Die Geschichte der DDR wird häufig aus der Perspektive derjenigen erzählt, die ihr Ende als die alles bestimmende Tatsache ihrer Geschichte betrachten. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Komplexität der unterschiedlichen Oppositionsbewegungen in der DDR unwichtig für das historische Verständnis eines Staates, der in dieser Logik immer schon zum Scheitern verurteilt war. Auch wenn es im Nachhinein schwerfallen mag, sich ein anderes Ergebnis als die sogenannte deutsche Einheit vorzustellen, so war es keinesfalls das einzige politische Ziel der oppositionellen DDR-Bürger*innen, das Regime zu stürzen. Einige setzten sich für Umweltschutz ein, andere für den Frieden, und ein großer Teil war an mehreren dieser sich überschneidenden politischen Ziele interessiert. Der Fokus auf die großen Bürgerrechtsbewegungen, die unmittelbar vor dem historischen Umbruch 1989/1990 am aktivsten waren, lässt andere Aspekte und Gruppierungen außer Acht. Eine erweiterte Betrachtung der Bewegungsgeschichte muss daher bewusst zwischen studentischem Widerstand, Engagement in politischen Parteien, Dissident*innen, Umweltschützer*innen, Friedensbewegung, Frauenbewegung und Oppositionellen in der SED-Führung sowie der Kirche unterscheiden. Im Gespräch mit der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Peggy Piesche und der Tischlerin, Autorin und Diplomingenieurin Samirah Kenawi erörtert HKW-Redakteur Eric Otieno Sumba das Innenleben und die Berührungspunkte zwischen unterschiedlichen oppositionellen Bewegungen in der DDR anhand der persönlichen Erfahrung zweier Zeitzeuginnen. Piesche und Kenawi waren in den Friedens-, Frauen-, und Lesbenbewegungen aktiv und haben sich nach 1990 eingehend mit ihrer eigenen Bewegungsgeschichte im Kontext der DDR auseinandergesetzt. Im Gespräch wird deutlich, dass es stets Bewegung in den Bewegungen der DDR gegeben hat.

Eric Otieno Sumba: Welche biografischen Bezüge habt ihr zu den oppositionellen Bewegungen in der DDR? Und um welche Bewegungen handelte es sich?

Samirah Kenawi: Ich war in verschiedenen Gruppen der Frauen- und Lesbenbewegung aktiv und habe nach der Wende versucht, diese Bewegung sichtbar zu machen und zu bewahren. Das tat ich zum einen für die Akteurinnen selbst und zum anderen, um innerhalb der westdeutschen Frauenbewegung einen Diskurs darüber zu ermöglichen, also zu zeigen, was wir für andere Themen, Perspektiven und Handlungsspielräume hatten. Durch dieses nachträgliche Archivieren der Bewegung habe ich Einsichten bekommen, die ich als Akteurin in der DDR noch nicht hatte. Ich habe Zusammenhänge wahrgenommen, die erst im Rückblick verständlich wurden.

EOS: Peggy, wie war es bei dir?

Peggy Piesche: Ich komme aus der Provinz. Ich bin in Arnstadt, einer Kleinstadt in Thüringen, geboren. In meiner Kindheit und Jugend hatte ich leider sehr wenig Kontakt zu anderen Schwarzen Menschen. Als Jugendliche war ich aber in der Friedensbewegung aktiv. Das war zwar auch in den eher provinziellen Gegenden, dennoch konnte ich einige Einblicke in die Bewegungen in der DDR gewinnen – auch in ihre Beschränkungen und die Repressionen, die damit einhergingen.

EOS: Was war die Motivation für eure Aktivitäten in diesen Bewegungen? Gab es politisierende Erweckungsmomente oder historische Schlüsselereignisse für euch?

