Die Kettfäden werden mithilfe einer Litze angehoben, Isla del Sol, La Paz, Bolivien, 2008. Foto: Elvira Espejo Ayca

Die Kettfäden werden mithilfe einer Litze angehoben, Isla del Sol, La Paz, Bolivien, 2008. Foto: Elvira Espejo Ayca

Pallaña und pallay sind Aymara- und Quechua-Begriffe, die den mathematischen Musterverlauf von Kettfäden beschreiben. Sie sind essenzielle Elemente bei der Komposition von Texturen und Ikonografien, auch Figuren genannt. Der Prozess selbst basiert auf der präzisen Zählung der Kettfäden, die spezifischen rhythmischen Mustern folgen: 11111111, 1212121, 2222222, 3333333 oder 4444444. Aus diesen mathematischen Sequenzen entstehen die Figuren und Texturen im Gewebe. Diese Technik findet sich in allen andinen Textiltraditionen – im Norden Argentiniens und Chiles, in den Andengebieten von Bolivien, Peru und Ecuador sowie auf den Hochebenen Kolumbiens. Bisher wurde die pallaña wenig untersucht. Dieser Text erkundet die Webarbeiten und lenkt den Blick auf die mathematischen Formen, die in ihren jeweils lokalen Ausprägungen Grenzen überschreiten.

Die Kettfäden werden mit einer wich'uña (Webwerkzeug aus Lamaknochen) verdichtet, Qaqachaka, Oruro, Bolivia, 2007. Foto: Elvira Espejo Ayca

Palla und die Komposition von Stoffen

Die erwähnten mathematischen Strukturen generieren die Ikonografien und typischen Muster im Stoff. Der Aymara-Begriff quchuña bezeichnet die mathematische Komposition der Kettfäden, die einer ikonografischen Figur zugrunde liegen. Die Kenntnis mathematischer Konzepte – Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division – ist unerlässlich, damit aus den Kettfäden Ikonografien und Figuren entstehen können.

Es bedarf eines grundlegenden Verständnisses der Komposition der Kettfäden nach der gewählten Technik. Auf Aymara beschreiben spezifische Begriffe die für den gewünschten Rhythmus im Gewebe angewandte mathematische Operation. So bezeichnet wakthapiña das Addieren der Kettfäden, jiwantayaña steht für Subtrahieren. mirattayaña bedeutet, die Kettfäden werden multipliziert, und t’aqantaña verweist auf das Dividieren. Die Rechenarten folgen immer einem vordefinierten mathematischen Muster, das die spezifischen Stoffmuster und Figuren erzeugt.

Die palla, das auf numerischen Grundsätzen basierende mathematische Muster, entsteht in diversen Variationen: Dabei liefert die 1,1,1,1,1-Sequenz der maya palla eine ideale Textur für die Komposition von Reliefs; aus der ungeraden 1,2,1,2,1,2-Sequenz der ch’ulla palla ergeben sich die charakteristischen Diagonalmuster der Anden; paris palla erlaubt mit der Zahlenfolge 2,2,2,2,2 das Weben von Punktmustern. Die mathematischen Strukturen bestimmen also nicht nur die Texturen der andinen Webstoffe, sondern sind unverzichtbare Grundlage für ihre Ikonografie. Sie sind essenzielle Faktoren in der komplexen Textiltradition der Region.

Mathematische Strukturen werden zu Figuren

Die Kenntnis der mathematischen Strukturen und der sie beschreibenden Begriffe vermittelt uns profunderes Wissen über das Design des jeweiligen Stoffes. Werfen wir daher einen genaueren Blick auf die palla, das auf Zahlen und Technik basierende mathematische Muster im Prozess des Webens. Die palla hängt grundsätzlich von der Methode der Zählung der Kettfäden ab, ob stückweise, gerade oder ungerade. Die jeweilige numerische Sequenz erzeugt spezifische, für die entsprechende Technik typische Muster, aus denen sich Ikonografien ergeben. Die Auswahl der Farbe und Form der Kettfäden bestimmt das Design der Stoffe. Die Kenntnis ihrer Wirkung in der Komposition – gereiht als 1,1,1,1,1 oder 2,2,2,2,2 oder 1,2,1,2,1,2 – ist für das Weben der Stoffe unerlässlich, denn durch sie vermittelt sich die jeweils gewählte Ikonografie. Das Webverfahren selbst verbindet mathematische Operationen wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division.

Maya palla: Spezifisches mathematisches Muster der Kettfäden [1,1,1,1,1], 2024. Foto: Elvira Espejo Ayca

Ch’ulla palla: Spezifisches mathematisches Muster der Kettfäden [1,2,1,2,1,2], 2024. Foto: Elvira Espejo Ayca

Paris palla: Spezifisches mathematisches Muster der Kettfäden [2,2,2,2,2], 2024. Foto: Elvira Espejo Ayca

Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Webpraxis ist die Zahl der Kettfäden sowie ihr Grad an Komplexität. In diesem Zusammenhang spricht man fast nie von der Bedeutung der Ikonografie, stattdessen wird seine Zusammensetzung und mathematische Komplexität genauestens analysiert. Die palla ist ausschlaggebend, denn sie verbindet die mathematischen Muster, die die textile Komposition im Webstück bestimmen. Diese vertiefte Lektüre der mathematischen Strukturen der palla lässt sie als zentrales Element der Textilgestaltung ersichtlich werden. In ihr spiegelt sich das Wissen der Ahn*innen über die in den Stoffen angewandte Mathematik.

