An einem jener grauen Nachmittage, derer es viele in Berlin gibt, treffen wir uns auf einen Tee in der Spore Initiative in Neukölln. Da viele öffentlich geförderte Institutionen ihre Räume nicht (mehr) für Diskussionen über Themen, die uns wichtig sind, zur Verfügung stellen, findet dieser Austausch nun oft hier statt. Die von einer privaten Stiftung geförderte Initiative arbeitet mit Indigenen Partner*innen zusammen, um deren Wissen über biokulturelle Vielfalt und Formen des Zusammenlebens vorzustellen. Und sie schafft einen Raum für diasporische Communitys, die auf unterschiedliche Weisen von der Verdrängung von Perspektiven und Praktiken betroffen sind. Spore bietet diesen Communitys in Berlin die Möglichkeit, sich zu versammeln und zu besprechen. Wir nehmen diesen Ort als Ausgangspunkt, um uns darüber auszutauschen, was ‚Heimat‘ und ‚be-heimat-en‘ für uns bedeutet.
Wir sind beide nicht in Deutschland aufgewachsen, sondern an sehr vielen unterschiedlichen Orten. ‚Heimat‘ gehört als Begriff und Konzept daher nicht zu unserem aktiven Wortschatz und nicht zu unserem relevanten Erfahrungswissen. In Berlin leben wir aber beide schon sehr lange, haben hier Familien gegründet und uns beruflich etabliert. Wird ‚Heimat‘ für uns erst zum Thema, nachdem sie prekär geworden ist, auch wenn wir unsere Kindheit und Jugend gut ohne sie ausgekommen sind? Womit verbinden wir ‚Heimat‘, und welche Bedingungen tragen dazu bei, dass wir uns über ‚Heimat‘ keine Gedanken machen müssen? Über diese Fragen denken wir gemeinsam nach.
Iris: Meine erste Assoziation mit dem Begriff „Heimat“ ist eher negativer Natur. Ich verbinde damit zunächst Abgrenzung, Ausschluss und Abschottung sowie eine essentialisierende Vorstellung von Zugehörigkeit. Im deutschen Kontext fallen mir dazu Worte wie „Leitkultur“ und „Heimatschutz“ ein. Es ist für mich ein Begriff, der sehr nach innen gerichtet ist und viel Gewalt beinhaltet beziehungsweise gewaltvoll verwendet werden kann.
Ich finde es in diesem Zusammenhang interessant, dass es im Englischen keine wortgetreue Übersetzung des Begriffs gibt. Hier werden Hilfsbegriffe wie belonging, heritage oder auch home verwendet. Die Bedeutungen, die sich darin verbergen, treffen es meines Erachtens nicht wirklich, und gleichzeitig tragen die Begriffe für mich eine positivere Konnotation. Für mich persönlich gab es dieses ‚Heimat‘ im eigentlichen Sinne nie. Das Gefühl von Zugehörigkeit, Community, Wohlbefinden, Wärme und Sicherheit gibt es aber immer wieder und in unterschiedlichen Konstellationen. Das ist sicherlich meiner Familiengeschichte und Biografie geschuldet und der Tatsache, dass ich als Kind sehr oft auch international umgezogen bin, und meine Familie geografisch weit verstreut ist (unter anderem in Malaysia, Kanada, Australien, England, Tamil Eelam).
Wenn ich das Wort „Heimat“ verwenden müsste, dann eher gerahmt, wie in „be-heimat-et sein“. Ich kann mit der Frage, wo ich mich be-heimat-et fühle, ein wenig mehr anfangen. Dieses Wort transportiert eher das Gefühl von belonging, also von Zugehörigkeit. Für dieses Gefühl stehen für mich seit einer ganzen Weile meine Communitys und meine Familie, und zwar auch meine Wahlfamilie (wobei es selbstverständlich Überschneidungen zwischen Communitys und Familie gibt). Und es ist vor allem nicht an ein bestimmtes Territorium, geschweige denn eine Nation gebunden.
Ich merke allerdings zunehmend, dass dies allein in den heutigen Zeiten nicht mehr ganz reicht, beziehungsweise das Gefühl der Entfremdung, der Unsicherheit und auch der Angst bei mir und uns (trotz Community und Familie) immer größer wird. Eine Identifikation im Sinne von ‚Heimat‘ habe ich mit Deutschland nicht und hatte dies nie. Gegebenenfalls zu Neukölln, wo ich nun seit über zwanzig Jahren lebe, aber auch nur bis zu einem gewissen Grad.
Aber auch wenn der ‚Heimat‘-Begriff je nach geografisch-politischen Zusammenhängen etwas sehr Gefährliches bergen kann, ist er insbesondere im Kontext von Vertreibung, Enteignung, Diaspora und tatsächlichem Land ein wichtiger Anhaltspunkt, den ich nicht einfach so abweisen wollen würde. Dabei verstehe ich ‚Heimat‘ nicht im Sinne von Abschottung, Ein- und Abgrenzung oder Essentialisierung, sondern mit Bezug auf die eigene Souveränität als Mensch und Gruppe, das Recht auf Unversehrtheit und die Möglichkeit sich zu entfalten. Der Begriff ist hier im Kontext von antikolonialen Widerständen zu denken, der Wiedererlangung dessen, was gewaltsam genommen wurde, und dem Entgegenwirken von Negierung, Auslöschung, Unsichtbarmachung und displacement auf unterschiedlichen Ebenen.
