Wir schreiben das Jahr 1922. Fast 10.000 Menschen versammeln sich vor dem zentralen Polizeirevier in Nairobi, um die Freilassung von Harry Thuku zu fordern, einem der ersten Freiheitskämpfer*innen und politischen Aktivist*innen Kenias.[1] Als Anführer der neu gegründeten East African Association wurde Thuku wegen seines politischen Engagements inhaftiert, das auf die wirtschaftliche Befreiung der kenianischen Afrikaner*innen und ein Ende der Ausbeutung insbesondere von Frauen und Kindern abzielte. Was mit morgendlichen Gebeten beginnt, steigert sich zu empörtem Gemurmel, dann zu Geschrei. Am Ende des Tages bleiben 21 Leichen auf der Straße zurück.[2]
Um diesen Moment, der in einem der ersten Massenmorde des 20. Jahrhunderts in Kenia gipfelte, vollständig zu verstehen, muss man sich in das Nairobi des Jahres 1922 versetzen, eine Stadt, die primär auf der Ausbeutung der einheimischen afrikanischen Arbeitskräfte aufgebaut wurde: Auf der einen Seite sitzen wohlhabende europäische Siedler*innen auf den Balkonen von exklusiv den ‚Weißen‘ vorbehaltenen Hotels wie dem The Norfolk. Von dort beobachten sie Scharen von Afrikaner*innen auf dem Weg zum nahe gelegenen Polizeirevier. Obwohl sie eine Minderheit darstellen, ist die gesamte Infrastruktur der Stadt – alle Straßen, Erholungsanlagen und Versorgungseinrichtungen – allein auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Wahrscheinlich belächeln sie die Versammlung und gehen davon aus, dass es sich bloß wieder um eine Gruppe verärgerter Afrikaner*innen handelt, die spätestens am Abend nach Hause zurückkehren und tags darauf wieder ihrer Arbeit nachgehen.
Auf der anderen Seite marschieren Gruppen afrikanischer Männer und Frauen aus verschiedenen Teilen des Landes auf. Sie haben ihre schlecht bezahlten und ausbeuterischen Tätigkeiten – als Hausangestellte in ‚weißen‘ Haushalten, als Fahrer*innen, als Sexarbeiter*innen, als Regierungsangestellte – aufgegeben. Sie haben sich auf den Weg gemacht, eine Stadt zu besetzen, die nicht für sie gebaut wurde, und dabei sind sie unbefugt in Ländereien eingedrungen, die ihnen weggenommen wurden. Einige sind von weit her aus Zentralkenia angereist, während viele der in Nairobi lebenden Menschen aus den Außenbezirken der Stadt gekommen sind, wo sie in unterentwickelten, segregierten Vierteln wie Pumwani, Pangani und Kariokor leben. Zu diesem Zeitpunkt steht Kenia bereits seit 27 Jahren unter britischer Verwaltung. Viele Menschen aus dem zentralen Hochland haben ihr angestammtes Land an europäische Siedler*innen verloren und müssen sich einem System der Indentur[3] unterwerfen, um die ihnen von der britischen Kolonialmacht aufgezwungenen Hütten- und Kopfsteuern bezahlen zu können.
Gegen Mittag kommt eine Gruppe von Männern, die mit den Kolonialverwalter*innen verhandelt hat, aus dem Polizeirevier zurück. Sie teilt den Anwesenden mit, dass es Thuku gut gehe, er aber nicht freigelassen werde, da er noch auf seinen Prozess warten müsse. Sie fordern die Menge auf, sich friedlich zu zerstreuen und nach Hause zu gehen. Die Menschen, die seit Stunden warten, sind über diese enttäuschende Nachricht verärgert. Eine Frau drängt sich wütend nach vorne, zieht sich aus und schreit: „Nehmt mein Kleid und gebt mir eure Hosen! Ihr Männer seid Feiglinge! Worauf wartet ihr noch? Unser Anführer ist da drin! Holen wir ihn raus!“[4]
Die Frau heißt Muthoni Nyanjiru. Sie führt ein entbehrungsreiches Leben am Rande der Gesellschaft eines ausbeuterischen Kolonialstaats. Ihr Aufschrei findet Widerhall bei vielen anderen Frauen in der Menge. Sie stürmen auf die Tore des Polizeireviers zu. Überrumpelt und auf diese Wendung der Ereignisse vollkommen unvorbereitet, beginnt die Polizei, wahllos in die Menge zu schießen. Auch Siedler*innen, die im Hotel The Norfolk zu Abend gegessen haben, eröffnen das Feuer.[5] Die Menschen zerstreuen sich. Nach der Schießerei bleiben mehrere Leichen zurück, darunter auch die von Muthoni Nyanjiru.
