gestaltung und Baukultur sollten auch bestehende gesellschaftliche Verhältnisse reformiert werden. Neue gestalterische Praktiken, Arbeitsweisen und Lebensformen zielten dabei auf die Befreiung von Nutzlosem und Überkommenem. Bis heute stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft immer wieder neu. Wie können wir heute, hundert Jahre nach der Gründung des Bauhauses, Gestaltung und Kunst als ein gesellschaftliches Verhältnis denken? Welche Institutionen und Veränderungen wären für eine zeitgenössische fortschrittliche kulturelle Praxis notwendig?

bauhaus imaginista schlägt vor, den nationalen Rahmen zu verlassen und die Moderne als ein kosmopolitisches Projekt zu verstehen, das durch transkulturellen Austausch entstanden ist und bis heute weiterwirkt. Das Bauhaus war von Anfang an eine international ausgerichtete Schule. Studierende und Lehrende kamen aus verschiedenen Teilen Europas und Asiens, um hier zu lernen oder zu lehren. Der experimentelle, hybride Charakter der Moderne war kennzeichnend für das Bauhaus; es integrierte sozialistische und kommunistische Ideen, die Arts-and-Crafts-Bewegung und die Reformpädagogik, aber auch spiritualistische und esoterische Ansätze. Bauhäusler*innen unterhielten Verbindungen zum russischen Konstruktivismus und der niederländischen Bewegung De Stijl oder beteiligten sich an den Internationalen Kongressen für Architektur (CIAM). Heterogenität machte den Erfolg des Bauhauses aus, brachte aber auch Widersprüche und Konflikte mit sich. Den eigenen utopischen Ansprüchen genügte das Bauhaus nicht immer. Trotz des 1918 eingeführten Frauenwahlrechts und der in der Weimarer Verfassung erwähnten grundsätzlich gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten gab es auch für zahlreiche weibliche Studierende am Bauhaus keine wirkliche Gleichberechtigung. Ebenso unaufgelöst blieben Widersprüche zwischen künstlerischer und gestalterischer Ausbildung, egalitärem Anspruch, zukunftsweisender Lehre und marktgängiger Herstellung eigener „Design“-Produkte für ein überwiegend bürgerliches Publikum. Diese Widersprüche sprechen aber auch gegen jede kanonisierte Deutung des Bauhauses und gegen den Versuch, es auf einen Stil zu reduzieren.

In allen seinen Phasen von 1919 bis 1933 bleibt das Bauhaus eine Bildungsstätte von und für Praktiker*innen. Kognitive und manuelle Fähigkeiten waren beim versuchsorientierten Umgang und Lernen mit dem Material von gleichwertiger Bedeutung. Eine Tatsache, die eindeutig im Gegensatz zur Höherbewertung kognitiver Fähigkeiten im 21. Jahrhundert steht. Das Bauhaus entwickelte eine materielle, experimentelle Forschung und Praxis, die auf die Bedingungen der Massenproduktion Einfluss nehmen wollte. Dementsprechend begann die Ausbildung mit Form- und Materialstudien, gefolgt von der Arbeit in Werkstätten, zu Teilen in Kooperation mit lokalen Herstellungsbetrieben. Unter Gropius’ Nachfolger Hannes Meyer (1928–1930) setzte sich am Bauhaus eine stärker kollektive und egalitäre, aber auch polytechnischere Herangehensweise in der Lehre durch. Sie beinhaltete die Erforschung räumlicher, topografischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen des Bauens, in die internationale Ideen zum neuen Siedlungsbau und zur Stadtplanung einflossen. In der letzten Phase unter Mies van der Rohe als Direktor (1930–1933) wurde das Bauhaus vor allem zu einer Architekturschule. Bereits 1925 zog das Bauhaus aufgrund zunehmend rechtskonservativer Politik von Weimar nach Dessau, 1932 mit Erstarken der Nationalsozialisten in Deutschland weiter von Dessau nach Berlin. 1933 mit deren Machtergreifung wurde es aufgelöst. Einige Bauhäusler*innen konnten gerade noch rechtzeitig Nazi-Deutschland verlassen und trugen so dazu bei, dass sich Bauhaus- Konzepte zunehmend in anderen Ländern verbreiteten.