Ich sehe meine Haltung und meine Verbindung zum ‚Heimat‘-Begriff in diesem Rahmen also in gewissem Sinne auch als Privileg. Denn mit meinem deutschen Pass kann ich mir (zumindest im Moment) sicher sein, dass Staatenlosigkeit mir nicht droht und ich und meine Familie – sollten wir gezwungen sein, dieses Land zu verlassen – viele Möglichkeiten hätten, an einem anderen Ort zu leben.
Iman: ‚Heimat‘ gab es auch in unserem familiären Zusammenhang und, soweit ich mich erinnere, darüber hinaus in sozialen und gesellschaftlichen Kontexten nicht, jedenfalls nicht so, wie der Begriff im Deutschen verwendet wird. In der arabischen Sprache würde ich am ehesten das Wort „Watan“ in die Nähe von etwas bringen, das Zugehörigkeit zu Menschen bedeutet, die ich gar nicht kenne, und zu einem Ort, der über meinen persönlichen räumlichen Radius hinausreicht und entsprechende Gefühle mobilisiert. In Marokko etwa ist überall der Dreiklang Allah-Watan-Malek zu lesen: Gott-Nation-König. „Watan“ mit „Nation“ zu übersetzen ruft aber deutsche und andere imperiale Bedeutungen auf, die nicht so einfach übertragen werden können. Nation als Bezugspunkt und Widerstandsstrategie, um koloniale Herrschaft und Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung zurückzudrängen, kommt hier eine andere, verschobene Bedeutung zu. Michel Foucaults Studien zur produktiven Macht fallen mir dazu ein, seine Ausführungen zur Formierung einer positiven Identität über gemeinsame Erfahrungen von Gewalt und Widerstand. Darunter können all die Kämpfe sozialer Bewegungen subsumiert werden, die sich formieren, um patriarchalen, kolonialen, kapitalistischen Gewaltverhältnissen zu widerstehen: sich davon zu erholen und sich ihnen zu entziehen, die gemeinsame Situation zu reflektieren und zu bearbeiten, ihr etwas entgegenzusetzen und sie zu bekämpfen. Soziale Bewegungen antworten, indem sie sich entlang der gemeinsamen Erfahrung verbünden. Stuart Hall hat das in seinen Texten zu Rassismus und kultureller Identität sehr differenziert ausgeführt. Er beschreibt, wie sich Menschen zu Communitys zusammenschließen, um gemeinsamen Erfahrungen von Rassismus und Kolonialismus begegnen, sich positiv identifizieren und handlungsfähig werden zu können. Er analysiert auch die Fallstricke und Gefahren, wenn im Zuge dessen ebenfalls essentialisiert und naturalisiert wird oder die Konstruktion von Widerstand auf Dauer gestellt wird. Und mir fällt natürlich Frantz Fanons antikoloniale Schrift Die Verdammten dieser Erde ein. Er ruft die Algerier*innen dazu auf, sich als Nation zu formieren, um der französischen Kolonialmacht wirksam begegnen zu können, sich nicht vereinnahmen und spalten zu lassen, sondern gemeinsam für die Befreiung zu kämpfen. Auch Fanon versteht – ähnlich wie Hall – darunter ein politisches Bündnis und nicht eine natürliche und dauerhafte Entität. „Watan“ ist also nicht mit der deutschen Bedeutung von „Nation“ zu übersetzen und auch nicht als Übernahme des europäischen Nationalismus zu verstehen. Koloniale Gewalt hängt eng mit den europäischen Nationsgründungsprozessen zusammen und setzt zentral auf identitätsstiftenden und ausbeutenden Rassismus, organisiert und vereindeutigt Geschlechterverhältnisse und verfolgt kapitalistische Interessen. Auch für die sich im Zuge des antikolonialen Widerstands bildenden Nationen besteht die Gefahr – und das ist ja auch historisch eingetreten –, dass der nationale Widerstand in eine staatliche Struktur überführt wird, die neue Widersprüche und Gewaltverhältnisse hervorbringt.
Ein anderer, komplementärer Begriff zu ‚Heimat‘, den ich ebenfalls erst in Deutschland lernte, ist der Begriff „Migration“. Als Familie sind wir ständig umgezogen, aber eben umgezogen und nicht migriert, und wir haben uns nie als Migrant*innen oder Flüchtlinge/Geflüchtete bezeichnet, obwohl unter den Gründen umzuziehen, die Erfahrung von Einengung, Verfolgung und Krieg eine Rolle spielte. Wir zogen weiter, wenn die Umstände es erforderten oder unser Leben bedrohten oder die Pläne meiner Familie behinderten – aus ganz unterschiedlichen Gründen also. Migration verleiht unserer vielschichtigen Normalität eine eindimensionale Bedeutung, macht sie zu etwas Abweichendem und Banalem zugleich, was sie für uns nicht war und auch nicht für unser Umfeld. Alle kamen und gingen, wir kamen daher schnell miteinander in Kontakt und konnten auch Abschied nehmen oder Beziehungen auf anderen Wegen als durch räumliche Nähe oder gar geteilte ‚Heimat‘ aufrechterhalten.