Hundert Jahre später wirkt die Feststellung, die Geschichte würde sich wiederholen, kaum angemessen. Vielmehr müsste man sagen, dass die Geschichte auf höchst tragische Weise gespiegelt wird. Wenn das passiert, sehen wir uns – egal, ob wir nun direkt an den Ereignissen beteiligt sind oder sie aus der Ferne mitverfolgen – gezwungen, die Geschichte neu zu besetzen: #OccupyHistory.
Dieser Ansatz fordert dazu auf, zu untersuchen, welchen Widerhall die Kämpfe und die Opfer der Vergangenheit in den heutigen Bewegungen für Gerechtigkeit und Gleichheit finden. Er erinnert daran, dass die Geschichtsschreibung weder neutral noch organisch vonstattengeht. Sie ist vielmehr ein bewusster Akt, der bestimmten Erzählungen eine Form aufprägt und ihnen gegenüber anderen den Vorzug gibt. Der tragische Tod von Nyanjiru, einer unbewaffneten Frau, die sich einer ungerechten und unrechtmäßigen Regierung widersetzte, unterstrich auf ergreifende Weise, wie wenig Wert die koloniale und politische Klasse dem Leben der afrikanischen Arbeiter*innenklasse beimaß – ein herzzerreißender Verlust. Und ein Ereignis, das noch lange traurig nachhallen wird.
Am 25. Juni 2024 liegt der leblose Körper des 39-jährigen David Chege unter den Bäumen vor einem Parlamentsgebäude in Nairobi. Chege wurde von einem Scharfschützen in den Kopf geschossen. Eine Fahne ist über sein Gesicht drapiert, vier Demonstrant*innen beugen sich in einer Geste der Solidarität über seinen Körper. Wenige Stunden vor seinem Tod schlossen sich die Abgeordneten der Regierungspartei in Abwesenheit der Opposition in den Räumen des Parlaments ein und verabschiedeten trotz öffentlichen Widerstands im Eiltempo ein umstrittenes Finanzgesetz.[6] Zehntausende Kenianer*innen marschieren über die Hauptstraßen in die Stadt, um sich vor dem Parlament zu versammeln. Am späten Nachmittag übersteigt die Zahl der Demonstrierenden die Zahl der Polizeikräfte bei Weitem. Schließlich durchbricht eine Gruppe von Bürger*innen den Zaun, der das Parlament umgibt. Mit ihrem Vorrücken auf das Gebäude wird eine physische und symbolische Barriere niedergerissen. Das Parlament, das einst als unantastbarer Raum und Domäne der selbsternannten Elite galt, wird von jungen Männern und Frauen besetzt, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Für die vormals segregierte Stadt Nairobi bedeutet die Erstürmung des Parlaments nicht nur das Überschreiten physischer, sondern auch sozioökonomischer Grenzen. Diese Entweihung eines einst als heilig geltenden Raums wird rasch geahndet. Auf dem Gelände tätige Polizeikräfte in Zivilkleidung eröffnen das Feuer auf die Protestierenden. Am Ende des Tages bleiben, wie im Jahr 1922, mehrere Leichen zurück, darunter auch die von David Chege.