bauhaus imaginista widmet sich dem Transfer von Wissen durch die Migration von Studierenden und Lehren- den, aber auch der Interpretation, Aneignung und Imagination unterschiedlichster Bauhaus-Konzepte in China, Nordkorea, Indien, der Sowjetunion, Japan, Brasilien, Großbritannien, Nigeria, Marokko und den USA. Diese wurden übersetzt, umgeschrieben abgelehnt. Das Bauhaus brach 1919 aber auch radikal mit der klassisch-akademischen Kunstausbildung und der Trennung von bildender und angewandter Kunst. Dieses Anliegen wurde in anderen Teilen der Welt im Laufe des 20. Jahrhunderts ebenso dringlich, wo das Erbe des europäischen Kolonialismus Intellektuelle und Künstler*innen herausforderte, die Opposition von Kunst und Handwerk zu überwinden und die Kunstausbildung zu dekolonisieren.

Die mehrjährigen Recherchen, die bauhaus imaginista 2016 bis 2019 in Zusammenarbeit mit internationalen Forscher*innen und Kulturproduzent*innen aus Brasilien, China, Großbritannien, Indien, Japan, Marokko, Nigeria, Russland und den USA zusammentragen konnte, zeigen, in welchem Maß und unter welchen lokalen Bedingungen neue Gestaltungsideen und die Bauhaus­Pädagogik aufgegriffen und weiter- entwickelt wurden. Damit eröffnet das Projekt eine Perspektive auf eine transnationale Geschichte modernistischer Designpolitik, die geprägt ist von Kriegen und Diktaturen, bündnisfreier Weltpolitik und Kaltem Krieg, von Unabhängigkeitsbewegungen und uneingeschränkten Modernisierungsversprechen.

Als Kurator*innen des Projekts bauhaus imaginista verstehen wir die weltweite Zirkulation von Bauhaus-Konzepten nicht als eine Geschichte von Wirkung und Einfluss, sondern als Teil einer internationalen Verflechtung, die auch nach 1933 weiterwirkte. bauhaus imaginista verfolgt die Geschichte eines transkulturellen Austauschs im 20. Jahrhundert aus der Perspektive internationaler Korrespondenzen, Beziehungen, Begegnungen und Resonanzen. 2018 wurde dieser Ansatz konkret in die Praxis übersetzt. bauhaus imaginista realisierte ein Jahr lang mit internationalen Partnerinstitutionen, dem Le Cube – independent art room, Rabat, dem China Design Museum, Hangzhou, dem Goethe-Institut, New York, dem National Museum of Modern Art, Kyoto, dem Garage Museum of Contemporary Art, Moskau, dem SESC Pompéia, São Paulo, den Universitäten von Ile-Ife und Lagos und dem Kiran Nadar Museum, Neu-Delhi sowie dem Goethe-Institut an den verschiedenen Orten eine Serie von transnationalen Ausstellungen und Veranstaltungen, deren Ergebnisse in Berlin und Bern 2019 zu sehen sein werden.

Die Jubiläumsausstellung im Haus der Kulturen der Welt besteht aus vier Kapiteln. Jedes einzelne geht von einem zentralen Bauhaus-Gegenstand, einer Arbeit eines am Bauhaus Lehrenden oder Studierenden aus. Die vier ausgewählten, eher ephemeren Gegenstände eint ihre Thesenhaftigkeit: Es sind das Bauhaus-Manifest und das erste Curriculum aus dem Jahr 1919 von Walter Gropius, die Zeichnung Teppich (1927) von Paul Klee, Marcel Breuers Collage ein bauhaus-film. fünf jahre lang von 1926 und die Reflektorischen Farblichtspiele von Kurt Schwerdtfeger (1922). Diese vier Gegenstände stellen bis heute Fragen hinsichtlich ihrer historischen Besonderheit, können aber auch als zukunftsweisend gelesen werden. Mit dieser kuratorischen Setzung war es uns möglich, die internationale Rezeption des Bauhauses im 20. Jahrhundert zu untersuchen, aber auch ortsspezifische Fragen zu verfolgen. Gleichzeitig konnten wir transhistorische Themen und Inhalte aus einer aktuellen politischen und kulturellen Perspektive verhandeln.

