Auf dem afrikanischen Kontinent heißt es oft, beim Fußball finde das Spektakel nicht auf dem Spielfeld statt, sondern vielmehr auf der Tribüne. Diese Maxime ist begründet: Der afrikanische Fußball selbst mag zwar in manchen Aspekten hinter weltweite Standards zurückfallen, afrikanische Fußballfans stellen aber in mehrfacher Hinsicht zweifellos eine Avantgarde des Fan-Daseins dar. Im Maghreb beispielsweise tanzen Fans ausgefeilte Choreografien und singen Sprechchöre auf einem Niveau, das in Europa und Südamerika nicht zu finden ist. Weiter entfernt vom Einfluss der Mittelmeer-Tribünen bringen westafrikanische Fans ihre eigenen religiösen und kulturellen Lieder und Tänze mit ins Stadion. Fußball bleibt der wichtigste Zuschauersport auf dem afrikanischen Kontinent. Doch jene, die interessiert, was rund ums Spiel geschieht, müssen das Publikum auf den Tribünen genauer betrachten.
Fußball-Sprechchöre als politische Ausdrucksform
In Nordafrika liegt die Seele des Fußballs im Soundtrack. Wahre Fans bestehen darauf, dass der Sport vor einer Klangkulisse aus Kelchtrommeln, Trompeten und karkabous (nordafrikanische Kastagnetten) zu spielen ist. Der algerische Politikwissenschaftler Youcef Fatès leitet die Musikalität der nordafrikanischen Fans aus der kulturellen Institution des ‚maurischen‘ oder ‚arabischen‘ Cafés ab. Diese im kolonialen Nordafrika des 19. Jahrhunderts verbreiteten, traditionellen Cafés waren geschützte Räume, in denen sich Künstler, Politiker und Fußballfans begegneten und austauschten. Während der Fußball sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem afrikanischen Kontinent ausbreitete, trafen an diesen Orten der freien Zusammenkunft und wechselseitigen Inspiration Menschen aufeinander, die sich sonst nicht begegneten. In einer Zeit, in der Fußballspiele noch nicht im Fernsehen übertragen wurden, bildeten die Cafés die wichtigsten Treffpunkte für Fans, um gemeinsam die Ergebnisse und kurze Analysen im Radio anzuhören.
Angesichts der räumlichen Nähe zu Menschen aus Musik und Politik war es nur natürlich, dass die Fußballfangemeinde im Laufe der Zeit von diesen beiden Sphären beeinflusst wurde. Der jüdisch-algerische Komponist Saoud L’Oranais (ca. 1886, Oran, Algerien – 1943, Konzentrationslager Sobibor, heutiges Polen), veröffentlichte Lieder wie „Gheniet U.S.M.O“ (Lied des Union Sportive Madinet d’Oran).[1] Der Track ist wohl die allererste Fußballaufnahme Nordafrikas auf 78 RPM-Schellackplatten. Der Text ruft dazu auf, den Sieg des Oraner Fußballvereins USMO 1933 beim regionalen Cup von Oran zu feiern. Kurz darauf produzierten auch Meister des Chaâbi[2] ihre eigenen Lobgesänge für ihre Sportvereine.
Die turbulenten 1940er Jahre brachten Krieg und großflächige Zerstörungen über die Welt, doch in Nordafrika waren sie auch eine Zeit, in der nationalistische Befreiungsbewegungen sprunghaft an Zulauf gewannen. In diesem Kontext wurden die Vereine als alternative Möglichkeit genutzt, um die Unabhängigkeitsbewegungen zu stärken. Einheimische Arbeiter-Sportclubs wie Al Ahly in Kairo und Mouloudia in Algiers hatten enorme Mitgliederzahlen und fungierten als ‚akzeptables‘ Mittel im politischen Kampf gegen die siedlungskolonialen Institutionen. Zum Beispiel wurde das patriotische Lied ‚min djibalina‘, das von algerischen Pfadfindern geschrieben worden war und zur Unabhängigkeit aufrief, häufig auf Fußballtribünen gesungen. Inmitten der Algerischen Revolution (1954–62) zogen sich 1958 alle einheimischen Sportvereine aus der Liga zurück. Sie folgten damit einer Anordnung der Front de Libération Nationale (FLN, Nationale Befreiungsfront), der treibenden Kraft hinter der Revolution.