2024 wird in die kenianische Geschichte eingehen als das Jahr einer landesweiten Revolution gegen die schlechte Führung und die Korruption einer Regierung, die Hinrichtungen ohne vorherigen Gerichtsprozess vornimmt und deren Willkür ungeahndet bleibt. Das Land wurde von Massenprotesten erschüttert, die eine realitätsfremde und arrogante politische Klasse gedemütigt und bloßgestellt haben. Aufgrund ihres jugendlichen Charakters wurden sie vielfach als Aufstand der kenianischen Generation Z bezeichnet. Auslöser der am 18. Juni beginnenden Proteste war die Einführung des zuvor erwähnten Steuergesetzes, das drastische Erhöhungen vorsah, um Kenias Schulden zu decken und eine aufkeimende Schuldenkrise abzumildern.[7] Viele kenianische Steuerzahler*innen empfanden den Vorschlag, Abgaben auf eine Vielzahl von Alltagsprodukten wie Brot, Windeln und Damenbinden zu erhöhen oder einzuführen, während die meisten von ihnen kaum ihren Lebensunterhalt bestreiten können, als einen Dolchstoß in den Rücken. Auf einem Plakat war zu lesen: „Ihr droht uns mit dem TOD, als ob man unseren derzeitigen Zustand als LEBEN bezeichnen könnte“[8].
In den Wochen und Monaten vor den Protesten beobachteten die Kenianer*innen, wie die Abgeordneten ihren Reichtum in den sozialen Medien schamlos zur Schau stellten. Sie tanzten vor Luxusautos und teilten Videos, die an Bord von Hubschraubern und Privatjets aufgenommen wurden. Sie eröffneten in ihren Wahlkreisen opulente Tanzlokale und wurden gesehen, wie sie mit Millionen von Schilling in bar ungeniert in der Öffentlichkeit herumliefen. Die kenianischen Abgeordneten, die im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt die zweithöchsten Diäten der Welt beziehen, präsentierten ihren illegal erworbenen Reichtum mit ungeheurer Arroganz.[9] Ebenso schockierend war ihre Unfähigkeit, die Vorteile des von ihnen vorangetriebenen Steuergesetzes klar zu benennen. In einem Fall behauptete eine nominierte Senatorin fälschlicherweise, dass das Gesetz nur wohlhabendere Kenianer*innen besteuern würde, während die Durchschnittsbürger*innen entlastet würden. Ihre Erklärungen waren nicht nur ungenau, sondern wurden von vielen auch als widersprüchlich und weltfremd empfunden.[10] Obwohl die Abgeordneten den Austeritätsplan als die am besten geeignete Maßnahme zur Rettung der kenianischen Volkswirtschaft priesen, wären viele von ihnen von just den Steuern befreit worden, die sie einzuführen gedachten.
Die anhaltende Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit der politischen Klasse Kenias gegenüber der Bevölkerung wirkten wie ein Spiegel, der eine koloniale Vergangenheit auf eine neokoloniale Gegenwart zurückwirft, und riefen weit verbreitete Unzufriedenheit hervor. Dazu stellte sich die Frage, warum die politische Klasse sich offensichtlich dem Internationalen Währungsfonds und den USA statt ihren eigenen Bürger*innen gegenüber verpflichtet zeigte.[11] Diskussionen über den Gesetzentwurf und die wirtschaftliche Lage des Landes – und damit die dezentralisierte politische Bildung von Bürger*innen für Bürger*innen – fanden in digitalen Räumen auf Plattformen wie X und Tiktok, über Whatsapp und auf Instagram statt. Das führte dazu, dass Millionen von Menschen sich für eine Ablehnung des Gesetzentwurfs einsetzten.[12] Zwar wurden unter ihnen viele Sprachen gesprochen, das Ziel aber war dasselbe: Das Steuergesetz in seiner Gesamtheit abzulehnen und die Regierung aufzufordern, angesichts erodierender Gesellschaftsstrukturen ein sozialverträglicheres wirtschaftliches Umfeld zu schaffen.