PP: Für mich waren es keine historischen Momente, weil die sich einfach nicht ergeben haben. Vielmehr waren es biografische Momente. Ich habe in der 10. Klasse die Polytechnische Oberschule abgeschlossen, und dann gab es schon erste politische Verwicklungen, beziehungsweise bin ich an die Grenzen oder an die Vorstufen der Grenzen dieses Staates gestoßen: Ich durfte nicht auf die Erweiterte Oberschule gehen, hätte also kein Abitur machen können. Nur durch die entschiedene Intervention meiner Mutter, die Arbeiterin war und zum Rat des Kreises gegangen ist und sehr deutlich gesagt hat, dass das rassistische Gründe hat, durfte ich eine Berufsausbildung mit Abitur machen. Das war ein erster Abnabelungsprozess. Das heißt, ich würde deine Frage biografisch beantworten. Ich bin in ein Internat in Gotha gekommen, habe dort in einer LPG gearbeitet und meine Berufsausbildung mit Abitur gemacht. Mir war es wichtig, einen Umgang mit der Erfahrung des ‚Ver-andert-Werdens‘ zu finden, also mit rassistischen Erfahrungen in der DDR, auch wenn ich diesen Begriff damals noch nicht hatte. Es war klar, dass ich Räume brauchte, in denen ich diese Erfahrung reflektieren konnte, denn ich wusste relativ schnell: Wenn ich das nicht mache, akzeptiere ich diese Fremdzuschreibungen. Ich hatte ein ganz klares Bedürfnis, einen ganz klaren Drang, das nicht zu tun. Ich hatte in der Provinz leider keine Kontakte zu anderen Schwarzen aktivistischen Gruppen oder überhaupt Bewegungsgruppen, das kam bei mir auch erst nach der Wende. Aber die Friedensbewegungen, die vor allem in der protestantischen Kirche verankert waren, boten zumindest einen Raum, in dem ich mit Personen mit ähnlichen Erfahrungen in Kontakt treten konnte. Der kirchliche Kontext hat mich nicht interessiert, der war okay, weil sehr klar war, dass es sich um eine Jugendbewegung handelt. Und die ist bei mir auf etwas getroffen, das auch politisch war. Es gab in diesem Zusammenhang Räume für junge Menschen, die Erfahrungen des ‚Ver-andert-Seins‘ teilten, auch wenn es ‚weiße‘ Jugendliche waren. Sie wollten ein anderes Leben oder wussten, dass etwas anderes möglich sein müsste. Das hat meinen Überlebens-Drive ausgemacht, durch den ich in den 1970er Jahren in einer Kleinstadt in der DDR überhaupt aufwachsen konnte. Ich hatte einen klaren Kompass: Etwas anderes muss möglich sein, und ich werde es schaffen, da hinzukommen, wo dieses andere möglich ist. So habe ich meine Kindheit überlebt, würde ich heute sagen.

EOS: Samirah, Peggy hat eben die Kirche erwähnt. In dem Interview[1], durch das wir auf dich aufmerksam geworden sind, sprichst du ebenfalls von der Kirche. Welche Rolle hat sie gespielt? Warum ist die Kirche ein Ort gewesen, an dem Bewegungsaktivitäten stattfinden konnten, die es außerhalb der Kirche in dieser Form vielleicht nicht gegeben hätte?

SK: Die Kirche war ein Ort, der gewisse Freiräume erlaubte, weil verschiedene Verbindungen zur westdeutschen Kirche bestanden. Einerseits durch eine finanzielle Subventionierung aus dem Westen und zum anderen natürlich auch durch die globale christliche Religionsgemeinschaft, die gewissermaßen überstaatliche Strukturen geschaffen hat, welche die evangelische Kirche gut auszunutzen wusste. Ich bin auch eher durch biografische Ereignisse Teil der Frauen- und Lesbenbewegung sowie der Oppositionsbewegung geworden und habe wie Peggy gedacht, dass eine andere Form von Gesellschaft möglich sein muss. Dieser Freiraum in der evangelischen Kirche wurde durch ein Ereignis im August 1976 geöffnet, als sich der Pfarrer Oskar Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz selbst verbrannt hat, um auf die Diskriminierung von Christ*innen in der DDR hinzuweisen. Das hat dazu geführt, dass es zu offenen Briefen innerhalb der Kirche kam und die Kirche sich politisierte, zunächst innerhalb der christlichen Gemeinden. Das führte zu Auseinandersetzungen mit dem Staat, die darin gipfelten, dass am 6. März 1978 ein sogenanntes Grundsatzgespräch zwischen Kirchenleitung und Staatsführung stattfand. Das war ein völlig singuläres Ereignis, das in der Form weder vorher noch nachher stattgefunden hat. Bei diesem Grundsatzgespräch hat die evangelische Kirche es geschafft, eine Reihe von Freiräumen auszuhandeln, die verschiedene Gruppen für ihre politische Arbeit nutzen konnten. So wurden innerkirchliche Publikationen sowie eine größere Reisefreiheit für Kirchenmitglieder möglich. Die größere Reisefreiheit hat beispielsweise dazu geführt, dass relativ viele Frauen aus der DDR an den internationalen Tagungen des Lutherischen Weltbundes teilgenommen haben, bei denen es unter anderem um die Stellung der Frau in der Kirche ging. Über eine Dekade lang wurde zur Situation von Frauen in der Kirche diskutiert. DDR-Christinnen haben dieses Thema in die Gesellschaft getragen, und daraus hat sich auch eine Bewegung feministischer Theologinnen entwickelt. Die evangelische Kirche schaffte es auch, den Freiraum zu erkämpfen, dass Gemeinderäume fortan von Gruppen genutzt werden konnten, ohne dass diese ihre Veranstaltungen im Einzelnen genehmigen lassen mussten. Das Versammlungsgesetz der DDR sah nämlich vor, dass jede Veranstaltung vorab angemeldet werden musste, inklusive der genauen Inhalte, Themen, Redebeiträge und so weiter. Diese Freiräume eröffneten unterschiedlichen Oppositionsgruppen, Bürgerrechtsgruppen, Umweltschutzgruppen, Homosexuellengruppen und Frauengruppen die Möglichkeit, sich zu treffen und so eine Art Semi-Öffentlichkeit auszuprobieren, sich politisch zu orientieren und überhaupt Meinungsbildungsprozesse in Gang zu setzen, die es in der monolithischen Einheitsideologie der DDR im öffentlichen Raum gar nicht gab. So konnte sich langsam eine Art Oppositionsbewegung entwickeln. Aber die Bewegung entstand ab 1979 innerhalb dieser kirchlichen Räume nicht aus dem Nichts. Es gab schon im Vorfeld diverse private Freund*innenkreise, die nun die neue Semi-Öffentlichkeit der evangelischen Kirche nutzen konnten.

