Sechzehn Fahnen mit den bisher bekannten Namen der Menschen, die durch rechte Gewalt ihr Leben verloren haben. Unter ihnen auch jene, die von staatlicher Seite nicht als Opfer einer rechten Straftat anerkannt wurden, obwohl die Fakten eine klare Sprache sprechen. Es sind zum Zeitpunkt der Installation 264 Benennungen. Außerdem viele Leerstellen. Leerstellen für jene, deren Namen wir nicht kennen und jene, deren Tode wir noch befürchten müssen. Die Fahnen stehen im weiten Halbkreis. Der Wind weht hindurch, hält sie in Bewegung. Das Licht macht sie sichtbar. 264 Namen.

Während des Schreibens dieser Zeilen kommen vier weitere Namen von Opfern einer mutmaßlich rechten Gewalttat hinzu: Kancho und Katya Zhilova und ihre Töchter Galia und Emily, die am 25. März in Solingen bei einem Brandanschlag ums Leben kamen.

Angenommen, die Fahnen würden einen Raum behaupten, ein Parlament bilden, in dem die Beraubten mitreden, mitsprechen könnten. Angenommen, sie würden einen Raum der Klage, der Anerkennung und des Einforderns für sich behaupten. Das Parlament wäre ein Versuch, ein Auftakt zu einem Erinnerungsraum, der sich erst konstituieren müsste, der aber parteiisch wäre mit jenen, die bisher als Opfer ungenannt blieben; der sich dadurch immer weiter schreibt, der nie feststeht, und dessen Grenzen offen bleiben.

Um einen solchen Prozess zu denken, muss festgehalten werden, wo wir derzeit stehen:

Seit 1990 sind in Deutschland mindestens 264 und, aller Wahrscheinlichkeit nach, vier weitere Menschen durch rechte Gewalt ums Leben gekommen. Gehen wir noch weiter zurück, bis zur Niederlage des deutschen NS-Regimes, sind es noch mehr: weit über dreihundert ermordete Menschen.

Eine Ausarbeitung der Chronik neonazistischer Gewalt und der Zusammenstellung der Namen aller Ermordeten wirft eine Menge Fragen auf, denn welche Instanzen bewerten nach welchen Kriterien, wer als Opfer einer rechten Straftat anerkannt wird? Erst seit 2001 gibt es überhaupt eine offizielle Statistik für politisch motivierte Gewalt. Zudem ist die Einordnung einer Tat von den ermittelnden Beamt*innen abhängig. Werten diese eine Tat als nicht politisch motiviert, wird es später schwer, einem Mord eine rechte Ideologie nachzuweisen. Die Statistiken der Polizei führen Taten nur als aufgeklärt oder eben nicht, und sie lassen sich im Nachhinein nur schwer ergänzen oder verändern.

Betroffene von rechter Gewalt werden häufig nicht gehört und immer wieder vorverurteilt. Nach dem rassistischen Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel organisierten die Angehörigen mit Freund*innen und den Angehörigen von Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık, zwei weiteren Mordopfern, die durch dasselbe rechte Netzwerk getötet wurden, eine Demonstration. Auf ihren Transparenten forderten sie: „Kein 10. Opfer“, da sie, lange bevor es die Behörden tun konnten oder wollten, einen deutlichen Zusammenhang zwischen den neun Morden des NSU erkannten. 4000 Menschen, hauptsächlich Personen mit Rassismuserfahrung, beteiligten sich an der Demonstration, die ein Zeugnis davon war, wie wenig von der Mehrheitsgesellschaft oder wie sehr sogar aktiv weggehört wurde.[1]

Hinzu kommt: Antifaschistische Recherchegruppen wissen oft mehr als Sicherheitsbeamte oder die Justiz. Im Fall des rechten Mordes an dem CDU-Politiker Walter Lübcke kam nach der Tat ans Licht, dass die beiden Täter bereits im Zusammenhang mit rechten Demonstrationen und Netzwerken aufgefallen waren. Dieses Wissen kam aus zivilgesellschaftlicher Recherche und nicht von den Behörden.