Als die Mobilisierung gegen das Gesetz online und auf Graswurzelebene an Schwung gewann, weigerte sich die Regierung, die legitimen Anliegen der von ihr vertretenen Bevölkerung anzuerkennen.[13] In der Folge verschob sich in den Tagen vor der Verabschiedung des Gesetzes der Schwerpunkt der öffentlichen Debatte schnell von #RejectFinanceBill2024 zu der Forderung #OccupyParliament. Da die Abgeordneten den Bürger*innen nicht auf Augenhöhe begegnen wollten, entschlossen sich die Menschen, zu ihnen zu kommen, um sie dazu zu zwingen.
Nach der Erstürmung des Parlaments am 25. Juni wandte sich der Präsident an die Nation, verurteilte die Proteste als Verrat und brandmarkte die Demonstrierenden als Kriminelle.[14] In derselben Nacht wurde die Armee verfassungswidrig gegen die Bürger*innen eingesetzt, und die Polizei drang in einkommensschwache Viertel ein und schoss wahllos auf Geschäfte, öffentliche Einrichtungen und Häuser. Die Parallelen zur Geschichte waren unheimlich. Es kamen Erinnerungen an die Ausrufung des Ausnahmezustands im Jahr 1952 auf. Der damalige Gouverneur Evelyn Baring setzte als Reaktion auf den Mau-Mau-Aufstand die gesamte Macht der kenianischen Kolonialpolizei und der britischen Armee gegen die Bevölkerung ein.[15] Hunderte mutmaßlicher Mau-Mau-Anhänger*innen wurden mitten in der Nacht zusammengetrieben und in Lagern festgehalten, wo sie massiven Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren. Die britische Herrschaft verhängte strenge Ausgangssperren, führte ein obligatorisches Pass-System ein, mit dem Identität und Aufenthalte von Personen kontrolliert wurde, und siedelte die Kikuyu, Embu, und Meru, aus denen sich die Mehrheit der Aufständischen rekrutierte, gewaltsam um.
In den Wochen nach den Generation-Z-Protesten wurde eine Reihe junger Menschen entführt, und es wurden zahlreiche verstümmelte und in Flüssen und Steinbrüchen entsorgte Leichen aufgefunden.[16] Die scharfe Rhetorik des Präsidenten und die harte Reaktion der Regierung, die anscheinend darauf abzielte, Kritiker*innen zum Schweigen zu bringen und die Demonstrant*innen in Angst zu versetzen, vergrößerte stattdessen die Kluft zwischen der politischen Klasse und den Bürger*innen. Das führte zu einer weiteren Eskalation der Spannungen im Land. Über die unmittelbare Gewalt und den Verlust von Menschenleben hinaus löste das Vorgehen von Präsident William Ruto auch eine breitere Diskussion über den Zustand der Demokratie in Kenia aus. Die Bürger*innen stellten die Legitimität einer Regierung infrage, die zu solch extremen Maßnahmen greift, um friedliche Demonstrant*innen daran zu hindern, ihren berechtigten Anliegen Ausdruck zu verleihen. Es war nicht das erste Mal, dass die kenianische Demokratie nach der Unabhängigkeit auf den Prüfstand gestellt wurde. Während der 24-jährigen Herrschaft des ehemaligen Präsidenten Daniel arap Moi zwischen den Jahren 1978 und 2002 kam es zu Verschleppungen von Personen, Inhaftierungen und sogar Hinrichtungen ohne vorheriges Gerichtsverfahren sowie zur Zensur von Medien, um jede Form von Widerstand gegen die Regierung zu unterdrücken. Studierendenbewegungen wurden delegitimiert und Polizei und Armee wurden regelmäßig eingesetzt, um friedliche Proteste und Oppositionsanhänger*innen einzuschüchtern und zu schikanieren.[17]
