18. Dezember 2024, Fort Portal, Uganda

Liebe Raphaëlle,

ich sitze in Uganda am Lake Nyinambuga nahe Fort Portal und der kongolesischen Grenze, überblicke einen großen Teil des Sees und lausche den Vögeln und Grillen am Morgen.

So hübsch dieser Ort ist – so grün, so geküsst von der Schönheit dieser Erde –, möchte ich mich hier gern Zuhause fühlen. Irgendwie tue ich es auch – und dann doch wieder nicht. Einen Ort, der heilend wirkt, voller gesunder Natur ist, entschleunigt, an dem ich zur Ruhe kommen kann, wünsche ich mir als Zuhause. Doch immer treibt mich meine eigene Unruhe weiter, die Suche danach, wo genau dieser Ort sein könnte.

Kann mensch einfach irgendeinen Ort zum eigenen Zuhause, zur eigenen Heimat machen? Manche tun es, haben es getan und würden sagen: Es geht. Ich bin mir da nicht so sicher.

Was macht ein Zuhause zu einem Zuhause, und wann wird aus einem Zuhause eine Heimat? Ich habe es immer so verstanden, dass Heimat da ist, wo mensch geboren ist, wo mensch aufgewachsen ist, wo die Eltern herkommen, wo die Vorfahr*innen lebten. Aber ist das nicht eine sehr enge Vorstellung von Heimat? Das Konzept scheint mir zu eng. Es zwickt und drückt, ich fühle mich unwohl darin.

Ist Heimat nicht eher eine Ansammlung von Gefühlen der Verbindung, der Verbundenheit und Vertrautheit? Und kann das nicht auf viele Orte und Kulturen zutreffen, denen mensch begegnet? Darf es nicht auch „Heimaten“ heißen, ohne dass es merkwürdig klingt?

Als Tochter eines Äthiopiers und einer Deutschen sind mir beide Länder mehr oder weniger vertraut. Manches an ihnen liebe ich sehr, und manches kritisiere ich und wünsche mir Veränderung. Die Unterschiede zwischen beiden Ländern vereine ich in meiner Persönlichkeit, in meinem Herzen und in meinen Sehnsüchten. Bin ich an dem einen Ort, vermisse ich den anderen. Diese Sehnsucht nach… ist Teil meines Heimatgefühls.

Zuhause bin ich eigentlich da, wo ich einen Raum meinen eigenen nennen kann, wo ich mir einen Alltag aufbauen kann, wenn ich mich dazu entschieden habe, eine Weile oder für immer – eine zu große Vorstellung für mich – dort zu leben. Ändert sich das Gefühl, wenn mensch Land und Immobilie besitzt? Das macht einen Ort noch lange nicht zum Zuhause und schon gar nicht zur Heimat.

Bin ich ein zerrissener Mensch? Weil ich dem üblichen Konzept der Heimat nicht entspreche? Kann mensch an unterschiedlichen Orten gleichzeitig verwurzelt sein?

So viele Definitionen und scheinbar gegensätzliche Kategorien treffen auf mich zu, die Binarität der Dinge hält mich klaustrophobisch fest. Schwarzer Vater, ‚weiße‘ Mutter; muslimische Familie väterlicherseits, christlich geprägte Familie mütterlicherseits; Afar vs. Schwaben; Addis Abeba und Dessie vs. Stuttgart und Deizisau …

In meiner Kindheit ging es hin und her, ich hatte das Privileg, in beiden Ländern sozialisiert zu werden. Ein Gefühl des Heimkehrens gab es immer wieder an den Orten, wo die engsten Familienangehörigen lebten. Das änderte sich mit den Jahrzehnten, und doch sind in der Stadtarchitektur meine Erinnerungen eingeschrieben: der Spielplatz, auf dem ich Fahrradfahren lernte; der Kindergarten, die erste Schule; die Stufe, an der mein Bruder sich eine Platzwunde am Kinn holte; das Jugendamt; der Gaskessel, an dem wir immer vorbeifuhren, wenn wir wie bei einer Staffelübergabe von einem Elternteil zum anderen wechselten; der Park, in dem ich das erste mal küsste; die Flughafenhallen; der Innenhof, in dem wir wie kleine Katzen beim Schlachten der Hühner zusahen; der Kreisverkehr, der zu Omas Anwesen führt; der Kiosk, an dem es immer die besten Bonbons gab; die Straßenecke, an der mein Vater von der Polizei gefragt wurde, ob das wirklich seine Kinder seien.

Wenn ich also an einen Ort komme, der voller Erinnerungen ist, kann ich darin wie in einem Bilderbuch die Seiten umblättern, und Lebensereignisse – gute und schlechte – blitzen wie ein Film vor meinem inneren Auge auf. Sich dem zu verweigern ist unmöglich, es passiert automatisch, sich nicht zu erinnern geht gar nicht. Je länger du an einem Ort verweilst, verwurzelst und Erlebnisse teilst, desto mehr verstrickt sich dein Selbst damit. Macht diese Verstrickung deiner persönlichen Erinnerungen einen Ort nicht zur Heimat?

