Ich kenne mich nicht aus mit Utopien.

Ich kenne mich nicht aus mit dem Osten.

Ich kenne mich nicht aus mit Europa.

1.

In meinen Fantasien erscheint Europa in der Rolle einer Frau mittleren Alters, die aufgrund ihrer unglaublichen Naivität auf einen Stier stieg und so entführt wurde. Auf seinem Rücken schwamm sie aufs offene Meer hinaus. Scheinbar leicht fiel ihr der Abschied von ihrem früheren Leben, und sie nahm ihr Schicksal fast emotionslos an. Nur ihre Pose auf dem einen oder anderen Bild deutet auf etwas hin, was einem Kampf ähnelt, doch in Wirklichkeit eine Pose der Erholung ist.

Ich dagegen habe große Veränderungen immer verabscheut und das geschätzt, was bereits in meiner Umgebung existierte.

Auf dem Bild der ukrainischen Künstlerin Kateryna Lisovenko, das den Titel Raub der Europa trägt, schwebt der Körper von Europa über den Hörnern des Stiers. Sie ist beinahe oder tatsächlich gestorben, und nur auf diese Weise wird sie geraubt. Das Meer wird zu einer Kluft, zu einem engen Raum, der droht, Frau und Stier zu verschlingen. Ihr Gesicht ist abgewandt, als ob sie alle persönlichen Züge verloren hätte; es bleibt nur der Körper in der Haltung einer Besiegten.

In vielen Bildern erscheint ihr Gesicht so leer, als könnte sie nicht zu sich selbst vordringen, und nur die unklare Zukunft ist etwas, das diese Leere mit Inhalt füllen soll.

Warum hat sie sich nicht getraut, ins Wasser zu springen, als das Ufer, das sie verlassen hat, noch so nah war? Ich bin überzeugt, sie war eine gute Schwimmerin. Andernfalls hätte sie auf dem Rücken des Stiers große Panik bekommen.

In diesem Gründungsmythos sind Mensch, Stier und Meer miteinander verbunden. Ein Gott ist auch dabei, der alte patriarchale Gott, der oberste von allen, der alles bestimmt und dem Chaos dieser Union eine Richtung und Ordnung verleiht.

Dennoch bleibt eine Unklarheit bezüglich des Ortes. Und gerade diese ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Mythos. Die räumliche Leere des Meers, die Unsicherheit darüber, wohin der Stier schwimmt, beunruhigt. Auf Tizians Bild mit demselben Titel ist nur der Blick des Stiers auf die Betrachter*innen gerichtet und wird zur einzigen Quelle der Stabilität in einer Komposition, in der alle anderen Körper in eine verwirrende Bewegung versetzt sind.

Die Osteuropa – eine Vermutung huscht durch meinen Kopf – würde das alles nicht zulassen. Sie würde eine Richtung vorgeben, selbst wenn der Ausgangspunkt völlig unklar bleiben sollte.

Gleichzeitig ist es schwer, zu entscheiden, ob man in Europa oder außerhalb von Europa lebt. Alles wird verschwommen und unklar, wenn ich versuche, mir die Grenzen von Europa oder Osteuropa vorzustellen.

Europa lässt sich erobern, entführen; sie verschwindet dann wie ein kleiner Punkt im offenen Meer. Ich möchte am Ufer stehen und sie verabschieden. Ich möchte sehen, wie sie wegschwimmt. Der weiße Stier würde mich weniger interessieren. Ihm würde ich keine Beachtung schenken. Allerdings frage ich mich jetzt: Würde er auch Osteuropa verführen wollen? Wie würde Osteuropa die Zeit vor diesem fatalen Treffen mit dem Stier verbringen? Würde sie ebenfalls mit den Gefährtinnen am Strand spielen? Überzeugt antworte ich mir selbst: keinesfalls!

Osteuropa wäre dafür zu ernst. Sie wäre bereits etwas erfahrener, etwas verbitterter als Europa und würde wissen, dass das Spielen an Stränden zu gefährlichen Begegnungen führen kann. Sie wäre viel mehr eingeschüchtert von all ihren früheren Erfahrungen und würde vielleicht überhaupt nicht auf den Stier reagieren.

Andere Version: An diesem Tag würde sie etwas wütend und unzufrieden sein und den Stier vom Strand vertreiben. Das arme Tier – und sei es der Gott selbst – würde ihren etwas gebrochenen, tragikomischen, emotional explosiven Charakter einfach nicht ertragen.