Heutzutage ist das Auftreten der singenden Fußballfans in Nordafrika nicht mehr so ausdrücklich politisch und viel subtiler. Im ganzen Maghreb ist das Stadion ein Ort geworden, wo junge Männer und Fans fast ausschließlich über ihr Alltagsleben singen: über Themen wie Drogen, Migration und Korruption. Tatsächlich sind nordafrikanische Fußballfans dafür bekannt, sehr ideenreich Musik zu produzieren. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn eine Fangruppe eines der größten nordafrikanischen Clubs zwei oder drei professionell produzierte Alben pro Jahr herausbringt. Besonders starke Texte können über die Grenzen hinaus bekannt und transnational erfolgreich werden.
2016 hat beispielsweise die tunesische Club-Africain-Ultragruppe African Winners das Lied „Ya Hyetna“ (Unser Leben) veröffentlicht, das schnell viral ging.
Ihr habt Drogen ins Land gebracht und es zerstört.
Ihr habt Menschen in die Migration gedrängt, sie gezwungen.
Ihr habt sie erstickt. Auf ein Holzboot habt ihr sie gestoßen …
Die Ultragruppe Ultras Eagles des Raja Casablanca haben mit ihrer Band Gruppo Aquile das Lied „Fi Bladi Dalmouni“ (In meinem Land haben sie mich unterdrückt) herausgebracht. Darin werden Themen wie Perspektivlosigkeit, wirtschaftliche Stagnation, Korruption und die Ausbreitung von Drogen in Marokko hervorgehoben. Seine starken Motive fanden auch jenseits von Marokko Anklang und wurden in Algerien überaus beliebt, insbesondere im Vorfeld der dortigen Hirak-Anti-Regierungsproteste 2019.
Oh, in meinem Land haben sie mich unterdrückt,
Oh, bei wem kann ich mich beschweren?
Beim Höchsten Herrn
denn nur er versteht (meine Situation)
Sie haben in Haschisch investiert
und uns wie Waisen verlassen.
Wir bekommen unseren Teil im Leben nach dem Tod.
Ihr habt Talente verschwendet,
sie mit Drogen zerstört.
Ist dies nicht die Wahrheit?
Ihr habt das Geld des Staates verschlungen,
es an Ausländer gegeben,
Eine ganze Generation wurde unterdrückt.
Choreografie als Kommunikationsmittel einer globalen Botschaft
Während Songtexte in Nordafrika wichtige Einblicke in das Alltagsleben junger Männer gewähren, finden sich in den Choreografien, die vor und während der Spiele von Fans gezeigt werden, oft Botschaften zu globaleren Themen. Seit dem 7. Oktober und dem darauffolgenden Krieg zwischen Israel und der Hamas haben viele nordafrikanische Fangruppen die Spieltage genutzt, um mit Choreografien ihrer Unterstützung der palästinensischen Sache Ausdruck zu verleihen, die weiterhin ein überaus relevantes Thema unter jungen Menschen im Maghreb ist. Das herausragendste Beispiel dieser Solidarität zeigte sich während des Finales der afrikanischen Champions League 2024 zwischen Tunesiens Club Espérance de Tunis und dem ägyptischen Al Ahly SC. Vor dem Anstoß breiteten die tunesischen Fans ein riesiges Banner über zwei Tribünen im Radès-Stadion am Stadtrand von Tunis aus. Das Banner zeigte Persönlichkeiten, die in den letzten paar Monaten an der vordersten Front der palästinensischen Sache gesehen wurden. Zu den Abgebildeten gehörten die Anwältin Südafrikas am Internationalen Gerichtshof Adila Hassim, der kolumbianische Präsident Gustavo Petro, der palästinensische Arzt Ghassan Abu Sittah, der palästinensische Journalist Saleh Al-Jafrawi sowie der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres. Das Banner bildet auch US-amerikanische Universitätsstudierende, Ultras der Glasgow Celtics sowie Huthi-Kämpfer ab. Die Berichterstattung zu dem Spiel wurde auf Fernsehgeräten in mehr als 60 Ländern ausgestrahlt, einschließlich Israel, und zeigte die beeindruckenden Ausdrucksformen der Fans, was die Verbreitung ihrer Botschaft in den Sozialen Medien sicherstellte. Doch beeindruckend war nicht bloß die große künstlerische Fertigkeit oder die Zeitlosigkeit der Botschaften, sondern auch das nuancierte Verständnis des Weltgeschehens, das mit der Idee aufräumt, nordafrikanische Fußballfans seien unpolitisch.