Die Bedeutung, die ich nun hier lernte, war, dass Migrant*innen ‚heimatlos‘ sind, dass es traurig ist, so oft umzuziehen, dass Migrant*innen darunter leiden (eigentlich: dass die sesshafte Gesellschaft unter Migration/uns leidet), dass sie/wir Opfer ihrer/unserer Herkunftsländer sind oder auch der Aufnahmegesellschaft, dass wir auch wieder gehen oder – ohne willkommen zu sein – bleiben. Ich habe hier erst nach vielen Jahren gelernt, dass ich als Migrantin eingeordnet werde, und kann damit immer noch nicht viel anfangen, außer als Erfahrungszusammenhang, den ich mit anderen migrantisierten Menschen teile. Ich fühle mich migrantischen Communitys verbunden, teile Migrationserfahrungen und Kämpfe im hiesigen, migrantisierten Zusammenhang. Der Begriff bedeutete mir im Zusammenhang mit meiner Biografie bis zu dem Zeitpunkt, als ich nach Deutschland kam, nichts, aber im Zusammenhang mit meinem Leben hier ist Migration bedeutsam geworden. Debatten und Studien zu Migration sprechen mich nicht an, solange sie die Bewegung und Beweglichkeit von Menschen als Ausnahmezustand und als etwas Problematisches oder zu Problematisierendes thematisieren. Ich interessiere mich erst dafür, wenn es um unser Leben hier geht, weil wir hier zu Migrant*innen gemacht werden und viele unserer Erfahrungen und Kämpfe damit zusammenhängen, dass unser Leben als ein migrantisiertes gerahmt wird. Im Unterschied zu anderen Einwanderungsländern ist in Deutschland nicht die Rede von „Immigrant*innen“, die also irgendwann – wenn auch als ver-anderte – dazugehören. Migrant*innen bleiben in der Schwebe, kommen nicht an, können nicht dazugehören, weil sie/wir nicht Teil dieser ‚Heimat‘ sind/sein sollen/dürfen/wollen. Im deutschen Kontext gehört die Erfahrung des Migrantisiert-Werdens eng mit dem Konzept von ‚Heimat‘ zusammen. Sich auf ‚Heimat‘ zu beziehen bedeutet, Menschen zu Migrant*innen zu machen, die ewig dazu verdammt sind, nicht anzukommen.
Iris, du sagst, dass Menschen für dich wichtig sind, wenn es um so etwas wie be-heimat-en geht. Dem kann ich zustimmen: Menschen, einzelne und in Gruppen und Communitys, sind mir auch wichtig, um mich dazugehörig zu fühlen, andere zu umsorgen und umsorgt zu werden, uns über Erfahrungen auszutauschen und Zukunft zu planen, vielleicht sogar gemeinsam. Das ist ja auch im hegemonialen Konzept von ‚Heimat‘ enthalten, allerdings statischer und weniger über aktuelle Herausforderungen und Vorstellungen definiert, die auch mit historischen Erfahrungen zusammenhängen können, im hegemonialen Kontext aber über historische Bindekraft definiert sind, Klebstoff, der zusammenhält, was sonst auseinanderfiele, der also Veränderungen abweist und blockiert und Menschen daran hindert zu wachsen, beweglich zu bleiben. Insofern unterscheidet sich dieser rückwärtsgewandte und konservierende Bezug zu anderen Menschen, der essentialisierend und naturalisierend konzipiert ist, von jenem, der zwar auch an Geschichte und Erfahrungen anknüpft, sie aber verändern will. Diese fluiden, sich ständig aktualisierenden und verändernden Zusammenschlüsse bringen es mit sich, dass sich auch die Beziehungen und die Zugehörigkeiten ändern. Zugehörigkeit ist dann vielleicht nur im Plural als ‚Heimaten‘ oder gar nicht in solchen Konzepten zu denken. Wir müssen uns nicht, auch nicht in verschobener Weise, auf diese hegemonialen Begriffe und Konzepte beziehen, oder?
Einen Aspekt, den du erwähnt hast, möchte ich aufgreifen und mit dir vertiefen, und zwar den Bezug zu Land, der ja im deutschen Begriff von ‚Heimat‘ ganz wesentlich enthalten ist. Für mich ist Land in einem ganz anderen Sinne zentral, nämlich als Erde, die das Überleben sichert. Könntest du deinen Gedanken zunächst ausführen? Er erscheint mir wichtig.
Iris: Da sprichst du meines Erachtens einen sehr wichtigen Punkt an. Mir fallen Eve Tuck und K. Wayne Yang ein, die in ihrem bedeutenden Text „Decolonization is not a metaphor“ eindrücklich aufzeigen, wie wichtig es ist, immer auch den Aspekt von Land und der Zentralität der Rückgabe von Land zu beachten, wenn von Dekolonisierungsprozessen und Dekolonialität gesprochen wird. Und zwar verstehe ich die Zentralität dessen eben auch und vor allem mit Bezug auf „Erde, die das Überleben sichert“. Hier ist also die Frage wichtig: Was heißt ‚Heimat‘ für Menschen und Communitys, die kein Land ‚besitzen‘ beziehungsweise keinen Zugang zu den damit verbundenen Ressourcen haben? Und hier meine ich Land auch konkret im Kontext von beispielsweise Ernährungssouveränität sowie die Verbundenheit zu diesem Land im kollektiven und gegebenenfalls auch spirituellen Sinne.
Die unterschiedlichen Ebenen von Entrechtung und Gewalt, die mit der Enteignung und Vertreibung im Kontext von Siedler*innenkolonialismus einhergehen, zeigen Tiara Roxanne und Rashwet Shrinkhal auf. Roxanne schreibt in diesem Zusammenhang (allerdings mit einem Fokus auf „Indigenous Data Sovereignty“), dass Strukturen von Indigenous Sovereignty jenseits der spezifischen territorialen Ebene auch ontologische, kosmologische und politische Systeme umfassen. Mit Bezug auf die nördlichen Regionen der USA zeigt Roxanne auf, wie sich die Entrechtung und Unsichtbarmachung nicht nur auf die rein territoriale Ebene beschränkt. So wurde beispielsweise in den USA erst mit dem 1978 verabschiedeten American Indian Religious Freedom Act das Recht auf freie Religionsausübung für Indigene Communitys vollumfänglich gesetzlich verankert. Roxanne beschreibt weiter, dass sich die mit Siedler*innenkolonialismus einhergehende Auslöschung und Nichtanerkennung in diesem Zusammenhang bis heute auch im Digitalen fortsetzt, wo Menschen beispielsweise bei der Kategorisierung der COVID-19-Daten oder im Rahmen der Wahlen in den USA als „other“ oder gar „something else“ klassifiziert wurden.