Falls jedoch ein völlig neuer Mythos über das ‚utopische Osteuropa‘ im 20. und 21. Jahrhundert verfasst werden sollte, würde diese alte Geschichte vielleicht überhaupt nicht erwähnt werden. Er würde nicht von Leidenschaft, sondern von Kunst handeln.

Der Mythos würde wahrscheinlich von einer besonderen, ‚guten‘ Kunst erzählen, die nur auf jenem Boden entstehen kann, auf dem sie ihre eigenen Freiheiten erkämpfen muss. Unter dem Druck von wiederkehrender Zensur und Selbstzensur, Korruption und kollektiven Ängsten soll etwas ganz Besonderes, Wichtiges und Starkes entstehen. Etwas, das in einem riesigen Kampf mit den Umständen wie eine wunderschöne Ausnahme begrüßt werden könnte. Ein Kunstwerk, das in der Lage ist, der ganzen Welt Hoffnung zu geben, jedoch zwangsläufig auf einer Ruine platziert ist.

So stelle ich mir diesen Mythos vor. Er ist nur ein wenig zu abstrakt, und im Vergleich zur antiken Erzählung fehlt hier eine menschliche Dimension. Dafür ist das Utopische stärker vertreten. Außerdem neigen die modernen Mythen zu politischen Verallgemeinerungen. Das kann man ihnen endlich verzeihen.

 

2

Ich versuche, die nächsten Gedanken zu fassen, ich will wirklich etwas formulieren. Aber seit einiger Zeit stoßen meine Gedanken auf ein Hindernis.

Vielleicht ist dieses Hindernis meine Vorstellung von Europa – die Vorstellung einer imaginierten Einheit. Ein nicht-geografischer Raum, der durch das Konzept der Menschen- und Nichtmenschenrechte verbunden ist.

Ich befinde mich jedoch in Kyjiw und spüre, wie so eine Idee zu purer Utopie wird. Von den drei Begriffen – Utopie, Osten und Europa – bleibt an diesem Abend nur der Osten übrig. Denn aus ungefähr dieser Richtung kommen jetzt Drohnen auf uns zu.

Zuerst umfasste die rote Zone der Luftangriffe die Region rund um Kyjiw, und die Stadt selbst galt als sicher. Aber jetzt ist die Luftalarm-Sirene deutlich neben meinem Haus zu hören; der Angriff der Shahed-Drohnen auf Kyjiw hat begonnen.

In der vergangenen Nacht griffen Drohnen auch Kyjiw an. Ich verschlief den Luftalarm. Am Morgen ging ich hinaus, um Kaffee zu trinken, nicht weit von meinem Haus. Ich lief mit gesenktem Kopf, wie so häufig, wenn ich arbeite, und achtete nicht besonders auf meine Umgebung. Dann bemerkte ich große und kleine Steine, die neben der Wand eines hundert Jahre alten Gebäudes lagen. Gestern waren sie noch nicht zu sehen gewesen. Ich hob den Kopf, auf der Suche nach Schäden. Es schien, als wäre das Gebäude nur leicht getroffen worden, die Wand war fast intakt geblieben – keine zerstörten Stockwerke, keine ausgebrannten Wohnungen.

Vielleicht waren es gar nicht die Drohnen, sondern etwas anderes, dachte ich mir. Vielleicht ist etwas anderes passiert, und ein Stück Wand aus den oberen Etagen ist auf den Asphalt gefallen. Was könnte passiert sein? Ich versuchte, in meinen Gedanken eine Untersuchung durchzuführen. Mir fiel aber nichts ein.

Die Luftwarnung ist eine Form von Fürsorge. Etwas, das Straßen, Städte, Regionen, alle, die sich in beinahe zwei Jahren des Krieges daran gewöhnt haben, verbindet.

Einige Kyjiwer*innen beschweren sich darüber, dass der Luftalarmkasten, der oft an einem Laternenpfahl hängt, zu nah an ihren Fenstern angebracht ist. In solchen Fällen stört der Alarm das Schlafen und die Hausarbeit erheblich. Vor Kurzem war ein Kyjiwer, der Nachbar meiner Freundin, so aufgebracht über den Versuch, die Sirene in der Nähe seiner Wohnungsfenster anzubringen, dass er den städtischen Diensten drohte, sie mit einer Schreckschusswaffe zu beschießen.

Er war nervös und verzweifelt, die Nachbar*innen unterstützten ihn, die städtischen Dienste kamen ihm entgegen, und das ganze Haus kann weiterhin während nächtlicher Luftalarme schlafen.