Ich bin mit mehreren Orten verstrickt und dankbar für die Fülle an Unterschieden, die ich gleichzeitig erleben durfte und die mich unterschiedliche Realitäten gelehrt haben. Ich fühle mich in verschiedenen sozialen Codes zuhause und verstehe, dass sich Kulturen stets im Wandel befinden und immer auch auf Vergangenes zurückgreifen.

Du kannst dich an einem Ort zuhause fühlen, auch wenn dich die übrigen Menschen dort als Fremde wahrnehmen. Das ist kein gesunder und schöner Zustand, aber auch dieses Gefühl wird verzahnt mit deinem eigenen Heimatgefühl. Andersherum kann ein Ort dich liebevoll willkommen heißen, aber du selbst verweilst nicht lang genug, um dich zu verwurzeln.

Kennst du das? Du denkst, hier bin ich nicht zuhause, hast das Gefühl, hier komme ich nicht an, hier bin ich nur Gast; und nach ein paar Jahren verlässt du den Ort, ziehst an einen neuen oder alten, und plötzlich tut es weh. Unerwartet träumst du von den verlassenen Straßen, den einzigartigen Gerüchen dieses Ortes, der eigentlich nicht zu dir gehören sollte, von den Sprachen und Klängen, die unmerklich zur vertrauten Musik deines Lebens wurden. Erst wenn all das weg ist, weißt du: Es ist ein kleines Stück Heimat geworden.

Und so trage ich einige von diesen Stücken mit mir herum, frage mich so oft, ob es einen einzigen Ort gibt, der sie alle auffangen wird und mich nicht mehr sehnsuchtsvoll suchen lässt, der mich nicht dazu treibt, das Verlassene zu vermissen.

 

26. Januar 2025, am Strand, Malta

Liebe Raphaëlle,

gestern haben meine Mutter und ich uns über Zuhause-Sein unterhalten, und ich sagte, ich hätte nirgendwo ein wirkliches Gefühl von Zuhause, also von einer Art Heimat oder einem Ort, an dem ich mich ganz zugehörig fühle, wo ich Geborgenheit, Entspannung, Fürsorge und Vertrautheit als Gesamtheit erlebe. Immer ist ein Teil von mir nicht ganz aufgehoben oder vermisst etwas.

Das Puzzle scheint nie vollständig zu sein, und ich habe das Gefühl, dass es eventuell gar nie vollständig sein wird. Warum? Da das Fundament dafür in der Kindheit angelegt werden müsste? Das macht mich traurig. Aber ich habe die Hoffnung, dass diese Trauer nur ein Abschied ist, eine Möglichkeit, diese Vorstellung von Heimat und diese Sehnsucht loszulassen und eine andere Wirklichkeit von Verbundenheit zuzulassen.

Ich hatte diesen Gedanken, da ich mich in Hotels immer sehr wohl und irgendwie zuhause fühle. Die Anonymität dort ist mir so vertraut. Auf Reisen sein und immer nur kurz an einem Ort bleiben, mit der Möglichkeit der Wiederkehr, mit der Möglichkeit, die Tür hinter sich zu schließen und die wenigen Quadratmeter für kurze Zeit sein eigen nennen zu dürfen, sich fallen zu lassen und aufzutanken.

Als Kinder waren mein Bruder und ich oft unterwegs. In Hotellobbys, in Bussen, im Auto, bei Verwandten und Freud*innen der Familie. Meine Kindheitserinnerungen sind voller Eindrücke von unterschiedlichen Orten und Räumen, unterschiedlichen Normen und kulturellen Regeln. Es ging immer darum, schnell zu wissen, wo wir uns befanden und was als richtig und was als falsch galt. Das konnte sich je nach Umfeld stark verändern.

Doch in vielen Hotels waren die Abläufe und Sitten ähnlich: die Zimmer mal sauberer und von besserer Qualität, mal weniger sauber, aber immer mit Bett, Tisch, Stuhl und einer Tür zum Zumachen – und, zack!, hatten wir unseren eigenen Space. Im Hotel waren wir zwar zu Gast, aber es gab keinen Druck, als „guter Gast“ zur sozialen Unterhaltung beizutragen. Eine große Freiheit, die ich auch heute noch so empfinde.

Trotzdem bleibt die Sehnsucht nach einem Ort, den andere home nennen. „Wo fährst du zu Weihnachten hin?“ „Wo feierst du Eid oder Chanukkah?“ „Wo ist der Ort, an dem du dich geborgen fühlst?“

Ist dieser Ort wirklich da, wo die eigene Familie zusammenkommt? Wo mensch aufgewachsen ist? Was, wenn dieser Ort voller negativer Erinnerungen ist? Was, wenn das Zusammenkommen der Familie nur Unfrieden auslöst? Nennt mensch es dann trotzdem home? Then home is not a happy place. Ich möchte eine Heimat, die mich glücklich macht und sicher fühlen lässt. Ist das eine Utopie? Eine Projektion, die es so gar nicht gibt?