 

Stand der Lesben bei der Friedenswerkstatt an der Erlöserkirche, Ostberlin, 1983. Foto: Robert-Havemann-Gesellschaft / Bettina Dziggel / RHG_Fo_GZ_0396

Stand der Lesben bei der Friedenswerkstatt an der Erlöserkirche, Ostberlin, 1983. Foto: Robert-Havemann-Gesellschaft / Bettina Dziggel / RHG_Fo_GZ_0396

EOS: Wie war es bei der katholischen Kirche? Hat es dort ebenfalls solche Räume gegeben?

SK: Die katholische Kirche hat die Politik vertreten, den Staat im Grunde nicht zu akzeptieren und sich völlig herauszuhalten. Es gab katholische Frauen, in Magdeburg zum Beispiel, die sich in der Frauenfriedensbewegung engagiert haben. Aber im Grunde hat die katholische Kirche versucht, jede Kommunikation mit dem Staat zu vermeiden. Es war eindeutig die evangelische Kirche, die sich politisch für eine Oppositionsbewegung geöffnet hat – durchaus unterstützt durch die Westkirchen, also finanziell, aber auch technisch.

EOS: Peggy, waren diese Schnittstellen zwischen Friedensbewegung, Frauenbewegung und Umweltbewegung für dich damals schon sichtbar, oder sind sie dir erst im Nachhinein klar geworden?

PP: Das meiste ist mir erst im Nachhinein plausibel geworden, als ich mehr Informationen hatte und die DDR-Geschichte anders einordnen konnte. Deswegen muss ich noch einmal betonen, dass ich in einem provinziellen Umfeld aufgewachsen bin. Ich habe 1984, im Alter von 16 Jahren, versucht, zu verstehen, wo es Freiräume gab. Und die gab es am ehesten in der evangelischen Kirche. Während meiner Berufsausbildung ist das nochmals virulenter geworden. Das war wie ein Sammelsurium. Es ging in den 1980er Jahren um die Friedensbewegung, aber es gab natürlich auch Initiativen für Umweltschutz. Das war bei uns nicht so wahnsinnig virulent, sondern eher in den Industriegebieten. Ich muss allerdings sagen: Die Verbindung zur Frauenbewegung habe ich in diesen Räumen leider gar nicht erfahren können. Das kam erst danach.

EOS: Wurden die Begriffe ‚Aktivismus‘ oder ‚Bewegung‘ verwendet? Wie war das Selbstverständnis? Retrospektiv lässt sich leicht behaupten, dass das Bewegungen waren, aber wie positionierten sich die Bewegungen selbst? War es klar, in was für einem Feld ihr agiert habt?