Wenn der Alarm erklingt, heißt das, dass jemand möchte, dass alle am Leben bleiben. Dieser Wunsch, wie eine Klangwelle, steht dem Zufall des Todes und seiner Willkür entgegen. Angreifende Drohnen und Raketen bedienen eine Lotterie, bedienen eine Absicht: den Tod zu verursachen, wo immer es gelingt. Meistens ist es egal, wo genau – immer aber irgendwo in meiner Nähe, im Raum meiner Stadt, meines Landes. Es soll etwas verletzt werden, das durch ein gemeinsames Schicksal verbunden ist.

So entstehen Verbindungen, so entstehen imaginäre Gemeinschaften – vermute ich manchmal in solchen Momenten.

Für viele der Menschen, die ich in den letzten Tagen in Kyjiw und Mykolajiw getroffen habe, hat sich der Krieg künstlich in die Vergangenheit zurückversetzt. Über die Sirenen, die jeden Tag ertönen, wird oft in der Vergangenheitsform gesprochen: „Früher reagierte ich verängstigt auf die Sirenen, ich übernachtete in einem Luftschutzkeller, habe mich im Badezimmer und im Flur versteckt.

Immer öfter wird über den Krieg gesprochen, als wäre er in zwei Teile zerfallen: einen ersten, der Schock, Überraschung und Entsetzen verursacht hat. Und diesen anderen laufenden Krieg – über den man am liebsten schweigen möchte – auf alle möglichen Weisen, sei es ironisch, wütend oder mit Tränen in den Augen. Die wichtigsten, treffendsten Worte werden nicht über die großen Ereignisse gesagt, sondern über kleine praktische Dinge, über Details.

 

3

Ich telefoniere wieder und wieder nach Mykolajiw, um die Wasserversorgungssysteme zu erreichen. Endlich sind wir in Kontakt, ich kann kommen, ich bin eingeladen. Eine sehr angenehme Frauenstimme verspricht, dass ich „alles“ mit eigenen Augen sehen werde.

Ab Frühling 2022 floss in den Wasserleitungen von Mykolajiw das salzige Wasser einer neuen, nie zuvor genutzten Wasserquelle. Die Quelle hat man inzwischen wieder gewechselt, weil das Wasser so salzig und trüb war, dass man nach dem Händewaschen die Hände mit einem anderen, extra besorgten Trinkwasser abspülen sollte.

Die Stadt liegt sechzig Kilometer von der Frontlinie entfernt und hatte vor der großen Invasion fünfhunderttausend Einwohner.

Ein Jahr vor dem Krieg besuchte ich Mykolajiw und lernte dort Oleh Maniljuk kennen, der eine Herberge für Kühe aus der gesamten Ukraine organisierte. Bei den Bauern, die ihre Tiere nicht an die Schlachthöfe verkaufen wollten und keine Möglichkeit oder Kraft mehr hatten, eigene Rinder zu halten, kaufte er Kühe und ließ sie auf gemieteten Feldern hinter dem Stadtrand weiden. Als ich ihn 2021 kennenlernte, hatte er bereits über zweihundert Kühe, einige Ziegen und Pferde und finanzierte den großen Haushalt durch Milchverkauf und Spenden.

Seit den ersten Wochen des Krieges beabsichtigte ich, Oleh anzurufen. Aber ich stellte mir immer vor, wie er berichten würde, dass die von ihm geretteten Tiere durch Raketen ums Leben gekommen seien, und ich habe den Anruf immer wieder verschoben. Ich stellte mir die großen traurigen Kuh-Augen vor, wie sich in ihrer glänzenden Tiefe die Raketen oder Granatensplitter spiegeln.

Dann aber, vor meiner Reise nach Mykolajiw, rief ich Oleh an und hörte mit Erstaunen seine optimistische, heitere Stimme. Beinahe triumphierend berichtete er: „Alle haben überlebt! Wir hatten sogar immer genügend Wasser, um den Tieren zu trinken zu geben. Wir haben Brunnen errichtet, um Trinkwasser zu gewinnen. Uns wurde geholfen. Es kamen Spenden, und es kamen immer wieder neue Leute zu uns, die vor Ort halfen. Außerdem sind die Kühe glücklich, die Beschüsse sind ihnen zutiefst egal. Irgendwann im Sommer ist eine Rakete ganz in der Nähe der Herde eingeschlagen. Erst dann wurden sie unzufrieden, aber nicht wirklich. Nur ein wenig. Sie drehten ihre Ohren, einige Kühe muhten, einige haben ihren Platz gewechselt. Aber es gab keine Panik.“

Ich hörte Oleh zu und stellte mir vor, wie die Kühe skeptische und ironische Blicke auf die Rakete warfen und überhaupt nicht reagierten, als sie explodierte. Die Kühe verachten den Krieg und die Invasion.