Das Heim, in das ich heimkehre, soll ein gesundes und willkommenes sein. Ich habe beschlossen, es mir selbst zu bauen. Frei von zwanghaften Normen und Traditionen. Frei von Blutsverwandtschaftszwang. Frei von Ängsten –

Ich gehe mit dieser Frage ins Bett: Wie schaffen wir Räume und Heimaten, frei von Ängsten? Welche Antworten hast du dazu?

Gute Nacht,

Miriam

 

28. Januar 2025 bis 2. Februar 2025, Berlin, Deutschland

Liebe Miriam,


als wir zum ersten Mal über unseren Austausch sprachen, habe ich mir vorgestellt, dir diesen Brief am Wasser zu schreiben, nah genug, um das Salz des Atlantiks auf den Lippen zu schmecken. Ich wollte in Bewegung sein, mich von einer Fähre aus melden. Auf gar keinen Fall – auf Deutsch – stillstehend – über Heim*t – schreiben. Ich habe den Brief mehrmals begonnen: Hallo Miriam, Apsilon sagt: „Ich fick deine Integration / Fühl mich wohl, wenn ich fehl am Platz bin“, und ich frage mich, welche Sehnsucht ich zuerst gehen lassen werde, die nach dem Wohlfühlplatz oder die nach der Coolness, sich fehl am Platz wohl zu fühlen. Dear Miriam, ist nicht heimaten etwas, das man für andere macht? Hey Miriam, ich höre schon wieder das letzte Apsilon-Album. Liebe Miriam, ich denke: Wenn heimaten ein Verb ist, dann eines wie vertrauern oder erfreudigen – ein verzweifelter Versuch, sich trotz der Umstände zu bestimmen. Ich habe an dieser Verzweiflung nichts auszusetzen: Im Französischen, oder zumindest in dem Französisch meiner Mutter, gibt es diesen Ausdruck l’énergie du désespoir, die Energie der Verzweiflung. Ich habe oft aus dieser Energie heraus gehandelt. Ich begrüße sie.
 

Liebe Miriam,

ich bin seit Kurzem zurück in Deutschland, und die Nachricht über den Freispruch der Mörder von Mouhamed Dramé hat mich überraschend hart getroffen, was erstaunlich ist, denn eigentlich weiß ich doch um den unterschiedlichen Wert menschlichen Lebens in der Gesellschaft, in der ich lebe. Am Tag darauf stand ich in der Bahn und sah betrunkenen Männern dabei zu, wie sie sich unnötig anpöbelten, dachte whatever, bis einer der ‚weißen‘ betrunkenen Männern sagte: „Abschieben müsste man die“ und die drei Männer, die er meinte, ausstiegen. Heim*t ist dort, wo man abschiebt. Wo die einen besoffen und pöbelig sein können und die anderen nicht. Ich frage mich, ob Heim*t heißt, dass man nicht leise, nicht nüchtern, nicht freundlich, nicht diskret sein muss.

Jetzt sitze ich an zwei Kissen gelehnt im Zimmer eines B&B Hotels, das Licht aus dem Frühstücksraum auf der gegenüberliegenden Seite fällt in mein Zimmer. Auf dem Nachttisch links von mir liegt ein Buch von June Jordan, steht ein kleiner Rahmen mit einem zwanzig Jahre alten Foto meines Bruders und meiner Mutter, riecht (erträglich) die Plastikschale der Nissin Instant Noodles, die ich am Vorabend zum Abendessen mit Wasser übergossen habe. Ich komme mir dabei unendlich lucky vor. Es ist 7:45. Ich sitze an die zwei Kissen gelehnt und schaue auf den Frühstücksraum, den ich bald betreten sollte, um pünktlich zu meinem Termin zu erscheinen, und natürlich ist das der Moment, in dem all das mit der Heim*t hochkommt.

Heimaten – je mehr ich über das wort nachdenke, desto besser kann ich mit diesem wort nachdenken – so wie ich manchmal im deutschen alle wörter kleinschreibe, damit es mehr aussieht wie französisch, damit das blatt eine vertrautheit hat. Auch wenn ich es ganz oft nicht mache – das ist meine entscheidung, meine verantwortung. Vor ein paar jahren habe ich mit studierenden einen text gelesen, in dem die soziologin Avtar Brah von homing desire spricht, einer sehnsucht nach einem unerschütterlichen gefühl geografischer zugehörigkeit, die aber die kritik an starren diskursen über herkunft nicht ausschließt. Ich übernehme gerne verantwortung für mein homing desire, meine sehnsucht nach einem zuhause, die sich gut unterwegs denken lässt, meine zwischenzeitlichen kleinen zugeständnisse an den anteil in mir, der sich in einer kleingeschriebenen sprache wohler fühlt. Aber es gibt ja die Vorstellung, dass es Menschen gibt, die keine Verantwortung für ihr Heim*tgefühl übernehmen müssen. Die hätten dann kein homing desire, keine bewegende und in bewegung setzende Sehnsucht, sondern nur das ganz natürliche Gefühl, den ganz natürlichen Anspruch.