Das erste Kapitel, Corresponding With, setzt ausgehend von Gropius’ Bauhaus-Manifest die Kunst- und Gestaltungslehre des Bauhauses in Beziehung zu zwei weiteren Gestaltungsschulen, die ebenfalls in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegründet wurden: die indische Kunstschule Kala Bhavan von Rabindranath Tagore, ebenfalls 1919 gegründet, und das 1931 in Japan von Renshichirō Kawakita gegründete Seikatsu Kōsei Kenkyūsho (Institut für Lebensgestaltung), aus dem die Shin Kenchiku Kōgei Gakuin (Schule für neue Architektur und Gestaltung) hervorging. Die drei Avantgarde-Schulen waren Teil eines kosmopolitischen Netzwerks; Spannungen zwischen Internationalismus, Nationalismus, Kolonialherrschaft oder aufkommendem Faschismus versuchten sie auf ihre je eigene Weise zu bewältigen.

Corresponding With befasst sich mit dem Potenzial der Radikalisierung von Kunst, Gestaltung und Lehre für eine neue Wissensproduktion, die in der materiellen Kultur eingeschrieben ist. Das Kapitel fragt nach den Optionen von Kunst- oder Gestaltungsschulen, alternative, kosmopolitische und egalitäre Lebensentwürfe hervorzubringen, aber auch nach der Möglichkeit, dem Druck patriarchaler, fremdenfeindlicher und nationalistischer Gewalt zu widersprechen.

Das zweite Kapitel, Learning From, stellt ausgehend von Paul Klees Zeichnung Teppich das Studium vormoderner Artefakte nicht-europäischer Herkunft durch moderne Künstler*innen und Architekt*innen in den Vordergrund. Hierzu gehören die Wiederbelebung lokalen Handwerkswissens an der École des Beaux-Arts in Casablanca, Marokko, nachdem das Land seine Unabhängigkeit erlangt hatte, aber auch der Einfluss, den mesoamerikanische Textilien auf Bauhaus-Emigranten in den Vereinigten Staaten sowie Persönlichkeiten wie die Architektin Lina Bo Bardi hatten, die sowohl das Bauhaus als auch die populären Künste untersuchte, um die brasilianische Moderne neu zu definieren. Learning From thematisiert damit auch das Machtungleichgewicht kultureller Aneignung und die blinden Flecken einer Geschichte des Sammelns und Erforschens nicht-europäischer Kunst. Für und Wider von Wiedergutmachungen und Rückgabe von Sammlungsobjekten stehen hier zur Debatte wie auch die Erschütterung aller Bedeutungen, wenn Gegenstände ihrem sozialen und kulturellen Kontext entrissen werden, während zugleich die Zerstörung von Kultur und Umwelt der lokalen Bevölkerung bis heute anhält.

Das dritte Kapitel, Moving Away, beschreibt ausgehend von Marcel Breuers Collage ein bauhaus-film die Veränderung von Gestaltungsideen infolge gesellschaftlicher und geopolitischer Veränderungen. Walter Gropius und Hannes Meyer waren als Bauhaus-Direktoren gezwungen, die eigenen Konzepte laufend zu aktualisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt dies auch an der Hochschule für Gestaltung, Ulm und am National Institute of Design im indischen Ahmedabad, die Bauhaus-Ansätze in verwandelter Form weiterführten.