Ich buche ein Zugticket und fahre mit dem Nachtzug nach Mykolajiw.

Vor meiner Reise war ich besorgt, wie ich den Luftalarm an einem neuen, überhaupt nicht vertrauten Ort erleben würde. Die Beschüsse in Kyjiw schienen mir gewöhnlich und bekannt zu sein. Die in Mykolajiw – fremd und verdächtig. Ich dachte an die Kühe von Oleh und versuchte, mich von allen Befürchtungen zu befreien.

Aus Mykolajiw brachte ich ein Stück Wasserrohr mit, das durch Salz zerstört worden war. Es lag auf meinem Schreibtisch und brachte mich dazu, über die Wasserleitungen nachzudenken. Es wurde von den Arbeitern der Wasserleitungssysteme herausgeschnitten, damit ich einen Beweis des Verbrechens in meinen Händen halten konnte. Seine Form erinnerte mich an eine Königskrone, die verrostet und voller Löcher war.

Alle anderen Beweise, die Fotografien, die ich gemacht hatte, wurden von Olha, die in der Direktion des Wasserwerks arbeitete und mich begleitete, stets mit der Bitte kommentiert, sie erst nach Kriegsende zu veröffentlichen. Einige meiner Entdeckungen könnten – sofern sie veröffentlicht würden – zu weiteren Angriffen und zur Zerstörung der Wasserversorgung von Mykolajiw sowie zu einer ökologischen Katastrophe führen.

Nachdem im April 2022 das Wasser in Mykolajiw erstmals ausblieb, war die Direktion des dortigen Wasserwerks überzeugt, dass die Leitung durch einen Raketenangriff beschädigt worden war. Es wurde eher Zufall vermutet, keine Absicht. Über das Rote Kreuz versuchte die Direktion, mit der Besatzungsarmee zu vereinbaren, dass Mitarbeiter des Wasserwerks in die Grauzone der Kampfhandlungen fahren und die beschädigten Rohre reparieren würden. Mehrmals fuhr ein Reparaturfahrzeug aus, aber jedes Mal wurde es von irgendetwas daran gehindert, die beschädigte Leitung zu erreichen. Plötzliche Beschüsse begannen, eine erhöhte Gefahr von Artillerieangriffen wurde erklärt, und das Fahrzeug musste ergebnislos nach Mykolajiw zurückkehren.

Aber nach der Befreiung von Cherson wurde ein Teil der Wasserleitung zugänglich, und die Wasserwerksdirektion stellte fest, dass es kein zufälliger Raketenangriff gewesen war, sondern eine absichtliche Sprengung der Rohre an vier Stellen. An einer der Stellen wurde eine Kiste mit nicht explodiertem TNT gefunden.

Es handelte sich um sorgfältig geplante Mehrfachsprengungen. Sie sollten die Wasserversorgung einer Halb-Millionen-Stadt unterbinden.

Ich spazierte am Abend durch die leeren Straßen von Mykolajiw. Immer wieder sah ich ältere Menschen, die in Schubkarren oder umgebauten Kinderwagen Trinkwasser transportierten.

Ich möchte etwas über das „Erstaunen“ und die „Demütigung“ in diesem Krieg sagen und wie sie miteinander verbunden sind. Das Erstaunen selbst unterliegt einer Demütigung, wie auch der Glaube, dass die Initiatoren eines so barbarischen Krieges nicht riskieren würden, eine Epidemie auszulösen und eine ganze Stadt bewusst vom Trinkwasser abzuschneiden.

Während meines Interviews wiederholte der Leiter des Wasserwerks die Worte: „Wasser ist zur Waffe in diesem Krieg geworden.“

Viele ukrainische Wasserversorgungssysteme, darunter auch das in Mykolajiw, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet, in den 50er Jahren, so wie auch der zerstörte Staudamm von Kachowka. Der kommunistische Mythos war damals noch lebendig, und der Bau des Kachowka-Staudamms gehörte zu den sogenannten „Großen Bauprojekten des Kommunismus“ – den „Великие стройки коммунизма“. Das Utopische daran bestand nicht nur in der Idee der Kontrolle über die Natur, die in den meisten Fällen die Natur zerstörte. Fast alles, was irgendwann später, im goldenen Zeitalter der UdSSR, zu kommunistischer Harmonie gehören sollte, fehlte im Alltag: Menschenrechte, Gleichberechtigung der Geschlechter, Arbeitsrechte.

