Biografien der teilnehmenden Künstler*innen

Astronauta Pinguim, © Ramiro Pissetti

Den weitesten Anreiseweg zu Lifelines hat Fabrício Carvalho. Nachdem er in seiner südbrasilianischen Heimatstadt Porto Alegre in verschiedenen Bands gedient hatte, begann er 2000 mit einem Gerätepark aus historischen Synthesizern unter dem Namen Astronauta Pinguim zu experimentieren. Unverkennbar dient ihm die pulsierende Maschinenmusik aus dem Westdeutschland der 1970er Jahre als Leitstern: Sein jüngstes Album trägt den Namen „Zeitgeist/Propaganda“. Mit dem dem Silver-Apples-Sänger Simeon Coxe III nahm er die 7“ „Automatic/Here She Comes, There She Goes“ auf. Gleichzeitig ist Astronauta Pinguim ein Forscher in Sachen früher Electronica: Seine Fundstücke und Interviews präsentiert er in einem Blog und der wöchentlich in Brasilien und Portugal ausgestrahlten Oscillations Radio Show.

Carolin Brandl, © Tobias Bartl

Carolin Brandl, ursprünglich vom Tanz kommend, arbeitet heute im Bereich Film. Ihre Arbeiten, dem Genre Dokumentarfilm zugeordnet, werden auch im Kunstkontext gezeigt. Für ihre filmisch-künstlerische Arbeit wurde Brandl mit einem von der deutschen Börse gestifteten Jahreskunstpreis ausgezeichnet. Parallel zu ihren Projekten als Filmregisseurin, arbeitet sie seit mehreren Jahren regelmäßig in künstlerischen Kooperationen mit Choreographen und (elektronischen) Musikern. „Unfinfinished Portrait of Roedelius Today“ ist bereits ihr drittes gemeinsames Projekt mit Hanno Leichtmann. Im HKW zeigt Carolin Brandl eine konzeptuelle Videoarbeit, in der sie, wie Leichtmann, mit Loops arbeitet und sich auf die Songtitel von Roedelius bezieht. Die filmische Arbeit oszilliert zwischen Text und Bild, so dass sich immer neue Bezüge zu Leichtmanns Soundinstallation und zum Werk von H.-J. Roedelius herstellen lassen.

Caramusa, © Pascal Dolemiuex

Um die traditionelle korsische Musik vor dem Vergessen zu bewahren, gründeten die Brüder Jean-Jacques und Christian Andreani 1984 die Forschungsorganisation E Cetera und das Ensemble Caramusa. Die Andreanis bereisten die ganze Insel, lernten die überlieferten Melodien und das Spiel der traditionellen Instrumente. Der Bandname verweist auf eines davon: die korsische Version des Dudelsacks. Hinzu kommen Pfeifen und Flöten (Pirula oder Pifana), Perkussion, Maultrommel, das polyphone Akkordeon Urganettu und die Cetera, eine 16-saitige Zither. Mit den Stimmen vereint ergeben sie einen rauen, polyphonen Klang, den Caramusa auf zahlreichen Festivals und bisher vier CDs zu Gehör gebracht haben.

Chor der Kulturen der Welt

Der 2007 gegründete Chor der Kulturen der Welt ist ein vielstimmiges Mehrzweckwerkzeug: Diesseits und jenseits des temperierten Tonsystems interpretieren seine Mitglieder unter der Leitung von Barbara Morgenstern und Phillipp Neumann Popsongs, Traditionelles und zeitgenössische Kompositionen. Schon 2007 traten sie mit Harmonia bei deren legendärer Reunion im HKW auf. Für Lifelines studieren sie eine Uraufführung einer Kantate von Hans-Joachim Roedelius' Urahn Johann Christoph ein.

Christopher Chaplin, © C. Chaplin

Zu den unwahrscheinlichsten und zugleich typischen Kollaborationen zählt die Begegnung zwischen Hans-Joachim Roedelius und Charlie Chaplins jüngstem Sohn Christopher Chaplin. Zunächst folgte dieser seinem berühmten Vater in den Beruf des Schauspielers, seit einigen Jahren ist er auch als Pianist und Komponist tätig. 2010 erschien auf Fabrique Records „Seven Echoes“, eine elektro-akustische Kooperation mit dem Wiener Klangkünstler Thomas Pötz alias Kava. Und in Wien, bei einem Konzert in der psychiatrischen Anstalt „Gugging“, trafen Roedelius und Chaplin erstmals aufeinander. Es folgte Chaplins Remix von Roedelius' Beitrag zur BBC-Reihe „Late Night Junction“, gemeinsame Auftritte und das Album „King of Hearts“.