Rashwet Shrinkhal beschreibt ebenfalls die epistemischen, ontologischen und kosmologischen Dimensionen von Gewalt im Zusammenhang mit Siedler*innenkolonialismus und zeigt auf, wie hierin ein Konzept von Land als bloße Ressource zugrunde gelegt und zementiert wird.
Iman, wie würdest du deine Verbindung zu Land im Sinne von „Erde, die das Überleben sichert“ im Zusammenhang mit Be-heimat-et-Sein beschreiben?
Iman: Ich verstehe die Erdverbundenheit komplementär zu dem eher kosmopolitischen Leben, das ich vorhin umrissen habe, und das ja nur als kosmopolitisches bezeichnet wird im Unterschied zum national gebundenen. Eigentlich ist die Geschichte der Menschheit keine sesshafte, obwohl wir die weit zurückliegende Geschichte nicht als kosmopolitisch bezeichnen würden. Mir sind nicht nur Beziehungen zu anderen Menschen wichtig, sie zu pflegen und zu kultivieren, sondern auch, mich als Teil der Natur zu erleben und als jemand, die sich darin zurechtfindet und damit leben kann. Meine Grundbedürfnisse selbst stillen zu können, Nahrung anzubauen, Kleidung herzustellen, eine Unterkunft zu bauen, mit (Sand-/Regen-)Stürmen, mit extremer Hitze/Kälte, mit Vulkanen und all dem, was das Leben auf der Erde ausmacht, zurecht zu kommen, es verstehen, erkennen und damit leben und umgehen zu lernen, ohne es zu unterwerfen – das fasziniert mich. Im Zusammenspiel von Abhängigkeit (von den Naturgewalten) und Selbstwirksamkeit (im Unterschied zu Entfremdung und Beherrschung) fühle ich mich lebendig und auch als Teil von etwas viel Umfassenderem, als ‚Heimat‘ das je sein könnte.
Diese für mich wichtige Bedeutung von Erde unterscheidet sich von anderen Konnotationen, obwohl sie auch Anknüpfungspunkte bietet. Ihr Land zurückzugewinnen hat für vertriebene Menschen einen sehr hohen Stellenwert. Ihr Leben ist aus den Fugen geraten, ihre materiellen, aber auch die kulturellen und spirituellen Lebensgrundlagen wurden ihnen genommen, du hast das ja eben ausgeführt. Auch diejenigen, die bleiben oder zurückkommen konnten, können häufig ihr Leben nicht mehr so führen, wie sie es gewohnt waren und gerne weiterhin tun würden. Genmanipuliertes Saatgut oder aus den Industrienationen eingeführte, subventionierte Grundnahrungsmittel verdrängen überlieferte und naturnahe Produktionsweisen. Diese Themen greift die Spore Initiative auf und zeigt in Ausstellungen, Workshops und Vorträgen, wie es anders geht. Auch die Bedeutung von Land für vertriebene Menschen wird hier thematisiert. In diesem Zusammenhang ist auch das arabische Wort für Land, „Ard“, interessant, weil es etwa im palästinensischen Lebenszusammenhang eine zentrale Bedeutung erhält, wie Kawthar El-Qasem in ihrer empirischen Studie zur Bedeutung der Weitergabe von Erinnerungen und Narrativen zeigt. Der Blick zurück weist in die Zukunft: Die Erzählungen enthalten eine Botschaft, einen Auftrag an die Nachgeborenen. Die Älteren drücken den Jüngeren ein vergilbtes Foto in die Hand, beschreiben das Land und den Ort, an dem das Haus gebaut und der Olivenbaum gepflanzt wurde, drängen sie, sich zu merken, wo das Leben der Familie stattfand, das schon seit Generationen stillsteht, unterbrochen wurde, sich nicht erden kann.
Es gibt auch im Deutschen viele Metaphern für diese Bedeutung, und dennoch wird ihre Erfahrung Menschen, die nicht als deutsch gelesen werden, verwehrt. Das deutsche Konzept von ‚Heimat‘ verbindet ‚Blut‘ und ‚Boden‘ in spezifischer Weise. Boden ist hier, ähnlich wie Blut im ius sanguinis oder im deutschen Volksbegriff, statisch, klebrig, verwurzelt, verengt. Den Menschen als Teil der Natur zu verstehen und Selbstwirksamkeit zu erfahren, wird im ‚Heimat‘-Konzept als Verbundenheit mit einer bestimmten Landschaft und einem spezifischen Boden gedeutet. Pfadfinder, Wandervögel, Reformbewegung, Freikörperkultur, aber auch Urban Gardening, der Schul- oder Kleingarten und das Wochenendhaus, der Bauwagen oder die umgebaute Scheune auf dem Land legen Zeugnis davon ab, wie sehr sich Menschen auch hier danach sehnen, mit der Erde in Verbindung zu sein und mit der Natur in Kontakt zu treten.