Eine Aufzählung, eine Chronik, eine Liste ist eine Technik, die in Deutschland eine spezielle Geschichte hat. In jedem Fall ist es aber eine Form der Produktion von Ein- und Ausschlüssen entlang von Kategorien. Es ist also naheliegend, weiterzugehen und weiter zu fragen.

2024 sind zweiundzwanzig Menschen durch Polizeigewalt getötet worden, einige von ihnen waren psychisch erkrankt, von Rassismus, Armut oder Wohnungslosigkeit betroffen. Nach welchen Kriterien werden diese Toten verhandelt? Wie lässt sich Polizeigewalt an Menschen diskriminierungskritisch beschreiben? Kann eine einzelne Tat von Person in Uniform losgelöst von ihren politischen Einstellungen und ihren Vorurteilen betrachtet werden?

2023 gab es in Deutschland beinahe täglich einen Mord an einer Frau. Nach welchen Ein- oder Ausschlusskriterien könnten deren Namen in eine Chronik der Opfer von rechter Gewalt mit aufgenommen werden; Namen von Opfern, bei denen die Täter (nicht gegendert) häufig ein misogynes bis gefestigt rechtes Weltbild mitbringen?

Bis zum März 2025 sind dieses Jahr bereits 386 Menschen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer gestorben. Gehen die politischen Vorstellungen einer „Festung Europas“ so weit, dass die Namen dieser Menschen als Opfer einer strukturellen oder sogar konkret ausgeübten, rechten Gewalt zu beschreiben wären? Ab wann gilt autoritäre Politik als rechte Gewalt? Welche Vorstellungen und welches selbstkritische Wissen hat eine Gesellschaft davon? Braucht es zur Einordnung eines Mordes einen Verweis auf die Ideologien des Nationalsozialismus oder reichen Bekenntnisse zu autoritären Regimen und Politiken? Sind rechte Chatgruppen und Suchverläufe, Hasslieder und Memes geeignet, um zu beschreiben, warum Menschen sterben müssen?

Kancho und Katya Zhilova und ihre Töchter Galia und Emily wurden am 25. März 2024 in Solingen durch einen Brandanschlag getötet. Einundzwanzig Menschen wurden dabei zum Teil schwer verletzt. Der Täter wurde gefasst und muss sich derzeit vor Gericht verantworten. Zivilgesellschaftliche Initiativen forderten direkt nach dem Anschlag, Rassismus als mögliches Tatmotiv zu untersuchen. Die Ermittler schlossen es jedoch aus, bis die Nebenklägerin Seda Başay-Yıldız vor Gericht eine Neubewertung der Beweisgegenstände, wie der Fotos aus dem Umfeld des Täters mit rechtsideologischen Hinweisen, und der ähnlich aussagekräftigen Google Sucheinträge forderte, und eine Sichtung der Festplatten des Täters erzwang. Auf den Datenträgern wurde eindeutig neonazistische Propaganda gefunden. Wenn also (trotz gegenteiliger Hinweise) in den Ermittlungen zu den Mordtaten, rechte Ideologie als Motiv gar nicht mitgedacht wird, werden diese Morde nicht als rechtsmotiviert vor Gericht verhandelt und auch nicht als das gezählt. Das Problem ist also, dass das (Vor-)Wissen von Polizei, Behörden und Gerichten zu Rassismus, Antisemitismus und rechter Gewalt nicht das gleiche ist, wie das auf Erfahrung basierende Wissen der Betroffenen, der Überlebenden und der solidarischen Initiativen und Aktivist*innen. Aus diesem Grund stellen diese ihre Chronik einer „offiziellen“ und staatlich anerkannten entgegen. In ihren Recherchen tauchen also auch die Fälle auf, bei denen ein rechtes Tatmotiv trotz fehlender Anerkennung als gesichert gilt. Sie berücksichtigen zudem die Verdachtsfälle, bei denen ein rechtes Tatmotiv wahrscheinlich oder naheliegend ist. Hinzu kommen die unbekannten Betroffenen rechter Gewalt sowie die Taten, von denen wir bisher nichts wissen.