 

Liebe Miriam,

ich habe es zum Frühstück geschafft. In grauen Leggings, grauem Hoodie und grauem Satinbonnet sehe ich aus wie ein kleines Gespenst. Samstagmorgen im B&B Halle – zwei Familien, ein paar sehr alte Männer im Anzug, ein großer Tisch junger Männer in diesen Carhartt-Sweatshirts, die ich liebe, die an ihnen aber aussehen wie eine beunruhigende Uniform.

Hotelfrühstück ist sowieso ein interessanter Schauplatz: mehr oder weniger offensichtliches Klassenprivileg, ausufernde Vorurteile; Reaktionen von Überraschung über Angst bis hin zu Kränkung anderer Gäste oder Arbeitender, mich hier zu sehen. Doppelt bis dreifach nach der Zimmernummer gefragt werden, dann beobachten, wie sonst alle einfach so reinkommen. Aber fuck, da sind wir wieder. Ich will dir philosophische, zerbrechliche, aber runde Gedanken schreiben und verfange mich in den Fäden krasser Banalität, lasse mich ablenken, obwohl Toni Morrison mich vor der ablenkenden Funktion von Rassismus gewarnt hatte. „’scuse me“, sagt einer der sehr alten Männer, um unter mir an Besteck zu kommen, während ich auf die Zehenspitzen gehe, um ein Brötchen aus dem hoch platzierten Korb zu nehmen, weil das einzige, das auf Augenhöhe liegt, Bio-Eier sind. Und ich so –

Ach Miriam, ich will nicht, dass du denkst, ich wäre unhöflich oder unfreundlich oder würde die Jahre nicht würdigen und die Art, wie sie den Körper ermüden. Wahrscheinlich denkst du das ohnehin nicht, aber wer weiß – wir kennen uns ja noch nicht so richtig, und ich möchte dir gerne gefallen; und den Frauen der sehr alten Männer übrigens auch, die lächle ich an, um ihnen zu vermitteln, dass ich nicht bedrohlich bin, nur dass – und darauf wollte ich hinaus, liebe Miriam – ich mich weigerte, dem Typen Platz zu machen, indem ich meinen Oberschenkel anspannte und meinen Körper zu einem Berg machte, eisig und unbeweglich und unumgehbar.

Letztes Jahr schrieb ich in einem Gedicht mit dem Titel „OBSTRUCTION“:

     […]instead, i channel the menace of small obstacles,
     the ball of hair that clogs the wheels of moribund
     progression
     nicknamed progress.
     duck i bathe my feathers in shame then
     rub myself against the passerby’s leg
     he no longer feels innocent.
     root i place myself inconveniently
     enough for men to have to detour in
     large, cumbersome moves.

     In my reflection, i seek out the shape of
     nettle
     unseen at first then burning like hell
     guarding the steps of a house or a son’s
     bed or the room where lovers come.

     Whatever the outline of my body, let it stand in the way.

Und was hat das mit heimaten zu tun, fragst du mich, zumindest in meinem Kopf. Ich stelle mir vor, wie es wäre, nicht die ganze Zeit nach der richtigen Form für meinen Körper zu suchen – jahrelang nach der Anpassung, die mein Gefühl von Zuhause mit den Blicken der Menschen, mit denen ich mir das Zuhause teile, angleichen würde. Dann, Jahre später, die Suche nach der Härte, die mich schützen sollte, indem ich zur Hürde würde, gegen Rassist*innen und Abschiebende und Rechtsrückende. Ich stelle mir immer öfter vor, wie es wäre. Wie mein Körper denn so aussehen würde, wenn die Form frei wäre.

Als ich dir kürzlich von dem Festival für afrikanische Literatur, auf dem ich in Marokko war, erzählte, fiel es mir schwer, dir dieses ganz flüchtige Gefühl zu schildern, das Gefühl, den richtigen Körper zu haben, das richtige Herz. Die wandelnde Form meines Körpers eine Selbstverständlichkeit. Das ist vielleicht das, wohin heimaten tendiert. Und wenn es das nicht ist, dann will ich nicht heimaten. Ich weiß ja schon, ich will keine Heim*t: Ich möchte kein Land und keine Grenze mit toten Menschen dran und nicht Teil sein von kleinen Häufchen von Leuten, die schreien meins meins meins. Ich möchte, dass mich die, die mich lieben und die ich liebe, warnen, wenn mein Besitzanspruch anschwillt.

 

Liebe Miriam,

Brief schreiben war eine der ersten Aufgaben, die ich auf Deutsch machen musste, während des Spracherwerbs. Ich fand es so seltsam, die vielen Regeln, wo das Datum hinkommt, die roten Korrekturen der Lehrerin, die Hefte, die ganz anders liniert waren als jene, in denen ich in Frankreich zu schreiben gelernt hatte, diese verdammten Großbuchstaben, die irgendwie aufregend waren, sich anfühlten wie ein zusätzliches Gadget, und die Erwartung, sich am Ende voll und ganz einer fiktiven Viktoria aus dem Urlaub hinzugeben: „Deine Raphaëlle“ sollte es dann heißen, obwohl man die Viktoria aus dem Übungsheft erst seit ein paar Seiten kannte.