Moving Away stellt die Arbeit von Bauhaus-Migrant*innen an unterschiedlichen Orten vor und beschreibt die geopolitischen Verhältnisse, in die Gestaltung, Kunst und Architektur dieser Zeit verstrickt waren. Von der Modernisierung der UdSSR bis zum Indien nach der Unabhängigkeit unterlagen Designideen einem ständigen Anpassungsdruck. Die Ausstellung zeigt, dass moderne Generalplanungen, zwischen Architekt*innen und staatlichen Behörden erarbeitet, gleichzeitig fortschrittliche und repressive Aspekte aufwiesen. In Reaktion darauf verbreitete sich bis heute eine Skepsis gegenüber staatlichen Planungen, die – verbunden mit der Privatisierung und Deregulierung von öffentlichen Gütern – unsere politischen Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit sozialer und ökonomischer Ungleichheit und den Auswirkungen des Anthropozäns erheblich einschränkt. Heute gilt es, wieder größere Spielräume für kollektives Gestalten im Interesse des Gemeinwohls zu gewinnen. Ein Beispiel für eine positive staatliche Einflussnahme war im Moment der Unabhängigkeitsbestrebungen die Planung einer postkolonialen, demokratischen Universität durch die westnigerianische Regierung, die vom Bauhaus-Architekten Arieh Sharon umgesetzt wurde.

Das vierte Ausstellungskapitel, Still Undead, wurde gemeinsam mit dem Haus der Kulturen der Welt realisiert. Still Undead erzählt die Geschichte von Licht- und Klangexperimenten, die mit Kurt Schwerdtfegers Reflektorischen Farblichtspielen auf einem Bauhaus-Fest 1922 ihren Anfang nahm. In den 1940er Jahren entwickelten László Moholy­Nagy am New Bauhaus (später Institute of Design am Illinois Institute of Technology, IIT) in Chicago und György Kepes am Massachusetts Institute of Technology (MIT) diese Experimente weiter, bis sie die Grenzen der Wissenschaft überschritten und nicht nur am Leeds College of Art in Großbritannien mit elektronischer Musik in die Welt der Populärkultur ein- gingen. Still Undead zeigt mit Arbeiten aus den USA, Großbritannien und dem Westdeutschland der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart, wie eine gegenkulturelle Produktion institutionelle Strukturen einerseits überschreiten konnte, um andererseits in sie integriert zu werden. Die Ausstellung diskutiert damit auch die Verschränkung von künstlerischem Überschuss, Hedonismus, Mikropolitik, Selbstinszenierung und Vermarktung und stellt die Frage, wie sich unter den Bedingungen einer neoliberalen Wirtschaftsordnung eine Re-Politisierung von Kunst, Technik und Populärkultur denken lässt. Ließe sich der für Kunstschulen charakteristische Mehrwert jenseits des Lehrbetriebs auch für politische Ziele wie Antifaschismus, Antirassismus und Queer Politics nutzen, statt von Konsumkultur und Unterhaltungsindustrie vereinnahmt zu werden?

Das internationale Forschungs- und Ausstellungsprojekt ist ein Ergebnis der mehrjährigen intensiven Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden aus Brasilien, Chile, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Israel, Japan, Marokko, den Niederlanden, Nigeria, Russland, Schweden und den USA. Wir sind diesen Forscher*innen, Gestalter*innen und Künstler*innen dankbar für die Großzügigkeit, mit der sie ihre Arbeit und ihr Wissen in unser Projekt eingebracht haben. Danken wollen wir auch den engagierten Projektteams in Berlin und den internationalen Partnerinstitutionen für ihre großzügige Unterstützung sowie den Projektinitiatoren: der Bauhaus­Kooperation Berlin Dessau Weimar, dem Goethe-Institut und dem Haus der Kulturen der Welt. Als erstes groß angelegtes Projekt dieser Art – das eine nationale, westliche Geschichtsschreibung des Bauhauses verlässt – verstehen wir diese Ausstellung im Sinne eines Neuanfangs: als Versuch einer dialogischen, transdisziplinären und transhistorischen Erzählung, die auch ein Potenzial für zukünftige Forschungen, neue Theorien und Imaginationen beinhaltet.

Marion von Osten & Grant Watson