Lloyd Cole , © Kim Frank

Der Singer-Songwriter Lloyd Cole begann seine Karriere als Frontmann der Commotions, einer zwischen Blue Eyed Soul, Folk und Pop navigierenden Band, der eine kurze aber stürmische Karriere beschieden war. Cole schlug sich fortan solo und mit der noch kurzlebigeren US-Band The Negatives durch, bevor das Hamburger Label Tapete Records ihn mit einer ausführlichen Werkschau würdigte. Bereits 2001 hatte Cole mit dem Album „Plastic Wood“ elektronische Wege beschritten, von denen Roedelius spontan und unaufgefordert Remixe anfertigte. Auf dem 2013 bei Bureau B veröffentlichten Album „Selected Studies Vol. 1“ setzen die beiden ihre Zusammenarbeit fort. Diese ist – wie die Nummerierung nahelegt – noch lange nicht abgeschlossen und wird am HKW live erprobt.

Brian Eno, © Mary Evers

Wie kein zweiter Name steht der von Brian Eno für die Entwicklung und Definition des Begriffs „Ambient“: Verflüssigte Klänge in der Tradition Erik Saties, die in der technologisierten Noosphäre das beruhigende Grundrauschen der Natur ersetzen. Der ehemalige Roxy-Music-Keyboarder hat weit über die Grenzen der Musik hinaus in der Populärkultur seine Spuren hinterlassen, das Gender- wie das Pitch-bending in der Popmusik etabliert und in vielen intersdisziplinären Bereichen zwischen Zen-Buddhismus, Musiktheorie, audiovisueller Kunst und Software-Entwicklung Neuland erschlossen. Seine Besuche bei Moebius & Roedelius im Weserbergland gelten heute als prägende Station auf seinem verschlungen Weg.

E S B, © Yann Dupuis

ARPs gleiten, Korgs dro(eh)nen, Moogs blubbern: Zehn Tage haben sich die drei Musiker Thomas Poli, Lionel Laquerrière und der Komponist und Multiinstrumentalist Yann Tiersen in dessen Studio eingeschlossen, ein jeder wählte seine analog-synthetischen Waffen, und dann ging es los: ungeprobt, intuitiv und unter dem Einfluss eines Kanons von Kraftwerk und Delia Derbyshire bis zu Tim Hecker, Grouper, Neu!, Popol Vuh … und Roedelius. Der Session war eine Reihe von Live-Auftritten vorausgegangen. Als die Aufnahmelampe rot aufleuchtete, war das Ergebnis zwar ungewiss, doch E S B (Elektrische Staubband) wussten genau, was sie taten. Davon darf man sich ab diesem Herbst auf dem auf Bureau B erschienen Debüt-Album überzeugen oder auf der Bühne des HKW.

Richard Fearless, © Promo

Schon mit seiner Band Death in Vegas erforschte Richard Fearless düstere Klangsphären; schwere Bässe und atonale Geräusche haben ihn bis heute nicht losgelassen. Nicht zufällig hat er sein Label programmatisch Drone getauft, und selbst wenn untenrum die Bassdrum stampft, tragen die darüber dräuenden Harmonien die Handschrift eines Roedelius-Kenners. Bis heute stammen die Primärfarben von Richard Fearless' Klangpalette aus den Synth-Klassikern Korg MS-20, dem Roland SH-09 und der kanonischen Roland-Familie 303, 808 und 909.

Arnold Kasar, © Marcus Witte

Zwischen Nu Jazz und Electronica fühlt sich der aus dem Südschwarzwald stammende Pianist, Produzent und Sound Engineer Arnold Kasar zu Hause. Kasar stellte seine Klangkünste in den Dienst einer Vielzahl von Bands aus dem Sonarkollektiv-Umfeld wie Micatone und Nylon und zimmerte die musikalische Bühne für den spätberufenen Hipster Friedrich Liechtenstein. 2012 veröffentlichte er sein erstes Soloalbum „The Piano Has Been Smoking“. Darauf erneuerte er seine Beziehung zum vernachlässigten Instrument seiner Kindheit: dem Klavier. Eine Beziehung, die er mit dem Nachfolger „Walk On“ orchestral – und singend! – vertiefte und nun im Duett mit Hans-Joachim Roedelius zum Viereck erweitert.