Die politischen Botschaften beschränken sich nicht auf Palästina. 2017 organisierten Fans des AS A in Mlila eine Choreografie bestehend aus den Gesichtern von Donald Trump, damals Präsident der USA, und dem saudi-arabischen König Salman. Der begleitende Text lautete: „Zwei Seiten derselben Medaille“. Es wurde als Kritik an der saudischen Außenpolitik verstanden, die damals mit der saudisch angeführten Intervention im jemenitischen Bürgerkrieg besonders aggressiv war. Zum Halbfinale des African Confederation Cup zwischen dem algerischen Club USM Algier und dem marokkanischen Club RS Berkane kochte das böse Blut zwischen den Nachbarn über. Die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren seit August 2021 gestört. Ein Grund waren Skandale bezüglich der Westsahara – einem Gebiet, das die marokkanische Regierung als Teil Marokkos betrachtet, die algerische hingegen als besetztes Land. Vor dem Spiel breiteten Berkane-Fans (deren Club vormals von Fouzi Lekjaa geleitet und weiterhin beeinflusst wurde, der auch Präsident des marokkanischen Verbands und Regierungsbeamter war) ein riesiges Banner aus, auf dem eine Karte Marokkos sich bis in die Westsahara erstreckte. Das Bild wurde vom offiziellen marokkanischen Motto unterstützt, das die Nationalhymne unterstreicht: „Allah, Heimat, König“.
Westafrikanische Fangruppen verbinden Fußball, Politik und Religion
In der westlichen Welt gibt es die Annahme, dass wir mit Kolleg*innen über allerlei persönliche Themen oder Überzeugungen sprechen können, nicht aber über Politik oder Religion. In afrikanischen Stadien gilt oft das Gegenteil. Die große Mehrheit westafrikanischer Nationalteams hat offizielle Fangruppen, die mit dem Team reisen und im Stadion Gesang und Tanz anleiten. Da die Fangruppen auf öffentliche Förderung angewiesen sind, ist es nicht ungewöhnlich, dass sie eine politische Persönlichkeit unterstützen, von der sie glauben, dass sie die Finanzierung der kommenden Reisen absichert. Ein berühmtes Beispiel kommt aus der Republik Côte d’Ivoire, wo die offizielle Fangruppe CNSE (Comité National de Soutien aux Elephants) manchmal öffentlich Politiker*innen unterstützt. 2017 trug der Kopf der Gruppe Petit Bamba – ein großer lässiger junger Mann, der dafür bekannt ist, seinen Körper anzumalen und der Kamera lustige Gesichter zu zeigen – Wahlwerbeschilder für Parfait Kouassi, einen Geschäftsmann, der auch als Vizepräsident der ivorischen Handelskammer fungiert. In einem Interview mit dem französischen Medienkanal Le Point erklärte Kouassi, dass „der CNSE vom Staat gegründet wurde … Das Komitee untersteht dem Sportministerium, das seinen Vorsitzenden ernennt. Seine Aktivitäten werden in Teilen durch Sponsorenverträge finanziert und durch einen Beitrag vom Staat oder vom Präsidenten der Republik ergänzt.“ Als die Côte d’Ivoire 2023 Gastgeberin des Africa Cup of Nations war, sang das CNSE häufig Sprechchöre mit den Initialen des amtierenden Präsidenten Alassane Dramane Ouattara: „ADO, ADO, ADO“ und positionierte sich so deutlich als Anhängerschaft einer politischen Persönlichkeit.
Religiöse Handlungen und Darbietungen sind im afrikanischen Fußball leicht zu beobachten. Zum Beispiel gibt es im englischsprachigen Westafrika wie Ghana oder Nigeria häufig Gospelmusik auf den Tribünen. In Ghana etwa wird der an den Fußball angepasste Gospel „jama“ genannt. Die Lieder sind im Grunde Kirchenhymnen, verweltlicht durch den Einsatz von Trommeln, mit denen Kampfgeist und Energie der Spieler angefeuert werden sollen. Jama ist im ghanaischen Leben allgegenwärtig. Alle Ghanaer*innen lernen in der Kirche, zuhause oder in der Schule, zu singen und zu tanzen. Jama vereinigt die Menschen überaus wirksam, nicht nur mit seiner Art, das Team, für das all diese Fans zusammenkommen, zu elektrisieren, sondern auch durch den Gebrauch der verbreitetsten ghanaischen Sprachen Twi, Ga, Ewe und Pidgin in den Liedtexten. Es folgt ein Beispiel aus einem beliebten Jama, der bei Fußballspielen gesungen wird:
Vergesst mich nicht,
Awo mi jole;
auch wenn Ihr jemand besseres seht,
verwerft nie mein Versprechen.