 

Erinnern heißt anerkennen

Wie können die Kontinuitäten rechter Gewalt im postnazistischen Deutschland dargestellt werden, wenn die Todesopfer bis 1990 als solche staatlich gar nicht anerkannt wurden? Wie können die Lücken und Leerstellen verhandelt und sichtbar gemacht werden? Wer gehört dazu? Wen haben wir vergessen?

Solidarisches Gedenken und Erinnern steht oftmals außerhalb institutioneller oder staatlicher Legitimation und verhandelt dabei stets auch die eigenen Kriterien der Sichtbarmachung.

Die Installation der Fahnen möchte einen Prozess in Gang setzen, der keinen fertigen Gedenkort präsentiert, sondern öffentlich fragt, wie dieser überhaupt konstituiert sein sollte.

Eine Chronik von rechtsterroristischer Gewalt mit Todesfolge und die Zusammenstellungen der Namen, beruhen auf der mühevollen Arbeit[2] von Expert*innen, Journalist*innen, Aktivist*innen und solidarischen Initiativen. Es gibt dazu Bücher, Social Media-Plattformen, Webseiten, Archive und künstlerische Arbeiten. Sie alle setzen den offiziellen, aber lückenhaften Listen der staatlich anerkannten Todesopfer ihre eigenen Recherchen und die Forderungen der Hinterbliebenen und Betroffenen nach Anerkennung entgegen, um keine Namen in Vergessenheit geraten zu lassen. Die Arbeit an einer Chronik zu rechter Gewalt fragt, parteiisch mit den Opfern, nach den Kriterien staatlicher Anerkennung und setzt ihnen das Erfahrungswissen der Betroffenen entgegen.

Um diese komplexe Arbeit sichtbar und transparent zu machen, sollen in späteren Stationen des Erinnerungsraumes die Kämpfe, Forderungen und die aktivistische Forschungsarbeit mitverhandelt werden können. Damit einhergehen soll vor allem auch die Anerkennung der Arbeit der Betroffenen und der solidarischen Initiativen.

 

Erinnern heißt sprechen

Manchen scheint es, als wäre zu diesem Gesamtkomplex bereits alles gesagt worden. Und in der Tat, es wurde sehr viel vorgebracht. Aber wurde es auch gehört?

Falls nicht, was sollte den Reden, Beiträgen und Analysen[3] noch hinzugefügt werden?

Die Problematik wurde auf verschiedensten Wegen verdeutlicht: Die Betroffenen lieferten zahlreiche klare und faktenbasierte Analysen der Abläufe von Morden und Terroranschlägen sowie von strukturellem Versagen von Polizei, Behörden und Politik. Sie stellten Forderungen nach lückenloser Aufklärung und Gerechtigkeit, nach Opferentschädigungen, nach Veröffentlichung der Akten. Ihre Erfahrungen als Opfer und Betroffene von rechter Gewalt führten zudem bei nicht wenigen zu deutlichen Positionierungen: Sie erhoben Anspruch auf grundlegende Veränderungen in der Polizeiarbeit und verlangten, Nazi-Netzwerke zu enttarnen, zu entwaffnen, zu verbieten und zu beenden. In dreizehn parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auf Länder- und Bundesebene schilderten sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen und boten ihre Hilfestellung bei der Aufarbeitung des gesellschaftlichen und behördlichen Versagens an. Denn sie formulierten auch  für die Gesellschaft, wo sie dringenden Bedarf für Verbesserungen im Sinne einer Gerechtigkeit sehen: etwa Gesetzesänderungen in Bezug auf die Strafverfolgung von Gewalttaten gegen Migrant*innen; nachhaltige Investitionen in progressive und vielfältige rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit statt Aufstockung von Polizeietats; Schulungen der Polizei, um diskriminierenden und rassistischen Tendenzen vorzubeugen; nachhaltige psychologische Betreuung von Opfern, Überlebenden, Familienangehörigen, aber auch Ersthelfer*innen; finanzielle Entschädigungen, sozialdienstliche, arbeitsrechtliche Unterstützungen und Betreuung.[4]

Aber wurden sie gehört?