PP: Meiner Erfahrung nach war es einfach und schwierig zugleich. Einfach war es in dem Sinne, dass die Zuschreibung schon von außen stattfand. Wenn du dich mit so etwas wie Frauenrechten beschäftigt hast, dann war das eine Art Widerstand, etwas Gegenstaatliches. ‚Aktivismus‘ ist bei mir kein Thema gewesen, das war nicht die Versprachlichung, die wir genutzt haben. Wo es schwierig wurde, war die Frage: Inwiefern übernehmen wir diese Zuschreibung von außen? Es gab ja durchaus ein Spektrum von Konsequenzen, die das nach sich ziehen konnte. Wir haben uns auch nicht als Widerstandskämpfer*innen verstanden, das auf keinen Fall. Ich glaube, der gemeinsame Nenner bestand darin, dass es eine Bewegung war. Das hatte auch etwas Empowerndes, auch wenn wir den Begriff damals nicht verwendet haben. Friedensbewegungen sind sowieso etwas sehr Schönes. Das Gefühl, nicht alleine zu sein – so würde ich das für mich beschreiben.

EOS: Stimmt das mit deiner Erfahrung überein, Samirah?

SK: Ich habe mich schon als Teil einer Bewegung gesehen, weil es mehrere Gruppen gab, zu denen wir gezielt Kontakt gesucht haben. Es gab verschiedene Netzwerktreffen: die Mitarbeiter*innentreffen der Kirchlichen Arbeitskreise Homosexualität, verschiedene Frauengruppentreffen, die Treffen von Frieden konkret, und es gab ein Netzwerk der Frauen für den Frieden, aus dem später landesweite Frauengruppentreffen hervorgegangen sind. Also ich kannte durchaus auch zu DDR-Zeiten verschiedene Gruppen und Netzwerke, die aktiv waren, sodass ich mich als Teil einer Bewegung verstanden habe. Das Empowernde, wie Peggy schon sagt, war, innerhalb der monolithischen DDR-Kultur und der politischen Situation einen Raum zu haben, in dem wir diskutieren konnten, wo Meinungsvielfalt bestand, wo es einen Austausch gab, wo Weltanschauungen in Frage gestellt oder überhaupt zur Sprache gebracht wurden. Als junger Mensch bist du ja auf der Suche nach allem Möglichen. Da nicht allein zu sein, sondern andere zu haben, mit denen man gemeinsam Dinge diskutieren kann, ist total wichtig.

Kundgebung gegen staatliche Gewalt und für Meinungsfreiheit- und Versammlungsfreiheit, Berlin-Mitte, 4. November 1989. Stasi Mediathek, Signatur: BStU, MfS, HA XX, Fo, Nr. 1021, Bild 2–40, Bild 4

Kundgebung gegen staatliche Gewalt und für Meinungsfreiheit- und Versammlungsfreiheit, Berlin-Mitte, 4. November 1989. Stasi Mediathek, Signatur: BStU, MfS, HA XX, Fo, Nr. 1021, Bild 2–40, Bild 4

EOS: Das alles ist in einem Kontext von Repression geschehen. Aber wenn ich euch zuhöre, hört es sich so an, als hätte es innerhalb dieser Räume relativ viel Freiheit gegeben, sich politisch zu artikulieren. Wie hat sich die Repression ausgedrückt? Drang sie bis in diese Räume hinein? Gab es die Befürchtung, dass Mitstreiter*innen Informationen weitergeben? Wie habt ihr euch vor der Markierung als ‚widerständig‘ und vor negativen Konsequenzen aufgrund eures Engagements geschützt?

PP: Gelernte DDR-Bürger*innen wussten immer schon: Wenn drei Leute zusammen sind, ist mindestens eine Person ein*e Inoffizielle Mitarbeiter*in der Stasi. Das mag übertrieben wirken, aber mit diesem Gefühl wuchsen wir eben auf, das war eine Art unausgesprochenes Selbstverständnis. Vielleicht haben wir auch mit doppelten Standards gesprochen. Im Bewusstsein, dass der Staat mithört, kann sich die Selbstzensur schnell einschalten. Das sollen beziehungsweise müssen vermutlich spätere Generationen erst noch klären. Was ich damit sagen will: Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mir eine gute Strategie zurechtgelegt hatte, wie ich durch das Leben in der DDR kommen kann. Denn die Repressalien fingen wie gesagt bereits vorher an. Die Erfahrungen, die ich in diesem Zusammenhang gemacht habe, waren alltäglich. Wir waren unter anderem einmal in einem Sommercamp und mussten da irgendwelche Zettel ausfüllen, wie heute in einem Hotel...

SK: Eine Anmeldung?