Am 26. Juni, dem Tag nach der Erstürmung des Parlaments, kündigte Präsident Ruto die Zurücknahme des umstrittenen Steuergesetzes an. Er erklärte, offen für einen Dialog mit der Jugend des Landes zu sein. Angesichts der Morde und Entführungen junger Männer und Frauen im ganzen Land wurde dieses vermeintliche Entgegenkommen als oberflächlich angesehen. Wie eine an den Protesten beteiligte Person anmerkte: „Ihr könnt uns nicht erst töten und dann anführen!“[18]
So wie die Maßnahmen von Rutos Regierung an die Taktiken früherer Regime erinnerten, riefen auch die Bemühungen der Öffentlichkeit, sich gegen diese Form der politischen Tyrannei zu wehren, vergangene Widerstandsbewegungen in Erinnerung. Ähnlich wie die Saba-Saba-Proteste gegen Mois autoritäre Herrschaft im Jahr 1990 richteten die Generation-Z-Proteste eine einheitliche Forderung nach mehr Verantwortlichkeit und Kompetenz an eine politische Klasse, die sich für ihren Machterhalt lange Zeit auf Stammesdenken, Korruption und dynastische Politik verlassen hat.[19]
Die Generation-Z-Proteste spielten sich ab wie eine in Echtzeit gehaltene Geschichtsstunde. Durch sie ließ sich die Vielschichtigkeit anderer Widerstandsbewegungen in der kenianischen Geschichte neu bewerten – wobei die Komplexität der Gegenwart genutzt wurde, um eben diese Vielschichtigkeit der Vergangenheit neu zu kontextualisieren. In Online-Diskussionen wurden beispielsweise Themen wie Zusammenhalt und Verrat innerhalb der Mau-Mau-Bewegung erörtert und die Frage gestellt, wie Einzelne sich mit dem Kolonialregime verbündet oder sich ihm widersetzt hatten.[20] Im Rahmen dieser Diskussionen wurden auch Strategien zur Aufrechterhaltung des Widerstands im Angesicht von staatlicher Gewaltausübung[21] sowie die Rolle der sozialen Ächtung und wirtschaftlicher Boykotte als wirksame Widerstandsstrategien untersucht.[22]
Diese Fragen und Überlegungen finden einen starken Widerhall bei der heutigen Generation, da sie die Vergangenheit nicht allein als eine Erzählung begreift, die es herunterzubeten gilt. Vielmehr erkennt sie darin einen Schauplatz, an dem diese Vergangenheit enträtselt, infrage gestellt und von ihr gelernt werden kann. Dementsprechend muss innerhalb dieses Prozesses anerkannt werden, dass die zentralen Themen der Bewegung zwar Ähnlichkeiten mit denen der Vergangenheit aufweisen, der einzigartige Kontext der Proteste im Jahr 2024 jedoch eine Untersuchung historischer Narrative erfordert, die mit gegenwärtigen Realitäten und Bestrebungen in Einklang gebracht werden kann.[23] Diese Verbindung zur Vergangenheit bietet stabile Rahmenbedingungen für das Verständnis und die Bewältigung der Gegenwart. In ihr offenbart sich das Begehren nach #OccupyHistory, der Besetzung einer Geschichte, deren Gestaltung bisher lediglich denjenigen vorbehalten war, die sich weigern, die Würde und Menschlichkeit der von ihnen unterdrückten Bevölkerung anzuerkennen.