Auf den bedauerlicherweise zahlreichen Jahrestagen für Opfer rechter Gewalt sprechen sie als Expert*innen, machen sich die emotionale Arbeit und Mühe, nehmen sich die Zeit, sich den schrecklichen Geschehnissen, noch dazu vor Publikum, wieder und wieder zu stellen, und mit den Anwesenden die aus ihren Erfahrungen gewonnenen Erkenntnisse und Perspektiven zu teilen.

Haben sie die entscheidenden Instanzen erreicht?

Erfahrungswissen ist von hohem Wert bei der Aufarbeitung solcher Gewalt. Was muss geschehen, um dieses Wissen auf struktureller und politischer Ebene auch wirklich anzuerkennen? Können wir den Unterschied zwischen symbolischer und genuiner, aber auch materieller Anerkennung hören? Was ist der Unterschied zwischen einem betretenen Händeschütteln und strukturellen Veränderungen in Polizei, Justiz, Behörden, Ämtern, Medien und Politik?

Wie ist das offizielle Gedenken einer Stadt zu bewerten, wenn beispielsweise Politiker*innen in Hanau Emiş Gürbüz, die ihren Sohn Sedat Gürbüz durch den rechten Terroranschlag verloren hat, an ihren Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft erinnern, weil sie es wagt, bei der offiziellen Gedenkveranstaltung auf die Mitverantwortung der Polizei und der Stadt für den Tod ihres Kindes hinzuweisen?

Es gab zahllose Pressekonferenzen, Filme und Theaterstücke. Betroffene haben Bücher geschrieben, Bildungsinitiativen und Räume für Alle gegründet, sie waren auf Podiumsveranstaltungen, im Fernsehen, haben Denkmäler erkämpft, sie werden in Songs genannt, es gibt Gedenkveranstaltungen, sogar ein NSU-Dokumentationszentrum ist in Planung – überall gibt es Möglichkeiten von den Überlebenden, von den Angehörigen, von den Betroffenen zu lernen. Sie sprechen unentwegt.

Wurden sie gehört in einer Gesellschaft, in der rechter Terror und Gewalt noch nicht verschwunden sind, dafür aber tonnenweise Munition aus den Beständen von Polizei und Bundeswehr? Wurden sie gehört in einem Land, in dem bekennende Neonazis Waffenscheine haben oder selbst als Mitarbeiter*innen und „freundliche Gesichter des NS“ im Bundestag arbeiten; in dem Hunderte rechtsextreme Täter sich trotz Haftbefehlen frei bewegen können – wurden hier die Forderungen gehört?:

Lückenlose Aufklärung und Gerechtigkeit, verbunden mit einem klaren Schuldbekenntnis in Bezug auf das Versagen von Polizei, Behörden, Politik und Gesellschaft, daran anknüpfend nicht nur symbolische, sondern konkrete, strukturelle und gesamtgesellschaftliche Veränderungen und entsprechende Entschädigungen und Gesetzesänderungen.

Solange sich das nicht ändert, ändert die Gesellschaft nichts an den Verhältnissen, in denen rechter Terror sich zu Hause fühlt. 

 

Erinnern heißt zuhören

Wie drastisch würden sich die Ermittlungen gegen Täter*innen von rechter Gewalt ändern, wenn die Behörden und Verwaltungen beispielsweise die Worte von Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags in Mölln, ernst nähmen?

Arslan fordert seit langem, dass die Betroffenen von rechter Gewalt keine Statisten, sondern die Hauptzeug*innen und Expert*innen des Geschehens sein sollten.[5] Dies meint nicht nur die damit verbundenen Erinnerungspraktiken, die von den Betroffenen gestaltet oder unter direktem Einbezug von ihnen realisiert werden sollen. Er meint damit gerade auch die Ermittlungen gegen die Täter*innen und fordert, dass bei Straftaten gegen Migrant*innen immer auch nach rassistischen Motiven ermittelt werden müsse.

Wie oft wurden die Überlebenden und die Opfer selbst von den Behörden und Ermittlungen zu Täter*innen gemacht?