PP: Ja, solche Anmeldescheine. Es war allen klar, dass die kleinen Karteikarten eingesammelt werden und bei der Stasi landen. Das war ein Friedenscamp der evangelischen Kirche in Rudolstadt, und es war natürlich klar, dass wir da unter Beobachtung standen. Als wir uns einmal in der Kirche in Gotha getroffen haben, standen im Innenhof mehrere Menschen, die ich kannte, aber auch einige Unbekannte. Ich war mit meiner Freundin da, und auf einmal haben uns Leute fotografiert, dann ist jemand weggegangen. Es war klar, dass das niemand aus unserer Gruppe war. Letztendlich habe ich mich im Direktorenzimmer wiedergefunden, als es darum ging, ob ich mich für ein Studium bewerbe. Der Direktor hat mir rundheraus gesagt, ich könnte mich gerne für Germanistik in Jena bewerben, aber ich würde sowieso nicht angenommen. Ein Anruf hätte gereicht, und der war schon getätigt. Ich habe mich trotzdem beworben, weil ich immer der Meinung war, dass sie sich dann zumindest mit mir beschäftigen und Ausreden erfinden müssen. Es war klar, dass sich der Staatsapparat ein wenig bemühen muss, um zu gewissen Entscheidungen zu kommen, also zu den Ergebnissen, zu denen er kommen wollte. Das waren natürlich keine schönen Erfahrungen, aber das war aushaltbar für mich. Manche Menschen haben ganz andere Erfahrungen machen müssen. Für meine Freundin ist es ein bisschen schwieriger gewesen. Wir sind massiv unter Druck gesetzt worden im zweiten Lehrjahr, das für das Zeugnis, mit dem man sich zum Studium beworben hat, entscheidend war. Dieser Druck war ganz schön hart für sie, sodass sie das Abitur abgebrochen hat. Aber ich kannte diese Art von Druck schon aus der Polytechnischen Oberschule, ich wusste, was es bedeutet, ‚ver-andert‘ zu werden, wenn auf Biegen und Brechen etwas nicht sein darf, wenn du nicht in der Öffentlichkeit stehen darfst. Insofern konnte ich gut damit umgehen, und abgesehen davon blieben mir größere Konsequenzen erspart.

SK: Mir war natürlich auch immer bewusst, dass es eine unsichtbare rote Linie gibt, dass es ab irgendeiner Grenze gefährlich wird, also dass dann Gefängnis oder andere Repressionen drohen. Ich komme aus Berlin, aus einem Akademiker*innenhaushalt, habe mich für Naturwissenschaften und Technik interessiert und dann Ingenieurwissenschaften studiert. Das waren Studiengänge, bei denen der Zugang ein bisschen leichter war. Ich kann mich nicht an Repressionen erinnern. Ich weiß, dass ich aufgrund der Gruppenzugehörigkeit natürlich observiert wurde, aber nach dem Studium habe ich noch eine Dissertation im Forstwissenschaftlichen Institut Eberswalde begonnen. Also ich habe keine Repressionen bewusst erlebt, aber es war immer klar, dass ich bestimmte Regeln einhalten muss, dass es beim politischen Engagement immer eine Grenze gibt. Innerhalb der Gruppen und gerade bei Netzwerktreffen wurde natürlich immer darüber gesprochen: Wo haben sich neue Freiräume eröffnet? Wie weit kann man gehen? Wir haben immer versucht, die unsichtbare Grenze auszuloten und weiter zu verschieben, etwa in Dresden 1987, als wir in einem Jugendclub einen nichtkirchlichen Arbeitskreis Homosexualität gegründet haben. Das war relativ neu. Es gab Freiräume, aber es war immer ein Drahtseilakt. Politisches Engagement hatte in der DDR viel mit persönlichem Mut zu tun, vorhandene Freiräume auszuloten, auszunutzen und bis an die Grenzen zu gehen.

EOS: Samirah, du sagtest eben, du wusstest, dass du beobachtet wurdest aufgrund der Gruppenzugehörigkeit. Welche Gruppen meinst du?