Im Jahr 1963 erlangte Kenia nach einem langwierigen Kampf gegen den Kolonialismus die Unabhängigkeit. Der Ausnahmezustand, der ab 1952 acht grausame Jahre andauerte, war 1960 aufgehoben worden. Während dieser Zeit wurden Hunderttausende von Menschen in Internierungslagern und ganzen Dörfern überall im Land festgehalten. Historische Aufzeichnungen aus dieser Zeit, in denen Menschenrechtsverletzungen, staatlich sanktionierte Folter und die Ausbeutung von Arbeitskräften dokumentiert sind, wurden vernichtet, ins Meer geworfen oder nach Großbritannien verschifft, wo sie bis zu ihrer Entdeckung im Jahr 2003 geheim blieben.[24]
Diese Ereignisse zeigen, dass es sich bei Geschichte um ein der Politik vergleichbares Spiel von Interessen und Macht handelt. Die Generation-Z-Bewegung ist sich des Einsatzes bewusst und hat sich die sozialen Medien zunutze gemacht, um ihre Erfahrungen zu dokumentieren, ihre Sicht der Dinge zu teilen und die offiziellen Narrative der Regierung und der Medien infrage zu stellen. Bei diesem basisdemokratischen Versuch, die Geschichte zurückzuerobern und selbst zu schreiben, geht es nicht nur um die gegenwärtigen Bestrebungen, sondern ebenso darum, sicherzustellen, dass künftige Generationen die wahre Natur dieses Kampfes verstehen. In einem Zeitalter, in dem sich Informationen schnell verbreiten und Narrative in Echtzeit geformt werden, geht es beim Kampf um das historische Gedächtnis nicht nur um Erzählungen, sondern auch um deren Infrastruktur: Welche Infrastruktur wird genutzt, um diese Geschichte zu bewahren? Wer betreibt und kontrolliert sie?[25] Die Instrumente und Plattformen, die historische Aufzeichnungen archivieren und verbreiten – ob digitale Archive, die Netzwerke der sozialen Medien oder tradierte Medien – spielen eine entscheidende Rolle dabei, wie Geschichte dokumentiert und erinnert wird. Entscheidungen über die Schaffung, Pflege und Zugänglichkeit solcher Infrastrukturen können einen großen Einfluss darauf haben, welche Geschichten bewahrt und wie sie präsentiert werden. Daher ist es wichtig, sich nicht allein auf den Inhalt historischer Erzählungen zu konzentrieren, sondern auch die Mechanismen zu untersuchen, die ihrer Bewahrung zugrunde liegen. Die Besetzung der Geschichte erfordert daher anzuerkennen, dass die diese Geschichte bewahrenden Strukturen notwendig befangen sind und überwunden werden müssen.
Die Entwicklung der Generation-Z-Bewegung verdeutlicht, dass die Macht über die Gestaltung der Geschichte nicht nur in den Händen der politischen Machthaber*innen liegt, sondern auch im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung. Den eigenen Platz in der Geschichte zu definieren, bedeutet auch, unbefugt in die Korridore der Macht einzudringen und in den Verlauf der Erinnerungsbildung und Wissensproduktion einzugreifen. Wie sich dieses Verständnis in der Realität äußerte, wurde deutlich, als am 9. Juli Kenianer*innen zusammenkamen, um David Chege beizusetzen. Umgeben von Familie, Freund*innen, Kolleg*innen und Kamerad*innen wurde sein Sarg mit der kenianischen Flagge bedeckt – der Flagge, für die er bis in den Tod gekämpft hatte. Chege wurde neben seinem Großvater und seiner Urgroßmutter begraben. In einer bewegenden Würdigung von Catherine Kiiru hieß es: „Die Regierung hat ihn uns entrissen, aber er befindet sich nunmehr in sicheren Händen, und sie können ihm nichts mehr anhaben. Danke an alle, die um David und seine Familie getrauert, sie geliebt und unterstützt haben, Gott segne euch.“[26]
Im Kern geht es bei den Forderungen nach einem besseren Kenia darum, für genau den Ort zu kämpfen, den Catherine Kiiru sich für David Chege und im weiteren Sinne für all diejenigen vorstellt, die bei den Protesten ihr Leben verloren haben. Ein Ort, an dem wir vor Ungerechtigkeit und der folgenlosen Willkür derer sicher sind, die ihr Imperium auf unserem Schmerz aufgebaut haben; ein Ort, an dem sie uns nicht verletzen können. Die Generation-Z-Bewegung steht auf den Schultern der Bewegungen vor ihr. Sie schafft Raum, wo bisher keiner war, und bedroht die Grundlagen der Machtstrukturen, die sich hinter der Illusion von Anständigkeit und Unversehrbarkeit versteckt haben. Sie lehrt uns, unsere Zeit genauso zu besetzen, wie wir Räume besetzen. So erinnert sie uns daran, dass es manchmal viel wichtiger ist, sich selbst willkommen zu heißen, als willkommen zu sein.