Das Utopische, Träumerische und Widersprüchliche dieser Idee spiegelt sich im einzigartigen industriellen Design wider, das ich in Mykolajiw dokumentiert habe, wissend, dass viele dieser Aufnahmen derzeit nicht gezeigt werden können.

 

4

Heute ist der erste kalte Tag vor dem kommenden Winter. Es ist der 19. November, draußen herrschen Minusgrade, aber es liegt noch kein Schnee. Meine Freundin, eine Keramikerin, schreibt mir im Chat, dass sie seit einigen Nächten nicht mehr schlafen kann. Sie erwartet, dass die Infrastruktur in Kyjiw erneut vor dem Einsetzen der Kälte zerstört wird.

Ihr Keramikbrennofen wird dann, wie schon im Jahr zuvor, nicht mehr funktionieren. Sie versucht, alle ihre Keramikarbeiten rechtzeitig zu brennen, als würde der Krieg ihr und ihrer Arbeit ständig auf den Fersen sein. Jederzeit, meint sie, könnte es losgehen mit den Massenstromausfällen. Ich möchte ihr widersprechen, kann jedoch nicht erklären, warum die Infrastruktur diesmal nicht zerstört werden sollte. Die Vorstellung, dass Russland diesmal anders entscheiden könnte, scheint zu schwach und sogar zu zynisch, wenn man sie ausspricht. Verbittert sagt meine Freundin: „Sie werden es bestimmt tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir diesen Winter mit Heizung und Strom überstehen werden.“ Ich stimme ihr zu, hoffe jedoch im Stillen, dass so etwas nicht mehr passieren wird – und protestiere sofort gegen meine eigene Gutgläubigkeit.

Ich habe diese Rede mit einem Klischee begonnen, einem Mythos, weil die Gedanken, die ständig durch meinen Kopf huschten, zu pathetisch und zu hermetisch waren: „Die Idee von Europa ist in Gefahr!“ „Wir haben bereits etwas sehr Zerstörerisches zugelassen, und jetzt müssen wir mit den Folgen rechnen.“

Ich selbst zweifle an den prophetischen Ambitionen solcher Warnungen. Und ich weiß immer noch nicht, was Europa ist, geschweige denn Osteuropa. Der ukrainische Künstler Nikita Kadan nannte einen seiner Texte, die vor der großen Invasion geschrieben wurden, „Die Knochen haben sich vermischt“. In diesem Text, der wie ein Manifest klingt, schreibt er über die Henker und Opfer von Babi Yar und über die sowjetische Repressionsmaschine. Später sah ich in seinen grafischen Arbeiten Knochen, die sich miteinander verbanden, Symbiosen mit Pflanzen und Steinen bildeten.

Die Knochen werden sich vermischen – an diese Prophezeiung glaube ich, auch wenn sie utopisch ist.

Dennoch, zum Abschluss meiner Rede finde ich keine optimistischen Worte.

Das Einzige, was ich plötzlich begreife, ist, dass ich mich nicht ganz vom utopischen Denken, von absurdem Hoffen und dem damit verbundenen Pragmatismus verabschieden möchte. Die Rettung des Wasserversorgungssystems angesichts zerstörerischer Kriegshandlungen, die Rettung der Stadt – sie braucht anscheinend einen solchen Pragmatismus. Vielleicht wird gerade er den Krieg stoppen, den rechten Populismus stoppen, die Anti-Utopie stoppen, die droht, unser Alltag zu werden.

Yevgenia Belorusets, aus dem Kriegstagebuch Oblast Mykolajiw, 2023

  

Yevgenia Belorusets, aus dem Kriegstagebuch Oblast Mykolajiw, 2023

  

Yevgenia Belorusets, aus dem Kriegstagebuch Oblast Mykolajiw, 2023

  

Yevgenia Belorusets, aus dem Kriegstagebuch Oblast Mykolajiw, 2023

  

Yevgenia Belorusets, aus dem Kriegstagebuch Oblast Mykolajiw, 2023

Alle Fotos: Yevgenia Belorusets, aus dem Kriegstagebuch Oblast Mykolajiw, 2023