Den spirituellen Bezug erklären sehr anschaulich Lyla June für die Indigene Tradition und Asmaa El-Maaroufi für die islamische Ethik. Beide berichten, welche Aufgaben Menschen als Teil der Natur beziehungsweise der Schöpfung zukommen, um diese zu erhalten und zu pflegen, und zwar nicht in erster Linie, um das Überleben des Menschen zu gewährleisten, sondern um der Natur willen, beziehungsweise um die Schöpfung zu wahren. Das Verhältnis von Mensch und Natur wird auch in ‚westlichen‘ Philosophien unterschiedlich diskutiert: Auch hier gibt es Stimmen, die betonen, dass der Natur ein eigenes Recht zukomme (die physiozentrische oder holistische Perspektive). Vorherrschend scheint mir allerdings jene Position, die behauptet, dass die Natur (als etwas dem Menschen Äußerliches und Unterlegenes) geschützt werden müsse, um dem Menschen das Überleben zu sichern. Die Natur wird also instrumentalisiert, erhält aber auch ästhetischen oder Freizeit-Wert für den Menschen. Diese anthropozentrische Perspektive setzt also den Menschen über andere Naturphänomene und Lebensformen. Und dann gibt es natürlich die Stimmen, die vor allem die eigene Lebensqualität im Blick haben, etwa wenn Elektroautos beworben werden mit Hinweis auf die Treibstoffabhängigkeit oder begrenzte Ressourcen, den Lärm und die Abgase im näheren Umfeld, die den Raubbau an der Natur und die Arbeitsbedingungen und Gesundheitsgefährdung zur Gewinnung nötiger Rohstoffe in neokolonisierten Ländern aber ausblenden. Hier scheint wieder die begrenzte Bedeutung von ‚Heimat‘ durch, die nicht die gesamte Erde im Blick hat, sondern nur bis zur eigenen nationalen oder europäischen Grenze reicht. Es gibt also sehr viele unterschiedliche Bezüge zu Land, Boden, Erde, die alle wesentlich zu sein scheinen, um sich als Menschen zu verwirklichen, und die sehr unterschiedliche Bezüge zu ‚Heimat‘ aufweisen – oder keine Bezüge dazu, sondern zum Menschsein als solchem.
Wir haben beide schon mehrfach den Aspekt der Erinnerung gestreift, der für das Konzept von ‚Heimat‘ neben ‚Blut und Boden‘ wichtig ist. Geschichtsschreibung, Erinnerungspolitik und Narrationen sind gerade in Deutschland ein Feld, das im Kontext von ‚Heimat‘ und Zugehörigkeit zentral ist.
Iris: In der Tat sehe ich in meinem Umfeld immer mehr, dass sich Menschen nach dieser Verbundenheit mit dem Land im Sinne von Erde und Natur, wie du sie beschreibst, sehnen. Sicherlich hängt dies stark mit Gefühlen der Entfremdung und mit der Begrenzung von Selbstwirksamkeit zusammen. Die Natur und das Sich-in-ein-Verhältnis-zu-ihr-Setzen fungieren hier teilweise auch als Fluchtpunkt. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass für mich die unmittelbare Beziehung zu Erde/Natur (jenseits der häufiger werdenden Sehnsucht nach Ruhe) im Kontext der Frage, wo und wie ich mich be-heimat-et fühle, (bisher) noch eine eher geringe Rolle spielt. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass ich mein gesamtes Leben in sehr urbanen und großstädtischen Settings verbracht habe und diese für mich Teil eines Be-heimat-et-Seins darstellen. Gleichzeitig ist dieses/mein Verhältnis zu Erde sicherlich auch Teil eines Privilegs. Wir müssen in diesem Kontext natürlich über Erde und Natur im Kontext von kolonialen und kapitalistischen Strukturen sprechen, über den Extraktivismus, der für die Aufrechterhaltung dieser Strukturen essenziell war und ist. Hiermit einhergehend findet eine Dehumanisierung von Menschen statt, um sie in der Versklavung als Arbeitskräfte auf dem Land einzusetzen, das ihnen entweder gewaltsam genommen wurde oder von dem zuvor andere Menschen vertrieben wurden. Diese Dehumanisierung ging einerseits mit einer Gleichsetzung dieser Menschen mit Natur einher, beziehungsweise wurde sie hierdurch legitimiert; andererseits fand eine klaren Trennung und Hierarchisierung von Natur und dem Ökosystem und vermeintlich ‚zivilisierten Völkern‘ statt. Ich finde den Gedanken, dass die Menschheit Teil der Natur ist, der ein eigenes Recht zukommt, für diese Überlegungen sehr wichtig, insbesondere, weil dadurch ein kritisches Hinterfragen des Verständnisses von ‚Fortschritt‘, ‚Zivilisation‘ und Macht ermöglicht wird.
Aber ich würde gerne nochmals an das Thema Erinnerung andocken. Du sprichst von einem Verständnis von ‚Heimat‘, das in der Verbindung zu anderen Menschen an Geschichte und Erfahrungen anknüpft, diese aber im Gegensatz zu hegemonialen Vorstellungen auch verändern möchte. Diese Überlegung resoniert stark mit mir, und ich würde gerne weiter mit dir ins Gespräch gehen. Für mich ist ein zentraler Teil des Sich-be-heimat-et-Fühlens ein gemeinsames und plurales Erinnern. Hierzu gehören geteilte Erfahrungen, sowohl transgenerational als auch in der Gegenwart, sowie kollektive Wissensbestände und Zugänge zu Epistemologien. Und hierbei beziehe ich mich auf kollektive Wissensbestände, die eben nicht territorial begrenzt sein müssen. Ich interessiere mich insbesondere für Verbindungen zwischen geteilten, aber doch spezifischen Erinnerungen – ein relationales Erinnern, das ein Zueinander-in-Beziehung-Setzen fokussiert. Angela Davis schreibt in diesem Kontext, in Bezug auf Zugehörigkeit und das Kollektiv:
Unsere Geschichten haben sich nicht isoliert voneinander abgespielt. Über das, was wir als unsere eigenen Geschichte betrachten, können wir nie wirklich berichten, ohne die Erzählungen der anderen zu kennen. Oft merken, dass diese anderen Erzählungen dieser Geschichte im Grunde unsere eigenen Geschichten sind.