Aber gerade habe ich gedacht: Auch diese Schlussformel ist ein Ausdruck von Sehnsucht. Danach, zu einem Menschen oder zu einer Gemeinschaft zu gehören. Eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Ich habe sie lieben gelernt.

In Freundschaft und Solidarität,
Deine
Raphaëlle
 

3. Februar 2025, ein Gespräch zwischen Hamburg und Berlin, Deutschland
 

Miriam: Gerade glaube ich gar nicht mehr, dass Heimat und home, das ist, woran ich dachte und wozu wir geschrieben haben. Ich denke jetzt, dass im Dazwischen-Sein, im Ankommen im Nicht-Binären ein eigentliches Zuhause liegt.

Ein weiterer Gedanke ist, dass eine Heimat ja auch eine schlechte Heimat sein oder werden kann. Und doch bleibt sie die Heimat. Wenn wir uns vorstellen, mensch wäre verankert an einem Ort, in einer Kultur, und auf einmal gibt es einen Putsch oder eine andere Art der Veränderung, peu à peu kann Hass entstehen, vielleicht passiert etwas so Schlimmes wie Krieg und Genozid. Die Heimat? Bleibt doch nicht dieselbe! Wenn sie zerstört wurde, in Trümmern liegt, welche Heimat ist es dann? Es ist doch paradox, dass es eine feste Heimat gibt.

Wir sollten fragen: Was ist eine gute Heimat? Was ist eine erstrebenswerte Heimat? Dann treten die Fragen nach Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand mehr ins Blickfeld.

Wenn in Deutschland über Heimat gesprochen wird, ist es doch nicht die Heimat, sondern eine Projektion. Dann geht es immer um eine Nostalgie nach einer Vergangenheit, die nie so war, die es gar nicht mehr gibt. Und wenn es eine Nostalgie ist, eine Erinnerung an etwas, dann ist diese lückenhaft und verklärt. So fuck your Heimat.

Raphaëlle: Auf jeden Fall. Ich bin so froh, dass wir an diesen Punkt gelangt sind. Ich finde es total interessant, Heimat als einen nostalgischen und sogar vergangenheitsbesessenen Begriff zu sehen. Und ich finde auch: Fuck diese Heimat. Vor allem ist diese Nostalgie ja ganz klar eine nach einer Zeit, in der es zum Beispiel dich und mich nicht gibt. Wir sind nicht Teil dieser Nostalgie oder von dem, das auf sie und durch sie projiziert wird.

Miriam: Von wem projiziert wird?

Raphaëlle: Wenn wir über Heimat sprechen, wie sie im deutschen mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs besprochen wird, oder wenn wir sagen: Eigentlich wird nicht über etwas Feststehendes gesprochen, sondern es wird eine nostalgische Sehnsucht verfestigt, und dann wird so getan, als wäre das eine reale Entität, dann würde ich behaupten – unabhängig davon, ob es bewusst rassistisch ist oder unbewusst: Wir tauchen nicht auf.

Dabei fällt mir auf, wie viel dieser Heimatbegriff mit Vergangenheit und Nach-hinten-Blicken zu tun hat. Das ist eine wichtige Entblößung. Ich stelle mir gerade vor, dass wir diesen Begriff nackig machen. Dieses Heimatkonzept wird ja als etwas Reales, in der Gegenwart Verankertes gezeigt, das mit der Vergangenheit verbunden ist, aber auch da nur als Projektion und nicht real. So wie du es beschreibst – und ich würde da voll mitgehen –, höre ich eigentlich: Dieses Ding ist nur Luft. Da gibt es eigentlich nichts.

Miriam: In vielen afrodiasporischen Traditionen wird das Nach-hinten-Blicken, zum Beispiel auf die eigenen Wurzeln und Ahn*innen, ganz anders praktiziert. Das ist sehr wichtig und immer auch mit Empowerment verbunden. Aber dabei geht es um eine andere Art der Erinnerung als im Zusammenhang mit dem Begriff Heimat, weil der im deutschen Kontext lokal fest verortet ist und dieses Lokale so viel mit Grenzen und mit Nationalität zu tun hat. Und wenn wir über Ahn*innen sprechen, hat das sehr viel mit Menschen zu tun, mit ihren Biografien, ihrem Leben und ihrem Wirken. Das ist für mich etwas Anderes als ein Ort, den mensch sein eigen nennt. Und doch gibt es in einigen afrikanischen Erinnerungskulturen auch die Sehnsucht nach und die Verbindung mit einem Ort, an dem zum Beispiel die Ahn*innen begraben werden oder mit dem sich die ethnische Gruppe verbunden fühlt. Aber wenn die Vorstellung von Heimat immer und ausschließlich mit einem Ort verbunden ist, dann kann „Eure Heimat unser Albtraum“ werden.[1] For sure.