Die rassistischen Zuschreibungen in Bezug auf ein ganzes Viertel,[6] welche „Clankriminalität, Drogengeschäfte und Türstehermilieu“ unterstellten, sowie ein medial aufgeheizter Diskurs um die migrantisch geprägte Keupstraße in Köln führten dazu, dass die Opfer des Nagelbombenanschlages 2004 über sieben (!) Jahre verdächtigt wurden, selbst hinter dem Anschlag zu stehen. Unschuldige Betroffene wurden verhört, verdächtigt und durch die Behörden erniedrigt, bis 2011 ans Licht kam, was die Betroffenen bereits direkt nach dem Anschlag offen vermuteten: rechte Täter*innen. Sie wurden sogar von einem Anschlagsopfer am Tatort erkannt. Nur zugehört hatte man nicht.

Der gesamte NSU-Komplex in Deutschland hat viele Erkenntnisse zu Tage gefördert. Er zeigt in Bezug auf das aktive Silencing der Betroffenen, wie sehr eine antisemitisch und rassistisch motivierte und ideologisierte Täter*innengruppe sich unentdeckt von Ermittlungen ihre Opfer suchte, um damit eine ganze Gesellschaft der Migration zu verunsichern und die Botschaft zu senden: Ihr seid hier nicht sicher. Das Silencing durch die Behörden, die Medien, der Öffentlichkeit, mit der antisemitisch und rassistischen Ideologie der Mörder*innen zusammenzudenken, bedeutet zu verstehen, wie die ermittelnden Behörden – insbesondere auch der Verfassungsschutz – zum verlängerten Arm der Täter*innen wurden.

Diese Erkenntnis hat zu einem unwiderruflichen Misstrauen gegenüber den Staatsorganen geführt, denn die Betroffenen und all diejenigen, die wissen, dass sie mit gemeint sind, haben in doppelter Weise erfahren müssen, wie vehement ihre Teilhabe an dieser Gesellschaft angegriffen und bekämpft wird.

 

Erinnern heißt verändern

Und dennoch haben die Kämpfe der Betroffenen, der Überlebenden, der Familienangehörigen, der solidarischen Initiativen etwas Entscheidendes bewirkt: Sie haben denen, die aufgrund ihres gewaltsamen Todes nicht mehr mitwirken konnten, trotz allem über Jahrzehnte zu Wirkung verholfen. Die Betroffenen haben sich zusammengetan, sie ermutigen sich gegenseitig, sie hören sich zu, sie erkennen sich in ihrem Verlustschmerz, aber auch in ihrem Bekenntnis zu den Forderungen nach Aufklärung und Gerechtigkeit, nach gesellschaftlicher Veränderung an. Sie positionieren sich entschieden dagegen, die Kämpfe gegen Antisemitimus und Rassismus gegeneinander auszuspielen. Sie haben damit verhindert, was rechte Gewalttäter*innen erreichen wollten, nämlich dass Menschen ganz verschwinden. Sie nennen ihre Namen und erzählen ihre Geschichten. Sie haben dadurch, wenigstens in Teilen, diesen Hass vereitelt. Sie haben den Toten Lebenszeit und Stimme geliehen. Das ist eine Realität.

Diese Realität wurde zum Auslöser einer wichtigen sozialen Bewegung in Deutschland.

Der Ruf nach Veränderungen, das gemeinsame Trauern, das Schaffen von Räumen, in denen die Perspektiven und Stimmen der Angehörigen, der Überlebenden, zentriert werden, haben in den letzten Jahren viele weitere Menschen erreicht. Es gab große und kleine Demonstrationen und von breiten Teilen der Gesellschaft getragene Veranstaltungen. Viele politische Gruppen integrierten den Fokus auf die Perspektiven von Betroffenen in ihre Arbeit. So entstand ein hörbares Echo und es gab Momente, die aussahen wie gesellschaftlicher Wandel und manchmal sogar Transformation. Eine Gesellschaft der Vielen und der wenigen, die sich vehement und entschieden gegen eine Illegalisierung von Menschen, gegen die Politik der Abschottung, gegen die Abwertung und Klassifizierung durch Politik, Polizei, Behörden, Grenzen und Gesetze wandte. Manchmal schien es, als würden die Forderungen sogar gehört werden. Die Realität sieht leider anders aus. Vor allem für die Deklassierten.