Aus dem Englischen von Kristoffer Cornils
Dieser Text erschien erstmalig im Vergib uns unsere Schuld. Von (Un)wirklichen Grenzen, (Un)moral und anderen Überschreitungen (Berlin: HKW & Archive Books, 2024). S. 113–129. Eine englische Ausgabe des Readers ist ebenfalls erhältlich.
[1] Audrey Wipper, „Kikuyu Women and the Harry Thuku Disturbances: Some Uniformities of Female Militancy“, in: Africa: Journal of the International African Institute, 59/3 (1989), S. 300–337
[2] Wipper, „Kikuyu Women and the Harry Thuku Disturbances“, S. 316.
[3] Bei der Indentur handelt es sich um eine Form der Vertragsknechtschaft auf Zeit, wie sie oft in britischen Kolonialgebieten (als indentured labour) strukturell eingesetzt wurde, beispielsweise um Steuerregime einzuführen und durchzusetzen.
[4] Wipper, „Kikuyu Women and the Harry Thuku Disturbances“, S. 315.
[5] Harry Thuku, Harry Thuku. An Autobiography, Oxford: Oxford University Press, 1970.
[6] Nation Team, „Kenyan MPs pass William Ruto’s Finance Bill amid national street protests“, Nation (25. Juni 2024), nation.africa/kenya/news/kenyan-mps-pass-william-ruto-s-finance-bill-amid-national-street-protests--4669130
[7] Daniel Mule, „Update on the Status of Human Rights in Kenya during the Anti-Finance Bill Protests, Monday 1st July, 2024“, Kenya National Commission on Human Rights (1. Juli 2024), https://www.knchr.org/Articles/ArtMID/2432/ArticleID/1200/Update-on-the-Status-of-Human-Rights-in-Kenya-during-the-Anti-Finance-Bill%20Protests-Monday-1st-July-2024
[8] maliks 14/09/15/21 [@maliks_88], „You are threatening us with DEATH as if our current state of existence can be called LIVING“, X-Post (26. Juni 2024), x.com/maliks_88/status/1805859283302568262
[9] Al Jazeera English, „Helicopters, cars, and cash: Kenyan politicians face sudden scrutiny | Al Jazeera Newsfeed“ [Video] (12. Juli 2024), www.youtube.com/watch?v=f6OlWIy4eoA
[10] Kenneth Gachie, „Karen Nyamu was asked her opinion on Finance Bill 2024, her answer threw everyone off“, Citizen Digital (28. Mai 2024), www.citizen.digital/news/karen-nyamu-was-asked-her-opinion-on-finance-bill-2024-her-answer-threw-everyone-off-n342967
[11] Fadhel Kaboub, „Why are the US and IMF imposing draconian austerity measures on Kenya?“, The Guardian (10. Juli 2024), www.theguardian.com/commentisfree/article/2024/jul/10/kenya-finance-bill-protests
[12] „The #Reject Revolution: When Tweets Take to the Streets. The Story of 25 Million Posts Powering Kenya’s #RejectFinanceBill2024 protests“, NENDO (8. Juli 2024), www.nendo.co.ke/post/the-reject-revolution-kenyan-rejectfinancebill2024-protests
[13] Josphat Thiong’o, „Kenyans express anger as Ruto MPs force disputed finance bill down throats“, The Standard (undatiert), www.standardmedia.co.ke/politics/article/2001497563/kenyans-express-anger-as-ruto-mps-force-disputed-finance-bill-down-throats
[14] State House Kenya, „Protests: Statement by President Ruto on 25th June 2024“, [Video] (26. Juni 2024), www.youtube.com/watch?v=SP_BLorJXaY
[15] Der Aufstand der Mau-Mau, die auch als Kenya Land and Freedom Army bezeichnet wurden, ging von einer Guerillabewegung aus, die sich hauptsächlich aus Communitys in Zentralkenia rekrutierte. Die zwischen den späten 1940er Jahren und dem Jahr 1960 aktive Bewegung forderte eine Landreform und strebte die Befreiung von der britischen Kolonialherrschaft an. Ihr Kampf war nicht nur Ausdruck einer breiteren gesellschaftlichen antikolonialen Haltung, sondern spielte für Kenia auch eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Unabhängigkeit des Landes.