Raphaëlle: Hmmm. Ich glaube aber, dass Heimat – vielleicht schon historisch, definitiv heute – kein Begriff ist, der einen Ort beschreiben soll, sondern der die Zäune um den Ort legen soll. Diese Gefühle und Traditionen von Zuhause-Sein, von Zugehörigkeit, von Verbindung zu Land und Ort, die du beschreibst, würde ich ungern mit diesem deutschen Heimatbegriff in Verbindung bringen wollen, weil ich glaube, dass mensch beim Versuch, den Heimatbegriff auszuweiten, immer an dieses Paradox stößt, dass Heimat eben nicht nur der Ort ist, sondern der Ort mit dem Zaun drumherum. Der Ort, der sich nicht verändern darf; der Ort, an dem nicht zu viele oder gar keine Menschen von außen ankommen dürfen, weil die drinnen sonst die Heimat verlieren. Wie fragil das ist! Der Ort an sich ist ja von Migration nicht bedroht. Wenn es wirklich nur um den Ort ginge, müssten sich all diese bekümmerten deutschen Menschen keine Sorgen machen. Der Ort bleibt ja komplett erhalten. Die Tatsache, dass sie aber das Gefühl haben, die Heimat kommt ihnen abhanden, hat damit zu tun, dass es eben immer um den Zaun geht.

Miriam: Und um die Vorstellung, dass die Heimat ihnen allein gehört, also dass sie einen Anspruch auf diesen bestimmten Ort haben, wie durch eine Urkraft. Und wenn diese Verbindung zwischen Anspruch und Ort in Gefahr ist, dann hätten sie das Recht, dafür zu kämpfen.

Raphaëlle: Die Ironie ist: Wenn es wirklich um die Orte gehen soll, auf die gerade viele Menschen mit einem Besitzanspruch blicken, wenn es wirklich darum gehen soll, wer diesen Wohlstand und diese Gebäude und diese Häfen finanziert und wessen Kraft und Arbeit es möglich gemacht hat, dass Paris diese Gebäude hat, die Menschen aus aller Welt besichtigen – wenn so definiert wird, wem das ‚gehört‘, dann sind es eindeutig zu einem großen Teil afrikanische und afrodiasporische Menschen. Ich bin kein Fan von Besitz als Konzept, aber selbst wenn ich da mitgehen würde, macht dieser ‚weiße‘ französische oder ‚weiße‘ deutsche Anspruch auf die Heimat keinen Sinn. Dann ließe sich ziemlich gut argumentieren, dass sie auch den Nachfahr*innen zahlloser Menschen aus afrikanischen Ländern gehört, die dementsprechend jedes Recht haben, sich in Frankreich oder Deutschland aufzuhalten und nicht im Mittelmeer zu ertrinken.

Miriam: Ich will diesen Begriff einnehmen: Was sollte Heimat für uns ausgegrenzte und marginalisierte Personen bedeuten? Wie sollten wir ihn verstehen? Das finde ich fast wichtiger, als ständig auf das ‚Weiße‘ oder auf das Ausgrenzende hinzuweisen. Ich möchte auch bei uns landen. So wie Du es gerade gemacht hast. Die Blickrichtung ändern.

Es gibt etwas Schönes in unseren Briefen, und es ist so wichtig, dass es Raum bekommt. Klar können wir lange darüber sprechen, wie ungesund dieses Konzept ist und wie es von vielen in Deutschland aufgefasst wird. Aber auch ich habe die Nostalgie, einen Ort zu finden, an dem ich ankommen kann, an dem ich sicher bin. Wir können das auch gerne Heimat nennen, aber dann kann ich sie überall bauen, dann kann sie überall entstehen. Diese Sehnsucht, die im Heimatbegriff enthalten ist, existiert bei dir und bei allen, die ich kenne. Es gibt eine Art Sehnsucht nach einem Zustand der Rast, des Ankommens, des Schöpfens und Dazugehörens. Wenn wir ausgegrenzten und marginalisierten Personen das von dieser Gesellschaft nicht bekommen, werden wir Schwierigkeiten haben, uns diesen Ort zur Heimat zu machen. Das heißt aber nicht, dass hier nicht schon längst bestimmte Heimaten existieren. Zum Beispiel wenn wir Heimat in Schwarzer Schwesternschaft empfinden.

Raphaëlle: Das stimmt. Trotzdem geht es mir auch um den Begriff. Heimat ist so besetzt mit Gewalt und Ausgrenzungsmechanismen. Was wir uns geschrieben haben, die Art und Weise, wie wir über diese Sehnsucht sprechen, ist so differenziert und so offen, dass ich sie nicht unbedingt mit dem Begriff Heimat in Verbindung setzen will. Wir haben beide in unseren Briefen über Unruhe versus Sicherheit gesprochen, über ein Gefühl von Zuhause, von Geborgenheit und Sicherheit. Ich frage mich, ob wir gerade versuchen, unser Gefühl in diesen Heimatbegriff reinzustecken, in der Hoffnung, dass wir den Begriff damit irgendwie erweitern können. Da wäre meine Frage: Does that make sense? Wollen wir nicht lieber über unsere Sicherheit, Unsicherheit, Zugehörigkeit, unser Zuhause sprechen, mit den Begriffen, die sich auf Anhieb besser anfühlen? Denn sonst passen wir uns ja wieder einem bestimmten Narrativ an, und selbst wenn wir über uns reden, sind wir schon wieder bei der Dominanzgesellschaft, weil wir deren Strukturen und Narrative übernehmen.