SK: Das war zum einen der Arbeitskreis Homosexualität in Dresden, zum anderen war ich später auch in verschiedenen Frauengruppen und Netzwerkgruppen aktiv. Verifizieren konnte ich das zwar erst nach der Wende mit Einsicht in meine Stasi-Akte, aber im Grunde war uns allen klar, dass wir observiert wurden. Wer und wie und was und in welchem Ausmaß, das war uns nicht klar, aber wie Peggy sagte: Uns war immer bewusst, dass jemand mithört, und wir haben versucht, so zu reden, als würden wir quasi im Gespräch mit irgendwelchen staatlichen Stellen sein. Das, was wir in unseren Gruppen gesagt haben, wollten wir ja auch kundtun. Wir haben diesen indirekten Draht nach oben akzeptiert, die Tatsache, dass jemand dokumentiert, was wir machen. Das hat vermutlich auch im Vergleich zu heute eine gewisse Verantwortlichkeit in die Gruppen getragen, also eine gewisse Disziplin bei Gesprächen und Diskussionen, die durchaus positiv war.

EOS: Eure Aktivität in Sommercamps wurde schon angesprochen. In welchen anderen Formaten und an welchen Orten habt ihr euch sonst getroffen? Und wer hat das ermöglicht, abgesehen von der Kirche? Welche Räume gab es noch, um sich zu treffen, um Aktionen zu planen? War es überhaupt möglich, Aktionen umzusetzen, seid ihr auf die Straße gegangen, habt ihr protestiert?

SK: Es gab die kirchlichen Räume, also die Gemeinderäume der Evangelischen Kirche der DDR, in denen in einem gewissen Turnus in unterschiedlichen Gemeinden Gruppentreffen stattfanden. Und es gab Netzwerktreffen, bei denen sich Leiter*innen verschiedener Gruppen in kleinerer Runde trafen. Wir haben auch Gemeindetage und Kirchentage genutzt, um unsere Anliegen irgendwie sichtbar zu machen. Darüber hinaus gab es überregionale landesweite Treffen, bei denen verschiedene Gruppen, also Frauengruppen, Homosexuellengruppen, Friedensgruppen, Umweltgruppen, Bürgerrechtsgruppen aktiv waren und sich direkt vernetzt haben. Denn es gab nur staatlich kontrollierte Medien. Selbst die kirchlichen Informationsblätter unterlagen mehr oder weniger der allgemeinen Zensur. Alles musste also mündlich besprochen werden, in unterschiedlichen Formaten, die überwiegend – ich sage mal zu 90 oder 99 Prozent – in kirchlichen Räumen stattfanden. Es gab immer wieder Versuche, auch staatliche Räume zu nutzen, die aber alle irgendwie scheiterten. Der Kulturbund der DDR verfügte über Räume für öffentliche Veranstaltungen, unterstand aber genauso wie der Demokratische Frauenbund Deutschlands und andere staatliche Massenorganisationen der ideologischen Kontrolle der SED. Alle diese Räume konnten deshalb faktisch nicht von oppositionellen Gruppen genutzt werden. Wir in Dresden haben es wie gesagt geschafft, in einem staatlichen Jugendclub Veranstaltungen zu organisieren. In Berlin wurden eher Gaststätten genutzt.

PP: Das deckt sich mit meiner Erfahrung. Ich habe diese Räume und Gruppen als Bildungsräume und Bildungsgruppen wahrgenommen. Wie Samirah schon sagte, hatten wir keinen Zugriff auf Medien, wir konnten also unsere Anliegen nicht über Medien verbreiten oder uns darüber informieren. Abgesehen von der Gegend um Dresden konnten wir zwar Westfernsehen empfangen, ab Ende der 1970er war es auch relativ normal, das zu konsumieren. Dennoch war die mediale Informationsmöglichkeit sehr eingeschränkt. Das war vor der Zeit des Internets, in der sich schnell etwas googlen lässt. Das heißt, es waren in erster Linie Bildungsräume, jedenfalls die, in denen ich mich bewegt habe. Es ging nicht primär darum, eine Demo zu organisieren oder auf die Straße zu gehen, weil es, wie Samirah sagte, eine unsichtbare rote Linie gab. Das war allen bekannt. Wir verfügten über ein gelerntes DDR-Wissen. Es wurde nicht gesagt: Bis dahin kannst du noch, und ab da gehst du in den Knast. Sondern das wurde durch Erfahrungen weitergetragen. Als ich meine Berufsausbildung mit Abitur gemacht habe, hörten wir von jungen Menschen, die exmatrikuliert und zum Teil auch verhaftet wurden. Das schwirrte immer rum, deswegen musste man ganz genau darauf achten, was möglich war und was nicht. Dennoch waren die kirchlichen Räume die Orte, an denen man sich über die Umwelt und über die Aufrüstung in der DDR informieren konnte.