Der Erinnerungsort der Fahnen will, entlang dieser Bewegung, zuhören und verstehen.

Wie ist zu retten, was schon erarbeitet wurde, wie das sichern, was für kommende Zeiten wichtig sein wird? Es gibt einiges zu verteidigen.

Die Toten können sich nicht mehr äußern, ihnen wurde das Recht auf Autonomie und freie Rede entrissen. Sie wurden der Möglichkeit beraubt, im Leben das zu tun, was sie sich vielleicht gewünscht hatten. Ihnen wurde genommen, was jedem Menschen zusteht: nach den eigenen Vorstellungen wirksam zu sein, sich zu äußern, zu begegnen.

Was wäre, wenn sie trotzdem zusammenkämen? Wenn sie fortwährend zur Versammlung aufriefen?

Was wäre, wenn sie weitersprächen? Was würden sie über eine Gesellschaft erzählen, die sie nicht geschützt hat?

Wer sie hören will, wer verstehen will, muss den Überlebenden, den Hinterbliebenen zuhören. Was sie sagen, was sie fordern, wie sie streiten, wie sie sich umeinander kümmern. Was sie brauchen.

 

[1] Ayşe Güleç und Johanna Schaffer, Empathie, Ignoranz und migrantisch situiertes Wissen: Gemeinsam an der Auflösung des NSU-Komplexes arbeiten. in: Den NSU-Komplex analysieren: Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft, hg. von Juliane Karakayali, Çagri Kahveci, Doris Liebscher und Carl Melchers, Bielefeld: transcript Verlag, 2017, S. 57-80. https://doi.org/10.14361/9783839437094

[2] Siehe hierzu, Ali Şirin (Hg.), Erinnern heißt Kämpfen: Kein Schlussstrich unter unsere Stimmen, Münster: Unrast Verlag, 2024; Paula Blickle, Frank Jansen, Heike Kleffner, Johannes Radke, Julian Stahnke, Toralf Staud und Sascha Venohr, „Todesopfer rechter Gewalt: 187 Schicksale“, Zeit Online, (30. September 2020), https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/todesopfer-rechte-gewalt-karte-portraet; Amadeu Antonio Stiftung, Todesopfer rechter Gewalt, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/; Thomas Billstein, Kein Vergessen: Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland nach 1945, Unrast Verlag, 2020; Harry Waibel, Rechte Kontinuitäten: Rassismus und Neonazismus in Deutschland seit 1945. Eine Dokumentation, Marta Press, 2022

[3] Initiative 19. Februar Hanau „RASSISTISCHER ANSCHLAG IN HANAU – VERSCHLOSSENER NOTAUSGANG OHNE KONSEQUENZEN?!“, (25. Januar 2023), https://19feb-hanau.org/2023/01/25/rassistischer-anschlag-in-hanau-verschlossener-notausgang-ohne-konsequenzen/

[4] Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V.,  „Hanau – 5 Jahre danach: Opferberatungsstellen ziehen nach dem rassistischen Anschlag von Hanau eine bittere Bilanz und fordern eine langfristige Beratungsstruktur für Anschlagsbetroffene“, (18. Februar 2025), https://verband-brg.de/hanau-5-jahre-danach/

[5] NSU Watch, Ibrahim Arslan, „Opfer und Überlebende sind die Hauptzeugen des Geschehenen, wir sind keine Statisten“, (19. November 2016), https://www.nsu-watch.info/2016/11/opfer-und-ueberlebende-sind-die-hauptzeugen-des-geschehenen-wir-sind-keine-statisten/

[6] Dostluk Sineması (Hg.), Vanessa Höse, Stewo Szczepaniak, Ayla Güler Saied, Mitat Özdemir, Massimo Perinelli, Daniel Poštrak und Kutlu Yurtseven, Von Mauerfall bis Nagelbombe: Der NSU-Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre, Berlin: Amadeu Antonio Stiftung, 2014.