Ein Verständnis von ‚Heimat‘, das aber an kollektive und vor allem auch transgenerationale, verwobene, multivalente und von globalen Interaktionen geprägte (um es mit den Worten von Jie Hyun Lim zu sagen) Wissensbestände, Erfahrungswissen und Erinnerungen anknüpft, eröffnet meines Erachtens die Möglichkeit, dieses Konzept von ‚Heimat‘ über Staaten und Territorien, aber auch Zeiträume hinweg zu verstehen. In diasporischen Netzwerken kann das Gefühl von Verbundenheit und Zugehörigkeit auch im Sinne der Transzendierung von geografischen und zeitlichen Räumen verstanden werden. Aber auch jenseits von Diaspora können globale Verflechtungen und Verbindungen, insbesondere im Kontext solidarischer Allianzen, ein Gefühl des Be-heimat-et-Seins vermitteln, und sei es auch nur im Sinne einer politischen ‚Heimat‘.
Im Nachdenken über ‚Heimat‘ beziehungsweise Be-heimat-et-Sein finde ich eine „Borderland“-Methodologie sehr hilfreich, anknüpfend an die Schriften von Gloria Anzaldúa, vor allem ihr Werk Borderlands/La Frontera, und an die Ausführungen von Linda Tuhiwai Smith im Zusammenhang mit Grenzen und der Dekolonisierung von Wissen und Wissensbeständen. Smith beschreibt, wie die Kolonisierung von Wissen auf Grenzen fußt, wie diese Grenzen und Ränder als Einhegungen dienen, in denen sowohl Disziplin, Individuen und auch Raum getrennt und aufgeteilt werden. Was bedeuten Grenzen, aber vor allem auch Grenzräume für dich im Kontext des Nachdenkens über ‚Heimat‘?
Iman: Grenzen im Zusammenhang mit ‚Heimat‘ spiegeln ein Konzept mit zwei Gesichtern wider: Während sie für einige Ausschlüsse und Barrieren bedeuten, meinen andere, durch sie geschützt zu werden und sie gleichzeitig jederzeit mit Leichtigkeit überschreiten zu können. Letztlich schränken Grenzen die Menschlichkeit ein. Damit meine ich sowohl die Normalität und die Lebendigkeit von Bewegungen, die durch Grenzen aufgehalten und zurückgewiesen werden, als auch die Normalität und die Großzügigkeit des Mit-Seins aller Menschen und des Teilens der Erde, des gemeinsamen Auf-der-Erde-Seins. Die Begrenzung von Menschlichkeit auf diejenigen, die als Teil der Nation, des Volkes, des Nationalstaats definiert und auch gefühlt werden, begrenzt die Menschlichkeit derjenigen, die sich abschotten und alles für sich behalten wollen – zumal alles, was als eigenes deklariert wird, auf Kosten derjenigen angeeignet wurde und entstehen konnte, die draußen gehalten beziehungsweise nur begrenzt und unter Bedingungen hineingelassen werden, die den ‚Einheimischen‘ von Nutzen sind. Die Ausbeutung der Ausgeschlossenen und Marginalisierten geschieht daher diesseits und jenseits der Grenzen. Und doch werden jenseits der Grenzen (des Imperiums, des Mutterlandes, der Nation) nicht nur die Menschen ausgebeutet und zurechtgestutzt/zurecht zu stutzen versucht (Integrationsimperativ), sondern auch ihre materiellen, sozialen, kulturellen, spirituellen und natürlichen Lebensgrundlagen seit Jahrhunderten ausgebeutet und zerstört.
Deswegen ist Erinnerungsarbeit auch so wichtig: um daran zu erinnern, wie Dinge und Verhältnisse entstanden und damit auch die Menschen und die restliche Natur so geworden sind. Denn an einigem von dem, was wir in Europa/Deutschland vorfinden, waren Menschen beteiligt, auch unfreiwillig, die in Europa/Deutschland unerwünscht sind. Aber genau das ist die Grundlage für viele, sich in Europa/Deutschland be-heimat-et zu fühlen. Die Museen, die Geschäfte, die Kultur, die Städte, die Landwirtschaft sind voll mit Erkenntnissen und Erfahrungen, Erzeugnissen und Produkten, die nicht aus Europa/Deutschland stammen. Sie sind häufig willkommener als die Menschen, die sie hervorgebracht haben.
Um sich be-heimat-et zu fühlen, ist transgenerationale Erinnerungsarbeit in den Communitys auch aus dem Grund wichtig, dass unsere Geschichten sonst nicht oder entstellt erzählt werden. Wir haben ja in unserem Projekt Verwobene Geschichte*n, das wir gemeinsam mit vielen Menschen aus unterschiedlichen Communitys entwickelt haben, unsere Geschichten nicht provokativ als deutsche Geschichten erzählt. Der Ausgangspunkt unserer Erzählungen ist tatsächlich unser Leben in Deutschland. Auch das ist ein Akt von aktivem Sich-Be-heimat-en: unsere Geschichten weder als exotische noch als Migrationsgeschichten zu erzählen, sondern in ihren globalhistorischen Verwobenheiten.