SK: Es gab auch die Evangelischen Akademien in allen Bezirken, die Bildungsangebote über christliche Themen hinaus gemacht haben und tatsächlich auch von uns zu Bildungszwecken genutzt wurden. Ja, es gab verschiedene Möglichkeiten innerhalb der Evangelischen Kirche. Trotzdem haben einige Gruppen versucht, außerhalb der Kirche öffentlich zu werden, natürlich in minimalem Umfang. Die Lesbengruppe Berlin hat zum Beispiel versucht, im KZ Ravensbrück durch eine Kranzniederlegung sichtbar zu werden. Die Berliner Friedensfrauen haben versucht, in einem Postamt beim Einreichen ihrer Widersprüche gegen das Wehrdienstgesetz[2] Öffentlichkeit zu generieren. Und auf dem Alexanderplatz in Berlin gab es 1989 nach der Wahl am 7. Mai immer am 7. jedes Monats Pfeifkonzerte. Das Interessante daran ist: Da die Stasi alles kontrolliert hat, wurden auch diese Kleinstgruppen wahrgenommen und hatten dadurch das Gefühl, dass sie etwas bewirken. Nach dem Mauerfall konnten wir jederzeit demonstrieren, aber schon bald stellten wir fest: Selbst wenn wir nun Hundert sind oder auch Hunderttausend – so große Demonstrationen hat es ja teilweise gegeben –, das interessiert heute irgendwie keinen mehr, das verändert nichts. Wenn wir in der DDR hingegen mit zehn oder zwanzig Leuten mit riesigem persönlichem Mut – also wirklich im Bewusstsein, wir könnten verhaftet werden – auf die Straße gegangen sind, dann hat sich etwas bewegt. Im Nachhinein lässt sich aus den Akten recherchieren, dass staatliche Stellen sich mit den jeweiligen Anliegen auseinandergesetzt und nach Kompromissen oder Lösungen gesucht haben. Ein Beispiel ist die allmähliche Liberalisierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Homosexuellen. So beginnt die Akte zum Thema Homosexualität im Zentralen Staatsarchiv der DDR mit Eingaben von Lesben, zum einen von der Berliner Gruppe Lesben in der Kirche nach ihren Aktionen im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück, zum anderen von Uschi Sillge in ihrem Bemühen, einen Arbeitskreis für Homosexuelle außerhalb der Kirche aufzubauen. Nach diesen Eingaben kommt es zur Einrichtung eines interdisziplinären Arbeitskreises Homosexualität an der Berliner Humboldt-Universität. Dessen Gründung und Arbeitsergebnisse sind ebenfalls in der Akte enthalten. Ab 1987 entstehen dann erste Homosexuellengruppen außerhalb der Kirche. Im Mai 1989 werden die unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen zum Schutz minderjähriger Heterosexueller und Homosexueller angeglichen, und am 9. November 1989 wird der Film Coming Out in Berlin uraufgeführt.[3]

EOS: Habt ihr noch Ergänzungen zu den Kontinuitäten dieser DDR-Bewegungsgeschichte bis heute?

PP: Ich habe ja schon darauf hingewiesen, dass meine bewegungsgeschichtliche Erfahrung in der Schwarzen Community erst nach 1989 stattfand und dass das mit dem Umstand zu tun hatte, dass ich im ländlichen Raum aufgewachsen bin. Allerdings habe ich – und das finde ich sehr, sehr bezeichnend – ab 1990 vor allem auch Verbindungen zu Menschen aus der DDR finden können. Es war nicht nur schön, sondern auch eine Verbindung zu meinem einstigen Ich, zum DDR-Ich, dass ich dann auch Schwarze Lesben kennenlernen konnte und im Nachhinein erfahren habe, was in der DDR möglich war. Denn die DDR war in all ihrer Homogenität – und sie hat sich ja selbst in Homogenität erstickt – diverser, als sie es sein wollte. Das hat sich mir vor allem danach erschlossen, als ich diese anderen Menschen kennengelernt habe.