Auch ästhetisch – in ihrem Kleidungsstil – gehören afrikanische Fans zu den ausdrucksstärksten der Fußballwelt. Bei jedem größeren Fußballturnier, etwa dem African Cup of Nations, betonen die Fernsehkommentator*innen die Buntheit der afrikanischen Fans. Westafrikanische Fans kleiden sich besonders kreativ, um ihr Team zu unterstützen. Der African Cup of Nations in Côte d’Ivoire 2023 bot eine besonders interessante Fallstudie hinsichtlich der Kleidung von Fußballfans, da in dem Land so viele verschiedene Bevölkerungsgruppen nebeneinander leben. Bei einem Spaziergang durch den Treichville-Distrikt in Abidjan begegnet man Fußballfans aus dem Senegal, aus Mali, aus Burkina Faso und Guinea. Wenn wir hier die berühmte senegalesische Fangruppe 12ème Gaïndé (12ter Löwe) genauer untersuchen, können wir verschiedene religiöse Symbole und Amulette auf ihrer Kleidung ausmachen. Ein Fan trug eine Halskette mit dem Bildanhänger eines Marabout (spirituelles und religiöses Oberhaupt innerhalb der muslimischen Gemeinde). Der Fan Karim sagte, er habe die Kette auf die Reisen mitgebracht und trüge sie als Glücksbringer – und als Trostspender bei Heimweh. Sich auf Marabouts zu berufen, ist eine verbreitete Praxis in den muslimisch dominierten Ländern Westafrikas, die sogar bis aufs Spielfeld reicht. Eine denkwürdige Überprüfung des senegalesischen Fußballverbands bei der FIFA-Weltmeisterschaft 2002 ergab, dass ein Äquivalent von 140.000 EUR ausgegeben wurde, um „die psychologische Umgebung“ und „sozialen Angelegenheiten“ zu verbessern – Euphemismen für den Einsatz von Marabouts. Vor ihrem Spiel gegen Côte d’Ivoire in Yamoussoukro bot die Gruppe 12ème Gaïndé ein weiteres religiöses Ritual dar: Sie opferten bedürftigen Anwohner*innen Hühner und luden diese rund um ihr Hotel zu einem gemeinsamen Mittagessen mit reichlich poulet yassa ein.
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Das Fan-Dasein im afrikanischen Fußball geht also weit darüber hinaus, eine bloße Reaktion auf das Geschehen auf dem Spielfeld zu sein. Stattdessen handelt es sich häufig um einen tiefgründigen Ausdruck politischer, kultureller und religiöser Inhalte. Fans aus Nord- und Westafrika sind mit vollem Herzen und mit allem, was sie ausmacht, auf den Tribünen präsent. In die Darbietung ihrer sportlichen Verbundenheit lassen sie religiöse Praktiken, politische Loyalitäten und musikalische Traditionen einfließen. Ob ausgefeilte Choreografien mit globaler Botschaft oder Gospelmusik, um den Kampfgeist zu schüren: Das einzigartige Spektakel auf den Tribünen macht dem Unterhaltungswert des eigentlichen Spiels Konkurrenz. Die Darbietungen der Fans zeugen nicht nur von ihrer Leidenschaft für das Spiel, sondern auch von ihrer Verbindung zu größeren gesellschaftlichen Themen. Sie beweisen, dass Fußball – in Afrika – häufig eine starke Plattform für kulturelle Identität und politischen Ausdruck ist.
Aus dem Englischen von Jen Theodor
[1] Saoud l'Oranais, 'Gheniet U.S.M.O' [Side 1], (Polyphon, 1934)
[2] Algerischer Chaâbi (populär) ist ein Genre der Arbeiter*innen-Musik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Kasbah Algiers hervorging. Es war beeinflusst von klassischen berberischen und arabisch-andalusischen Melodien, erlaubte aber auch Improvisation und Interpretation, wobei alte Melodien mit urbaner Lyrik kombiniert wurden. Die Musik wird von einer Band komponiert, die von einem ‚Meister‘ geleitet wird, der die gesellschaftlichen Themen interpretiert und Weisheiten an die Anwesenden vermittelt. Chaâbi-Bands spielen üblicherweise Violine, Gitarre, Oud (Laute) und Darbuka (Kelchtrommel).
Während einem aufgeheizten Spiel gegen ihren Erzrivalen Espérance de Tunis, das mit einem 0-0 endete, zünden Fans des Étoile du Sahel Pyrotechnik im Stade olympique de Sousse in Tunisien, 26 November 2017. Foto: Maher Mezahi
Lutscher landen auf der Laufbahn des Stade 20 Aout vor einem auf die Radrennbahn gemalten „Ultras“-Tag im Hintergrund, Stade 20 Août, Algier, Algerien, 2016. Foto: Maher Mezahi