Ein weiteres Konzept, mayat mirayaña, besteht in der Fortführung der einzelnen Kettfäden, der schrittweisen Bewegung von Kettfaden zu Kettfaden. Payat mirayaña hingegen meint die paarweise Fortführung der Kettfäden, so dass diese sich vervielfältigen und damit die textilen Kompositionsmöglichkeiten erweitert.

Als Gegenstück dazu verdichtet mayat jiwathapiyaña die einzelnen Kettfäden und verringert so deren Anzahl im Webstück. Payat jiwathapiyaña schließlich fokussiert auf die paarweise Verdichtung der Kettfäden, wobei sich die Kettfäden im Stoffdesign verringern oder ganz verlieren. Diese beiden Verdichtungstechniken sind Grundlage für die Gestaltung von Figuren und Strukturen, die sich aus den mathematischen Kompositionen ergeben. 

Gemäß dieser Logik ist ch’ulla thakini das Muster der Wahl für die ungeraden Sequenzen wie 1,2,1,2,1,2,1, aus denen die thakhini (oder: Wege) genannten diagonalen Muster gewebt werden. Die durch die mathematische Struktur entstehenden Diagonalen lenken die Kettfäden, bestimmen also, ob diese nach links oder rechts gezogen werden. Als würden die Kettfäden durch die mathematische Formel die Richtung vorgeben, der zu folgen ist. Hier findet das Prinzip der ungeraden Sequenz Anwendung und gibt, ausgeglichen durch die Technik der ch’ulla thakini, den Rhythmus der ikonografischen Muster vor.

Auch thakhip arktaña gründet auf der Mathematik ungerader Zahlenfolgen. Das Muster orientiert sich an den Diagonalen wie ein mathematischer Leitfaden. Ohne eine solche Anleitung lassen sich keine Figuren weben. Die Aufmerksamkeit liegt immer auf dem Richtungsverlauf der Kettfäden. Ch’iqhar mirayaña verweist auf nach links, kupir sarayaña auf nach rechts laufende Kettfäden. Die Richtungen dienen nicht nur der Erweiterung oder Verdichtung der Kettfäden, sondern ermöglichen erst die Gestaltung der Figuren und Bilder. Sie schaffen ein Gleichgewicht in der Textur des Gewebes und sind damit relevant für die Entstehung der Ikonografie.

Das Ziel dieser Komposition ist die Schaffung von Ikonografien im gewünschten Format. Dabei ist wakhuña, das Zählen, ein bedeutender Faktor. Würden die Kettfäden nicht gezählt, ließen sich weder Ikonografien noch Muster generieren, die auf der Grundlage der Technik und der Bedeutung der Zahl der Kettfäden basieren.

Mayat wakuña oder ch’ulla wakhu bezeichnen das Zählen einzelner Kettfäden, wobei dieses in ungeraden Sequenzen als 1,1,1,1 oder 2,1,2,1 erfolgen kann. Das Zählen selbst ist fundamental wichtig, da sich erst mithilfe komplexer Mathematik mit der Komposition von Ikonografie und Bildern beginnen lässt.

Payat wakhuña oder uka ma chinu bezieht sich auf das Zählen von Paaren. Dabei steht jedes Kettfadenpaar für eine chinu, eine zweiköpfige Familie, beispielsweise Mann und Frau, die sich zusammentun, um all die Dynamiken von Expansion und Kompression zu erzeugen, wodurch erst ein Muster im Stoff entsteht.

Qhachit wakthapiña beschreibt das Zählen der Kettfäden nach Lagen. Gekreuzte Kettfäden werden paarweise gezählt und begleiten einander, um Textur und Ikonografie zu schaffen. Das Kreuz hängt zusammen mit der mathematischen Komposition, die über die Kettfäden eine numerische Verbindung generiert und ohne die keine Figur entstehen kann.  

Die Weber*innen nehmen eine differenzierte Perspektive ein, die sich nicht in der oberflächlichen Betrachtung des Schönen oder der ikonografischen Interpretation erschöpft, sondern die Mathematik – die Rhythmen von Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division – in ihrer fundamentalen Bedeutsamkeit für die Gestaltung der Ikonografien und Formen im Stoff begreift.

Wir, die Weber*innen, lesen die Textur der Kettfäden, die die jeweilige mathematische Operation als Technik integriert. Sodann arbeiten wir an der Komposition der Figur, sprich: wie die mathematische Struktur – Addition, Subtraktion. Multiplikation und Division – zur Gestaltung des Stoffes beiträgt. Keine Ikonografie existiert vorab, sie entsteht beim Weben. Wir arbeiten mit der Zahl der Kettfäden, ihrer Komposition und Komplexität und einer auf Zahlen und Mathematik gründenden Technik.

 

Aus dem Spanischen von Lilian Astrid Geese