Lectures, Soundperformances

Radiophones Funkkolleg I: Das Algorithmische Ohr

Mit Wolfgang Ernst, Flora Lysen, Beatriz Ferreyra und Stefan Maier

Do 1.11.2018
Auditorium
19.30–21.30h
Eintritt frei
Auf Deutsch/Englisch mit Simultanübersetzung in die jeweils andere Sprache

Das Hören hat sich im 20. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Begrenzungen des technisch vermittelten Klangs entwickelt. Doch seit Beginn der Digitalisierung lösen sich die ursprünglichen Bedingungen dieser „Radiophonie“ auf. Der Umbruch ermöglicht neue Perspektiven auf die Technik und Technologie des Hörens: Welche Wege suchen sich Algorithmen im radiophonen Raum? Wie verknüpften und verknüpfen sich unsere Hörgewohnheiten mit den Apparaten, über die wir Geräusche empfangen und senden? Welche Wissensbereiche eröffnen und verschließen sich im Zuge übertragungstechnischer Umbrüche? Was hören Maschinen?

Der Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst leitet das Radiophone Funkkolleg mit einem Plädoyer für das Algorithmische Ohr ein, dem ungewohnte ebenso wie maßgeschneiderte Klangangebote zu Gehör gebracht werden. Die Kunsthistorikerin Flora Lysen untersucht die Anfänge der Radiophonie an den Grenzgebieten zwischen Radio- und Gehirnforschung. Die Musikerin Beatriz Ferreyra spielt in ihrer Performance mit den Gewohnheiten des übertragungsgewohnten Ohrs, indem sie die Trennlinien zwischen Körper und Studioapparatur auflöst. Der Musiker Stefan Maier übergibt seine Kompositionen einem Algorithmus und nähert sich so dem Hören der Maschinen an.

Wolfgang Ernst: Stimmgedächtnis und das algorithmische Ohr
Die Epoche des klassischen Rundfunks neigt sich dem Ende zu. Die Digitalisierung ermöglicht neue Technologien der Übertragung; artifizielle Sprecher*innen verunsichern das phonozentrische Vertrauen in die Präsenz der Radiostimme. Dieser melancholische Moment birgt eine Chance: Radio, die ephemere Sendeform par excellence, wird als medienarchäologischer Erkenntnisgegenstand erst wirklich hörbar im Moment seines Verschwindens als Massenmedium. Das radiophone Gedächtnis ist auch das seiner Apparate – von „His Master’s Voice“ (Grammophon) bis zu den Interferenzen in Tonbandmitschnitten von Maria Callas’ Arien. Nun sind es Algorithmen, die neue Erschließungen des radiophonen Archivs gestatten: ein Plädoyer für das computerbasierte, radikal medienarchäologische Gehör.

Beatriz Ferreyra: Not Looking at Sound
Akusmatik bezeichnet eine Musik, deren Quelle nicht sichtbar ist. Der Begriff geht auf Pythagoras zurück, der einen Vorhang zwischen sich und seine Schüler spannen ließ, um das Zuhören vor visuellen Ablenkungen zu schützen. Beatriz Ferreyra greift auf ihre langjährige Zusammenarbeit mit Pierre Schaeffer zurück, um die Möglichkeiten akusmatischer Musik und deren Verhältnis zur Radiophonie zu untersuchen.

Flora Lysen: Brainwave Broadcasting and the “Radio Sense”
1925 berichtete eine Zeitung in Oregon von einem Radio, das ein menschliches Gehirn „gehört“ habe. Dahinter stand die Vorstellung von einer Frequenz, über die Maschinen ebenso wie Körper und Gehirne senden und empfangen könnten. Diese Vorstellung ermöglichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Diskurs über Gehirn-Radios und Radio-Gehirne. Gleichzeitig wurden diese „Äther“-Fantasien von den Entwicklungen auf dem Gebiet der Enzephalografie beeinflusst. Flora Lysen analysiert historische Beispiele für Verflechtungen zwischen Hirnforschung und Radio(wellen)forschung und beschreibt den hybriden Raum, in dem sich diese jungen Wissenschaften entwickelten. Sie berichtet von Neurophysiolog*innen, die in Radiosendungen über elektrische Körper sprechen, Nervenbahnmessungen, die als „Gehirnwellen“ übertragen werden; und Wissenschaftsjournalist*innen, die über die zerebralen Grundlagen menschlicher „Empfänglichkeit“ spekulieren.

Stefan Maier: The Arranger
Künstliche Intelligenz kann nicht nur mittels linearer Signalverarbeitung „hören“; basierend auf statistischen Modellierungen kann sie auch aktiv „zuhören“. Das Aufkommen solcher künstlichen Zuhörer zeigt einerseits, dass das Zuhören keine genuin menschliche Fähigkeit ist, und deutet andererseits an, dass sich das maschinelle beträchtlich vom menschlichen Zuhören unterscheidet. Die konkrete Erfahrung dieses anderen Hörens scheint fürs menschliche Ohr unerreichbar. Stefan Maiers Beitrag gibt Einblicke in die Vorgänge maschinellen Hörens. Spezifisch trainierte „Zuhörmaschinen“ generieren neue und unvorhersehbare Stücke aus einer musikalischen Komposition. Diese Arrangements werden parallel zu Maiers ursprünglicher Komposition und über ein Kopfhörersystem übertragen, sodass ein Dialog entsteht, in dem die Zuhörer*innen das Zusammenspiel von menschlicher und maschineller Komposition studieren können.

Teil von Der Ohrenmensch