Die Spore Initiative wählt einen anderen Ansatzpunkt, den ich aber auch wichtig finde, nämlich von alltäglichen, kollektiven, widerständigen Praktiken, den Erfahrungen und Epistemologien des Südens zu lernen und Themen, die hierher gehören, aber ausgeschlossen werden, aus dieser Perspektive zu erzählen. Auch das ist eine Form von Erinnerungsarbeit, die anregend und korrigierend wirken kann, weil sie den Horizont erweitert und deutlich macht, dass alle Menschen in der einen Welt be-heimat-et sind. Es gibt nur diese eine, und wir leben alle darin. So gesehen kennt ‚Heimat‘ keine Grenzen. Von diesem Verständnis sind wir gerade sehr weit entfernt.
Unabhängig davon stellt sich mir ganz grundsätzlich die Frage, warum wir das, was uns wichtig ist, in einen Begriff übersetzen wollen, der uns nichts bedeutet. Wir finden zwar Anknüpfungspunkte, wie unser Gespräch ja zeigt, haben aber viele weitere Aspekte in unserem Gespräch ausgelassen, weil sie mit ‚Heimat‘ auch in verschobener Weise nicht viel zu tun haben. Wir bleiben also im Modus des Antwortens. Vielleicht sollten wir uns auch oder mehr mit den Dingen beschäftigen, die uns wichtig sind, und uns nicht ablenken lassen. Toni Morrison beschreibt sehr eindringlich, wie Rassismus auf eine Weise funktioniert, die uns ablenkt, indem wir uns wieder und wieder erklären, korrigieren, rechtfertigen müssen, und wie wenig zielführend das ist, da die Missrepräsentationen und Fehldeutungen nie aufhören.
Iris: Dem kann ich nur zustimmen. Diese Mechanismen kennen wir alle zur Genüge, und es ist immer wieder eine Anstrengung, sich nicht ablenken zu lassen. Daher beschäftige ich mich – und beschäftigen wir uns ja auch in unseren gemeinsamen Projekten – seit Langem mit Fragen von Perspektiven und Transformation, mit Bewegungsgeschichten und Solidaritäten und versuchen, uns weniger von Diskursen leiten zu lassen, die, wie du schon gesagt hast, eine Begrenzung der Menschlichkeit beinhalten und forcieren. Was allerdings in den heutigen Zeiten häufig ein großer Kraftakt ist, da Diskriminierung und Rassismus und die damit zusammenhängende Gewalt und Dehumanisierung, insbesondere gegenüber vulnerablen Gruppen, sowohl in Deutschland als auch international zunehmend normalisiert werden und rechtlich oft folgenlos bleiben. Dennoch oder gerade deswegen ist es meines Erachtens umso wichtiger, dass wir weiterhin und gezielter über Möglichkeiten Community-übergreifender, transnationaler Solidaritäten sprechen; über Möglichkeiten, sich diesen Entwicklungen entgegenzusetzen. Die Spore Initiative ist ein Ort, der das ermöglicht. Es gibt und gab auch sehr viele weitere, beispielsweise den Migrationsrat Berlin oder für mich persönlich die Plataforma, eine Initiative von Migrant*innen und Geflüchteten, die sich auf unterschiedlichsten Ebenen unter anderem auch mit Fragen von Solidarität auseinandergesetzt und dies praktisch umgesetzt haben. Und natürlich viele mehr. Auch dies sind und waren Orte des Be-heimat-et-Seins für mich.
Wichtiger als die Frage: Wo fühle ich mich be-heimat-et? sind für uns also Fragen, die sich mit diesen Thematiken auseinandersetzen. Dazu gehört für mich auch ganz zentral die Dokumentation und die Weitergabe von marginalisiertem Wissen. Denn wie es Tiara Roxanne und Rashwet Shrinkhal beschreiben, geschieht die Abtrennung, Entfernung und Auslöschung bestimmter Communitys aus von Eingrenzung und Abschottung definierten Gemeinschaften sowohl auf politischer, ontologischer als auch auf epistemologischer Ebene. Ob durch das Negieren, das Zum-Schweigen-Bringen, die Delegitimierung oder auch durch die gezielte Zerstörung von Wissen – wie beim Brandanschlag auf die Jaffna Public Library, damals eine der größten und am besten ausgestatteten Bibliotheken in Südasien, die durch eine Gruppe von singhalesischen Sicherheitskräften und Individuen in der Nacht vom 31. Mai zum 1. Juni 1981 niedergebrannt wurde.
Wir kommen also zurück zum Erinnern und zum Teilen von Wissen. Das Erinnern an Geschichten von Gewalt und Unrecht, aber vor allem das Erinnern an Solidaritäten, die schon immer über Grenzen und über einzelne marginalisierte Communitys hinweg bestanden und jetzt wieder verstärkt (re-)aktiviert werden.
Was sind deine aktuellen Perspektiven, Hoffnungen, Wünsche für die Zukunft mit Blick auf das Be-heimat-et-Sein?