Miriam: Das betrifft auch die Frage, ob mensch die Sprache, den Begriff für sich vereinnahmen kann. Kann mensch ihn „occupyen“, kann mensch ihn transformieren? Oder müssen wir uns von dieser Sprache und diesem Begriff verabschieden? Und nicht nur von diesem: Wo ist die deutsche Sprache überall verletzend? Wo steckt schon in der Sprache selbst ein Ausschlussmechanismus oder ein Mechanismus, der für marginalisierte Menschen verletzend ist?

Ich muss darüber nachdenken, ob ich den Begriff einfach aufgeben möchte, weil es auch wichtig sein kann, die Transformation zuzulassen, und nicht sofort zu canceln, im Sinne von: Das ist dann halt euer Begriff. Nee, es ist auch meiner, aber ich möchte ihn so nutzen und anders aufladen.

Raphaëlle: Wenn wir sagen, wir wollen den Begriff weiterhin verwenden, dann kann es nur eine wirkliche Wiederaneignung sein, wie in den USA mit dem N-Wort. Und da gibt es zwei sprachliche Strategien: Die eine ist die Wiederaneignung, und die andere wäre, zu sagen, man verwirft den Begriff, beziehungsweise man überlässt ihn zum Beispiel Rassist*innen, aber nicht weil man ihn aufgibt, sondern weil er eigentlich immer schon zu ihnen gehörte und man aufhört, so zu tun, als wäre der Begriff neutral und könnte durch alle Münder gehen.

Dadurch bekommt man vielleicht eine Klarheit darüber, was der Begriff eigentlich bedeutet. Meine Befürchtung ist: Wenn wir versuchen, ihn uns anzueignen, wird das von vielen Menschen, die diesen Begriff vielleicht weniger problematisch sehen, nicht als Aneignung im Sinne einer fundamentalen Neubesetzung wie beim N-Wort gesehen, sondern als Beweis für die ‚Wiedergutwerdung‘ des alten Begriffes, jetzt, wo er vage diversifiziert wurde. Und damit vertuschen wir diese Geschichte und diese Gewalt und diese bestimmte Weltanschauung, die in diesem Begriff drinsteckt. Daher kommt mein Störgefühl.

Miriam: Wir beide tragen unterschiedliche Kulturen in uns, und sie sind nicht klar voneinander zu trennen. Wir würden also diesem reinen deutschen Heimatgefühl ständig hinterherlaufen, denn das passt nicht zusammen. Das heißt, du passt nie in diese eine Vorstellung. Und im Grunde denke ich, da passt eigentlich niemand wirklich rein.

Raphaëlle: Ich denke, dass nicht nur wir dem hinterherlaufen und ewig hinterherlaufen könnten, sondern 99 Prozent oder vielleicht sogar 100 Prozent der Menschen. Da geht es vielleicht nicht nur darum, die Kulturen von zwei Ländern in sich zu tragen, sondern von zwei sozioökonomischen Klassen. Und wenn es das nicht ist, dann sind es zwei Städte oder es ist das Dorf, aus dem man kommt und die Stadt, in der man lebt. Es gibt alle möglichen Variationen dieser vermeintlichen Zerrissenheit.

Miriam: Aber die Angst, dass diese Heimat wegen uns ins Wanken gerät, weise ich zurück. Denn wir gehören schon längst zu dieser Heimat und zu vielen anderen, weil diese Vorstellung von Heimat als etwas Statischem nie der Realität entsprochen hat, nie. Deswegen ist diese Nostalgie absolut ausgrenzend.

Raphaëlle: Darum finde ich auch diesen Begriff von homing desire so interessant. Normalize the longing! Die Sehnsucht, die manchmal auch Zerrissenheit genannt wird, ist nicht etwas, das von der Norm abweicht – wo die Norm so etwas wäre wie eine klar benennbare Herkunft, ein Heimatgefühl, eine Selbstverständlichkeit, von der die Sehnsucht und Zerrissenheit dann abweicht. Die Art, in der ich gerne über heimaten als Verb nachdenken möchte, findet ihren Platz tatsächlich genau in dieser Sehnsucht, in diesem longing.

Ich glaube, dass es mir damit ziemlich gut gehen könnte, wenn ich nicht seit zwanzig Jahren hören würde, dass diese Sehnsucht ein Problem ist. Ich glaube, das Problem wurde mir aufgedrängt, bevor ich überhaupt selbst herausfinden konnte, ob es ein Problem für mich war. Indem es eben Zerrissenheit statt Sehnsucht genannt wurde. Klar, wenn du seit deinem fünften Lebensjahr die ganze Zeit irgendwas von Ärschen zwischen den Stühlen hörst – das klingt unglaublich unbequem, natürlich wünscht sich das niemand. Und dann musst du diesen weiten Weg gehen und darüber nachdenken: Hey, ist das eigentlich für mich so unbequem? Oder ist die Metapher einfach scheiße?