Peter Kruder , © Lukas Gansterer 2013

Der Wiener Künstler, Produzent und DJ Peter Kruder ist eine legendäre Figur/Lichtgestalt der elektronischen Musik. Mit Richard Dorfmeister bildete er Kruder und Dorfmeister; die Releases „G-Stoned“ (G-Stone, 1994), „DJ Kicks“ und „The K&D Sessions“ (!K7, 1996 und 1998) gelten als bahnbrechend für das Genre. Parallel dazu verfolgte Kruder stets auch Soloprojekte: 1999 veröffentlichte er sein Debütalbum „Peace Orchestra“. Er machte Remixe für Bebel Gilberto, Fauna Flash und viele andere. 2001 startete er das Voom Voom Projekt mit Fauna Flash (Christian Prommer und Roland Appel). Er veröffentlichte Singles auf Labels wie Gigolo Records, Macro, 2DIY4 und dem Compost Black Label. Seit den frühen 1990er Jahren ist er als DJ unterwegs.

Lukas Lauermann, © Rosa Fuerpass

Lukas Lauermann ist Cellist, Komponist, Künstler und ein musikalischer Feingeist der Wiener Szene. Er ist Musiker bei den Bands Donauwellenreiter und A Life, A Song, A Cigarette, bei Soap&Skin und The Twentieth Century. Neben seinen Soloprojekten kollaborierte er u.a. mit Ritornell, Mimu Merz und Der Nino aus Wien. Als Theater- und Performancemusiker arbeitete er mit Gelatin, Bree Zucker, Salvatore Viviano und Bruno Galindo. Studiert hat Lauermann an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und der Anton Bruckner Privatuniversität Linz. 2014 erhielt Lauermann das Startstipendium des BMUKK für Komposition.

Hanno Leichtmann, © Stini Roehrs

Zuhause im weiten Feld zwischen improvisierter Echtzeit- und digitaler Clubmusik, ist Hanno Leichtmann ein echtes Gewächs der anarchischen Berliner Neunzigerjahre. Er veröffentlichte Soloalben unter dem Namen Static und Vulva String Quartett, musizierte in Projekten wie Pole and Band, Denseland und White Hole, komponierte Bühnenmusik für Sasha Waltz, Filmmusik für Christoph Schlingensief und bekannte sich als Schlagzeuger des Trios Groupshow (mit Andrew Pekler und Jan Jelinek) ausdrücklich zum Kraut. Seine Installation für Lifelines knüpft formal an Arbeiten wie "Minimal Studies"(2013) und „Unfinished Portrait of Youth Today“ (2015) an: Aus Roedelius' Gesamtwerk herausdestillierte Loops und Sounds werden von mehreren Klangspeichern auf vier Soundsystemen abgespielt. Ergänzt um die Videobilder von Carolin Brandl entstehen so jeden Abend neue, aleatorische Roedelius-"Variations". Vor wenigen Tagen wurde Leichtmann auch vom Darmstädter IMD beauftragt, das gerade neu eröffnete Gesamtarchiv des IMD bei den Ferienkursen 2016 zu einer Installation zu transformieren.

Christoph H. Müller, © Alexander Gonzales

Mit dem Novelty-Wave-Hit „Muhammar“ seiner damaligen Formation „Touch El Arab“ hat Christoph H. Müller eine prächtige Synthie-Pop-Leiche im Keller. Und auch weiterhin hat der Schweizer sich auf eigenwillige Weise in außereuropäische Musikkulturen hineingefühlt: Mit „The Boyz From Brazil“ produzierte er „Hot Stuff“ für den Dancefloor, bevor sie 1999 zum gesetzteren Gotan Project mutierten und breitenwirksam den Tango elektrifizierten. Dabei arbeiteten sie auf raffinierte Weise wieder mit Sampler und Drummachines, aber kollaborierten auch mit leibhaftigen Koryphäen wie Gustavo Beytelmann und Nini Flores. Müllers Hang zum Anagramm führt uns direkt zum heutigen Duo-Programm „Imagori“.