[16] Police Reforms Working Group (PRWG), „Ruto must take responsibility for protests’ gross human rights violations“, Kenya Human Rights Commission (KHRC) (26. Juni 2024), khrc.or.ke/press-release/ruto-must-take-responsibility-for-protests-gross-human-rights-violations/
[17] „Ruto’s red line: Why Moi tactics wouldn’t work today“, Nation (24. Juli 2024), nation.africa/kenya/news/politics/ruto-s-red-line-why-moi-tactics-wouldn-t-work-today--4700606
[18] noahmuhindi [@noah_muhindi], „You can’t kill us and lead us! #RutoMustGo https://t.co/oxcxu0boSg“, X-Post (23. Juli 2024), x.com/noah_muhindi/status/1815697614509129738
[19] Am 7. Juli 1990 mobilisierten zivilgesellschaftliche Gruppen, Gewerkschafter*innen und Einzelpersonen im ganzen Land, um gegen Mois Einparteienherrschaft zu demonstrieren und sich für politische Reformen und soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Diese Proteste waren Teil einer breiteren Bewegung, die sich mit Fragen der Demokratie, der Regierungsführung und der sozialen Ungleichheit in Kenia befasste. Sie wurden als Saba-Saba-Proteste bekannt und dienten als Katalysator für den Aufbau einer Mehrparteiendemokratie, indem sie politische Reformen einleiteten, die schließlich zur Verabschiedung einer neuen Verfassung führen sollten.
[20] South B’s Finest [@brendawambui], „Don’t be so quick to move on without imparting consequences on sellouts, friends. There is a reason the Mau Mau (and many other freedom movements) didn’t ‚move on‘ from collaborators. To make sure that everyone knows it is costly to betray liberation movements/reduce the odds.“, X-Post (5. Juli 2024), x.com/brendawambui/status/1809215183950115293
[21] Edd [@wakilinomad], „Been asking myself what was going on in the minds and hearts of Mau Mau after the might of the British Empire and its homeguards descended on them. When many had been killed, detained, wives raped, in the most brutal ways, did any think of surrendering? Giving up?“, X-Post (20. Juli 2024), x.com/wakilinomad/status/1814713158168113405
[22] Abu Iman [@Mr_Guantai], „Some more Mau Mau history to draw parallels with what is happening. The man who shot Dedan Kimathi was known as Ndirangu Mau. From the reward he got from his actions, he bought a lorry that he intended to use for transport business. No one ever used it.“, X-Post (5. Juli 2024), x.com/Mr_Guantai/status/1809253771115176235
[23] Justus Ochieng’ & Elvis Ondieki, „Saba Saba: Old script for new challenges in fresh youth campaign“, Nation (7. Juli 2024), nation.africa/kenya/news/saba-saba-old-script-for-new-challenges-in-fresh-youth-campaign--4682152
[24] Ian Cobain, Owen Bowcott und Richard Norton-Taylor, „Britain destroyed records of colonial crimes“, The Guardian (18. April 2012), www.theguardian.com/uk/2012/apr/18/britain-destroyed-records-colonial-crimes
[25] Imaginary Friend [@ItsJust_Lynn], „As we saw that Rachel & the Ford Foundation article taken down, and know the fickle nature of the internet/service providers (including X), we should start thinking about archiving outside of these sites and on physical media too. #RutoMustGo“, X-Post, (23. Juli 2024), x.com/ItsJust_Lynn/status/1815792119711203708
[26] Catherine Kiiru [@CatherineKiiru], „David Chege was buried next to his grandfather & great grandmother. The govt took him away from us but He is now in safe hands, where they cannot hurt him. Thank you to everyone who grieved, loved & supported David & his family in this journey, God bless you @inkosi_quest t.co/32fVKT0gsG“, X-Post (10. Juli 2024), x.com/CatherineKiiru/status/1810926754967535636