Miriam: Ich glaube, das hat dein Roman Adikou deutlich aufgezeigt. Auf der einen Seite sucht mensch nach seinem Ich. Aber die Suche nach einer oder der Heimat wird dir aufgebürdet. Und die Traurigkeit, der Stress und die Paranoia kommen daher, dass du denkst, du musst sie finden. Anstatt zu sagen: Du hast sie längst. Oder sie kann noch entstehen. Von außen wird mir aber ständig gesagt: „Du musst dich entscheiden. Du musst auf den einen Stuhl oder auf den anderen.“ Ich habe immer gesagt: „Hört auf! I'm all of it.

Es geht auch gar nicht. Aber du versuchst ständig, alles zugleich zu sein. Deswegen entsteht ein zusätzlicher Schmerz. Also nicht nur der Schmerz, wer bin ich? Den müssen alle für sich durchmachen. Sondern der Schmerz, der von einer rassistischen Vorstellung von Identität kommt. Von einer Abgegrenztheit, einer Starrheit von Kultur, die keine Vielfalt, Pluralität, Gleichzeitigkeiten zulässt. Aber wir leben in diesen Gleichzeitigkeiten.

Raphaëlle: Was mir jetzt auffällt: Dein Brief endet mit dieser Frage nach der Angst. „Wie schaffen wir Räume und Heimaten, frei von Ängsten?“ Nach allem, was wir gesagt haben, habe ich fast das Gefühl, dass es ein inhärentes Paradox ist, nach der Heimat ohne Angst zu suchen. Weil die Suche nach der Heimat, wie du sagst, schon so viel Stress und Trauer und eben auch Angst auslöst. Vielleicht ist Heimat ein Konzept, das – zumindest so, wie es uns beigebracht und erklärt wurde – in Konflikt steht mit der Art, wie wir leben, wie wir lieben. Und in Konflikt mit der Freiheit, die es in dieser Sehnsucht gibt. Das ist das Tolle an Sehnsucht: Sie ist so sehr mit Imagination verbunden. Da ist alles möglich. In der Sehnsucht ist die Gleichzeitigkeit möglich. In der Sehnsucht sind diese parallelen Geografien möglich, diese Verbindungen. Das befreit mich ein bisschen von der Angst, irgendetwas falsch zu machen. Ich glaube, ich habe den Roman auch geschrieben, weil ich immer das Gefühl hatte, irgendwie mache ich ständig was falsch. Irgendwie passt mein Leben überhaupt nicht …

Miriam: … in die Heimat.

Raphaëlle: In die Heimat, genau. Und ich dachte: Was mache ich denn die ganze Zeit falsch?

Wenn ich das nächste Mal diese vage Sehnsucht habe und denke, ich habe ja keine Heimat, meine Heimat wird mir abgesprochen, werde ich das auseinandernehmen und fragen: Moment, was ist gerade das Objekt meiner Sehnsucht? Will ich an einen vertrauten Ort? Denn ich weiß, was meine vertrauten Orte sind. Ich weiß, wie es da riechen muss, und ich weiß, wie es sich da anfühlen muss. Oder geht es mir darum, die Sprache zu hören, die mir am vertrautesten ist? Oder geht es um das Essen oder um das Gefühl, nicht zurückgewiesen oder zurückgestoßen zu werden? Da kann ich immer überlegen: Wo kann ich mir dieses Gefühl jetzt holen? Damit kann ich mir besser dabei helfen, mich sicher und frei zu fühlen, als beim Versuch, mit diesem Heimatding irgendwie klarzukommen.

Miriam: Was wir gerade machen, erinnert mich an Stuart Halls Texte, in denen er die Nationalität aufbricht. Ich habe gar nicht den Anspruch, mich so krass mit dem Begriff Heimat und diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Weil ich merke, dass ich gefrustet bin, wenn es sehr wissenschaftlich wird. Und ich habe auch nie den Anspruch auf etwas Abgeschlossenes.

Deswegen gibt es auch ständig Fernweh. Weil ich Butterbrezel liebe, aber ich liebe auch Injera. Ich liebe die Weite der ostafrikanischen Savanne, aber ich liebe auch den Schwarzwald, das Allgäu, I want it all. Aber dadurch, dass diese Orte so weit voneinander entfernt sind, erfüllt mich ständig eine Sehnsucht und dadurch vielleicht auch eine Zerrissenheit. Ich kann nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein. Vielleicht geht es darum: damit umgehen zu können und das nicht so schlecht zu reden – was wiederum damit zu tun hat, was uns eingeredet wurde. Wir sind die armen verwirrten Opfer und die Unreinen. Aber nein. So fühlten sich schon so viele Menschen vor uns. Und deswegen Heimaten, weil ich denke, all that is my heimaten.
 

 

[1] Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah (Hg.), Eure Heimat ist unser Albtraum. Erweiterte Neuausgabe. Berlin: Ullstein, 2024.