Qluster (v.l.n.r.: Onnen Bock, Hans-Joachim Roedelius, Armin Metz) , © Stefan Maria Rother

Kluster mit K, Cluster mit C, nun sind wir bei Qluster. Immer wenn Hans-Joachim Roedelius' große musikalische Liebe, die 1968 in Berlin mit Conrad Schnitzler und dem kürzlich verstorbenen Dieter Moebius begann, einen Personalwechsel mitmachte, schlug sich dies in einer Variation der Schreibweise nieder. Das C musste weg, als Schnitzler ging und Kluster als Duo weiterschwebten, Richtung Harmonia, Conny Plank und Brian Eno. Als Moebius nach mehr als 30 Jahren ging, war das Q fällig. Hinzu kam der Klangkünstler und einstige Tonmeister der Berliner Philharmoniker Onnen Bock. In dieser Besetzung veröffentlichte Qluster 2011 die Trilogie „Rufen.“ „Fragen.“ „Antworten“. Das Lifelines-Konzert, bei dem Bock und Roedelius gemeinsam mit Armin Metz die drei Pianos betätigen, bietet einen Ausblick auf das kommende Album „Tasten“.

Hans-Joachim Roedelius, © Alexander Gonzales

1934 in Berlin-Steglitz geboren, war Hans-Joachim Roedelius in jungen Jahren UFA-Kinderstar, Flüchtling, Krankenpfleger und Sterbebegleiter, Detektiv, Butler, Chauffeur und Masseur. Sein Weg führte ihn durch beide Deutschlands bis nach Korsika – dabei blieb er immer in Kontakt mit der Welt der Musik. Als diese im Westdeutschland der End-1960er Jahre mit der bildenden Kunst zwischen Fluxus und Bewusstseinserweiterung Funken schlug, war Roedelius mit seinen Bands Cluster und Harmonia dabei. Sie galten bald als herausragende Vertreter des bundesdeutschen Progressive Rock, den britische Journalisten zärtlich „Krautrock“ tauften. Dabei waren Roedelius' Beiträge weder martialisch noch verkopft: Sein Markenzeichen wurden zen-garten-artige Klanglandschaften, meist erzeugt mit Klavier und Synthesizer. Seitdem hat er unermüdlich produziert – Solo-Arbeiten ebenso wie Kollaborationen, außerdem Installationen, Klangskulpturen, Film- und Bühnenmusik. Er lebt und arbeitet unermüdlich in Baden bei Wien und kehrt regelmäßig nach Korsika zurück.

Tempus Transit, © Promo

Unter dem Namen Palindrome Hotel revitalisieren Albin Paulus und Stephan Steiner die europäische Tradition der Bordunmusik. Die von der europäischen Kunstmusik hinweggefegte Spiel- und Liedweisen stellen sie u. a. in dem Programm „Hotel Haydn“ auch in globale und postmoderne Kontexte. Wenn sie als Tempus Transit mit Heidelinde Graz und Roedelius musizieren, verlassen sie die Welt der Rekonstruktion und setzen zum Keyboard-Spiel mit ihrem Obertongesang und Jodeln oder auf Instrumenten wie Dudelsack, Nyckelharfe, Geige, Akkordeon, Schalmei und Klarinette einen mittelalterlichen Kontrapunkt.

Hans-Joachim Roedelius und Stefan Schneider , © Peter Stumpf

Stefan Schneider
Zur Biografie...

Tim Story, © Lee Ring

Zwar kommt Tim Story aus Detroit, Michigan, doch sein Herz schlägt hörbar für die europäische Avantgarde. Und so waren es europäische Labels wie Atem und Uniton Records, die Anfang der 1980er Jahre zuerst auf seine „21st Century Chamber Musique“ aufmerksam wurden: dunkle, melodische Ambient-Miniaturen – zumeist, aber nicht nur, mithilfe von Synthesizern und Piano erzeugt. 25 Alben tragen heute seinen Namen, dazu kommen zahlreiche Beiträge zu Compilations und Soundtracks, u. a. für den Dokumentarfilm „Caravan“ (2005). Seine Bekanntschaft mit Roedelius geht auf einen Fan-Brief zurück. Seitdem entstanden neben zahlreichen Konzerten fünf gemeinsame Alben. Beim Cluster-Album „Qua“ (2009) fungierte er als Produzent.