Iman: Das ist eine berechtigte Frage, nachdem wir nun doch so lange darüber gesprochen haben, was ‚Heimat‘ für uns nicht ist. Zum einen frage ich mich, ob es möglich ist, sich unter Bedingungen, die uns so etwas wie ‚Heimat‘ verwehren, während sie für die Dominanzgesellschaft zentral ist, daran festzuhalten, dass uns ‚Heimat‘ nichts bedeutet. Die Antwort kann nur genauso widersprüchlich ausfallen, wie die Frage selbst es impliziert. Ich will sie als Gegenfrage formulieren: Können wir es dieser Gesellschaft überlassen, zu entscheiden, ob dies unsere ‚Heimat‘ ist? Aber auch: Können wir es uns leisten, weiterhin auf ‚Heimat‘ zu verzichten, obwohl unser Überleben davon abhängig gemacht wird, und dies nicht nur in Deutschland, sondern an so vielen Orten auf der Welt? Der Rechtsruck vollzieht sich ja derzeit leider global und vehement. Müssen wir also darauf bestehen und darum kämpfen, dass wir längst hier heimisch geworden sind und uns be-heimat-et haben, obwohl das Konzept ‚Heimat‘ uns nicht mitmeint und, viel wichtiger noch, für uns eigentlich irrelevant ist? Und gibt es dieses „Eigentlich“, können wir weiterhin ein bewegliches, offenes, dynamisches Leben vorziehen, wenn die Welt um uns herum auf Grenzen, Staatsbürgerschaften, Klebstoff jeder Art besteht? Einen Ort zu kreieren – sofern das überhaupt möglich ist –, an dem all dies überflüssig wäre, an dem wir uns also heimisch fühlen könnten, würde nur in genau dieses von uns kritisierte Muster verfallen und die Fehler multiplizieren.
Was bleibt also? Ich weiß es nicht. Haben unsere Bemühungen der letzten Jahrzehnte, durch Kritik und Bildung, durch Selbstorganisierung und den Marsch durch die Institutionen Bewegung in die Strukturen und die Diskurse, die Köpfe und die Gefühle zu bringen, gefruchtet? Vor dreißig Jahren kannten sich alle, die öffentlich zu Rassismus gearbeitet haben, ob in der Akademie oder in der Zivilgesellschaft, häufig in beiden gleichzeitig. Heute sind die Literatur und die Praxis dazu unübersichtlich geworden. Einerseits bedeutet das, dass sich viel mehr Menschen mit rassismuskritischer Praxis, Rassismusforschung und -theorie auseinandersetzen. Andererseits verschieben sich durch die finanzielle Förderung manche Positionen. Die Gelder werden meist vergeben an und die Stellen besetzt mit Personen, die bestenfalls ganz am Anfang stehen, häufig aber das Thema banalisieren – oder aber mit Anträgen, Berichten und anderen Verwaltungsaufgaben sowie politischen und administrativen Richtlinien von der eigentlichen Arbeit, von gesellschaftskritischer Praxis und Theorieentwicklung abgehalten werden. Durch die Förderlogiken werden jene verdrängt, die aufgrund von rassistischen Effekten, Kontinuitäten und Barrieren nicht über die formalen Bedingungen (Zeugnisse, anerkannte Abschlüsse, Staatsbürgerschaft und Ähnliches) verfügen oder aufgrund ihrer vertieften Einblicke in rassistische Strukturen und Funktionsweisen den staatlichen Fördereinrichtungen und Akademien als zu radikal gelten. Rassismus als gesellschaftliche Struktur und institutionalisierte Normalität zu verstehen ist viel grundsätzlicher, als von fehlgeleiteten Einstellungen Einzelner auszugehen. Viele der Kämpfer*innen gegen Rassismus haben nicht wegen des Geldes oder des Renommees zu Rassismus gearbeitet und für soziale Gerechtigkeit gekämpft, sondern aus der Notwendigkeit heraus, mit Leidenschaft und Ausdauer und vor dem Hintergrund von fundiertem und kollektivem Erfahrungswissen. Die Politik, die Praxis, die Forschung und die Theorieentwicklung drohen also zurückzurudern durch die Institutionalisierung. Und gleichzeitig kann diese Arbeit nicht wieder oder länger ehrenamtlich, nach Feierabend und ganz ohne Zugänge zu den Stellschrauben der Macht geleistet werden. Bedeutet also, sich zu be-heimat-en, in die Diskurse und die Institutionen einzutreten, den gramscianischen Kampf um die Köpfe und die Herzen zu führen, zu sensibilisieren und zu empowern – wie dies in Förderlogiken fein säuberlich voneinander getrennt und unter Auslassung der Umstrukturierung konzipiert wird? Dann sind wir schon längst heimisch geworden, haben uns auf das uns zugewiesene Feld begeben, wenn auch auf andere Weise als intendiert, haben uns also durch Kritik eingebracht. Das geht aber nicht alleine: Um relevante Erkenntnisse hervorzubringen und das Sprechen darüber zu legitimieren, brauchen wir kollektive Wissensproduktionen, innerhalb von Communitys und auch cross-community. Wir brauchen solidarische Netzwerke, um uns gegenseitig zu stützen und unseren Stimmen mehr Gewicht zu verleihen. Communitys sind auch aus einem anderen Grund wichtig: Sich nicht mit Rassismus zu beschäftigen funktioniert häufig nur in Communitys of Color und mit Menschen, die Rassismus erfahren und reflektieren und deswegen in Gesprächen und Aktivitäten Rassismus (kurzfristig) beiseiteschieben können. Ich changiere also zwischen Kämpfen „with the master’s tools“, wenn auch „mistaken“, und Kämpfen in Community-Räumen, in denen dekoloniale Perspektiven und komplexere Fragestellungen und vor allem auch vielschichtige soziale Kommunikationsformen und Umgangsweisen gepflegt werden. Gayatri Spivak und Audre Lorde auf diese Weise zusammenzubringen, wird sicher einige ‚weiße‘ akademische Kolleg*innen reflexartig dazu veranlassen, mir vorzuwerfen, dass dies theoretisch inkonsistent sei. Aber was bringt uns Theorie, wenn sie nicht dazu geeignet ist, Probleme anzugehen und Gesellschaft zu transformieren?
Quellen
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