SK: Ich selbst habe in der DDR keine Rassismuserfahrungen gemacht. Das hat natürlich zum einen damit zu tun, dass sich mein multikultureller Background eher durch meinen Namen erschließt und weniger durch mein Aussehen. Es hat aber auch damit zu tun, dass mein Vater sehr früh gestorben ist und ich dann keinen Kontakt zu Menschen hatte, die aus multikulturellen Elternhäusern kamen, sodass ich eigentlich sehr ‚deutsch‘ aufgewachsen bin. Meine Mutter und auch mein sozialer Vater waren Deutsche, sodass ich zu Hause nur deutsche Kultur kennengelernt habe. Ich habe erst im Nachhinein erfahren, wie viel Rassismus es in der DDR gegeben hat. Das hat mich sehr erschüttert. Das hatte – soweit ich erkennen konnte – viel mit Arbeitsmigration zu tun. Mein Vater kam als Student aus Ägypten in die DDR, und in meiner Seminargruppe war eine Schwarze Frau, die aus ähnlichen Zusammenhängen kam, denn in den 1950er und 1960er Jahren gab es relativ viele internationale Studierende in der DDR. Akademiker*innen sind viel eher in die DDR-Gesellschaft integriert worden als Menschen, die im Zuge der Arbeitsmigration gekommen sind und ziemlich marginalisiert wurden, was ein riesiges Problem war. Man muss genau auf die sehr unterschiedlichen biografischen Hintergründe schauen, wenn man sich mit Rassismus beschäftigt.

PP: Da würde ich gerne den Umstand ergänzen, dass auch das stark davon abhängig war, wo in der DDR eine Person gelebt hat. Worauf du jetzt schon hingewiesen hast, Samirah: Bei den – wie wir heute sagen würden – BIPoC-Migrant*innen gab es gewissermaßen eine erste und eine zweite Klasse. Das sind Unterscheidungen, die damals nicht so kommuniziert wurden. Was mir auch im Nachhinein erschütternd deutlich wurde, ist – um das verkürzt zu sagen –, dass diese Kategorisierung sich an der Positionierung des jeweiligen Herkunftslandes im Kalten Krieg orientierte. Das bestimmte auch, welche Art von Bildung die Menschen in der DDR erhielten oder welche Arbeit sie leisten mussten. Länder, die westlich orientiert waren, mussten die Ausbildung ihrer jungen Staatsbürger*innen mit Valuta bezahlen. Die brauchte die DDR dringend. Im Prinzip ging es dabei um US-Dollar, also eine handfeste Währung, während Studierende aus den sogenannten sozialistischen jungen Nationalstaaten eine kostenfreie Ausbildung bekommen haben. Das geschah stets im Namen der internationalen Solidarität, aber das bedeutete letztendlich, dass diese jungen Menschen dem Arbeitsmarkt der DDR zur Verfügung stehen mussten. Die Abkommen mit anderen Ländern richteten sich danach, was die ökonomischen Bedürfnisse der DDR waren, und die waren ja sehr groß, wie wir wissen. Das führte dann zu solchen Kuriositäten, dass junge Menschen aus Mosambik bei der Reichsbahn oder im Braunkohle-Tagebau eine Ausbildung gemacht haben, die sie in Mosambik bestimmt nicht besonders weitergebracht hat. Das andere, was ich noch ergänzen wollte, ist, dass zu den wenigen Möglichkeiten, die ich in der DDR hatte, um meine eigene Identität positiv zu verhandeln, der Kontakt zu den ‚Vertragsarbeiterinnen‘ etwa in Gotha gehörte, die in der LPG gearbeitet haben. Das waren wichtige Momente. Das waren aber getrennte Räume, die Räume der Friedensbewegung und der Kirche waren etwas anderes. Deswegen war es für mich in der Zeit zwischen 1984 und 1989 auch unglaublich wichtig, dass ich in Arnstadt, Gotha und Erfurt Kontakt zu ‚Vertragsarbeiterinnen‘ aus Simbabwe, Angola und Mosambik hatte.

_________

[1] Veronika Kracher, „Sexuelle Emanzipation gehörte nicht zum Programm der Arbeiterbewegung“, L-Mag September/Oktober 2019; online: https://www.l-mag.de/aus-dem-heft-1015/sexuelle-emanzipation-gehoerte-nicht-zum-programm-der-arbeiterbewegung.html, abgerufen am 30. Januar 2024.

[2] Im Jahr 1982 wurde in der DDR ein neues Wehrdienstgesetz verabschiedet, das im Falle einer Mobilmachung vorsah, auch Frauen für den Militärdienst einzuziehen. Aus Protest gegen das Gesetz formierten sich vornehmlich in Berlin und Halle Frauenfriedensgruppen, die mit verschiedenen Aktionsformen wie Unterschriftensammlungen, Friedenswerkstätten und den Politischen Nachtgebeten in Erscheinung traten.

[3] Der Spielfilm Coming Out erzählt die Geschichte eines jungen schwulen Lehrers in Ostberlin. Er wurde unter der Regie von Heiner Carow vom DEFA-Studio für Spielfilme in Potsdam-Babelsberg produziert.