7. November 2024
Khuê: Ich schreibe dir aus Taiwan, einem Land, das ich zum ersten Mal besuche und dessen schwere, warme Luft für mich dennoch sofort nach Heimat roch. Vielleicht sind es die Abgase der Mopeds, vielleicht auch der würzige Geruch der Suppen, die in offenen Töpfen am Straßenrand zubereitet werden, mit Rinderknochen, die so lange in der Brühe köcheln, bis sie die Farbe von schmutzigen Pfützen annimmt. Laufe ich durch die Straßen, sehe ich die grellen Leuchtreklamen aus Tokio, die verwinkelten Einkaufszentren aus Hongkong und das Nebeneinander von Alt und Neu aus Singapur. Vor allem aber sehe ich Häuser wie in Vietnam, der Heimat meiner Eltern: schmal und hoch wie Türme aus Legosteinen, die man aufrecht in die Gegend gebaut hat, mit Rolläden anstelle von Türen.
Ich sehe auch Leute, die wie ich eine schmale Statur und schwarze Haare haben. Auf Chinesisch sprechen sie mich an und sind ganz überrascht, wenn ich ihnen antworte: „Sorry, I don’t speak Chinese. I’m from Germany.“
Manche helfen mir – wie ich mir einbilde, aus asiatischer Solidarität. Ein Mann, den ich in einem Einkaufszentrum nach dem Weg zu einem Restaurant für taiwanesische Nudelsuppe fragte, kannte es zwar selbst nicht, fragte aber den Inhaber eines Geschäfts, der mich dort hinführte. Das Restaurant war ein kleiner Laden in einem Keller, keine Fenster, cash only, die Suppe nicht mal 5 Euro die Schale. An der Wand hingen die roten Plaketten des Michelin-Führers, der das Lao Shan Dong sechs Jahre in Folge empfohlen hatte. Die Kellner*innen sprachen untereinander Vietnamesisch, und als es darum ging zu bestellen, war ich erleichtert: Endlich konnte ich mich halbwegs verständigen!
Als ich dann meine (hervorragende) Nudelsuppe aß, fiel mir ein, dass ich am Flughafen hinter einer Gruppe junger Vietnamesinnen gestanden hatte, und dass alle Hinweisschilder auf Mandarin, Taiwanesisch, Englisch und Vietnamesisch verfasst waren. Die Menschen aus Vietnam kommen hierher, um zu arbeiten, manche heiraten, um den Sprung in eine wohlhabende Gesellschaft zu schaffen. Fast schmerzhaft wurde mir die Hierarchie der asiatischen Länder bewusst und damit auch, dass die Vietnames*innen, meine Leute, eher unten stehen. In Deutschland, wo es so wenige Asiat*innen gibt, dass alle auf der gleichen Stufe zu stehen scheinen, denke ich darüber nie nach.
In dem Nudelsuppenrestaurant aber wurde es mir klar. Und damit auch die Dinge, die meine Erziehung geprägt haben: das ewige Gefühl, sich nach oben arbeiten zu müssen. Der ewige Versuch, den eigenen Platz zu beweisen, weil man nicht automatisch irgendwo dazugehört. Lange habe ich das Wort „Heimat“ deshalb als Ausgrenzung verstanden: Andere besaßen sie, ich musste darum kämpfen. Kennst du dieses Gefühl?
10. November 2024
Deniz: Ich habe deine Nachricht aus Taiwan im Zug gelesen. Im Zug von Berlin nach Hannover. Auf dem Weg aus der Stadt, in der ich lebe, in jene, in der ich aufwuchs. Es existiert eine Heimatlichkeit des Unterwegsseins. Ich meine das nicht als Geborgenheit, sondern als gelebte Verweigerung einer radikalen Ansässigkeit, die keinen Halt zu bieten vermag. Nicht in dieser Welt, die sich immer stärker verwebt und gleichzeitig auseinanderbricht. Wir wollen über „Heimaten“ nachdenken. Und ich merke, ich blockiere schon, bevor der erste Gedanke gefasst ist. Viele Menschen haben keinen Zutritt zu den Ländern, in denen sie leben wollen, oft genug nicht zu jenen, in denen sie geboren wurden, begeben sich in Gefahr, sterben oder verlieren ihr Zuhause und geliebte Menschen. Die sehr menschliche Sehnsucht nach Zugehörigkeit steht der Solidarität der Menschen untereinander im Weg. Das Zugehörigkeitsbegehren erweist sich mehr und mehr als ein Akt der Verzweiflung.
Ähnlich wie du bin ich in dem Wissen aufgewachsen, doppelt so hart arbeiten zu müssen wie andere – meine Eltern kamen 1962 und 1981 aus der Türkei nach Deutschland. Heute frage ich mich, wo diese Anstrengung, die ich trotz der Ungerechtigkeit so sehr liebte – ja, tatsächlich: ich liebe die Anstrengung –, hinführen soll. Die Welt zerbricht. Bomben fallen. Kinder, die keine Verantwortung tragen sollten, verwaisen, verkrüppeln, sterben. Der Faschismus tritt weltweit aus dem Schatten ins Licht. Gestern vor 86 Jahren fanden die Novemberpogrome in deutschen Städten statt. Heimat? Ist es nicht eine Form von Ausflucht, jetzt über einen so antiquierten Begriff nachzudenken?

Deniz Utlu & Khuê Phạm, Foto: Hanna Wiedemann / HKW
13. November 2024
Khuê: Sehr lange ging es mir wie dir – ich habe mich im Transit heimischer gefühlt als Zuhause, denn in Bewegung zu sein gab mir Sicherheit und etwas zu tun, während das An-einem-Ort-Sein und das Innehalten etwas Bedrohliches hatten. Schon als Kind war ich rastlos und hektisch; war nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit dem Kopf an tausend Orten zugleich. Später, viel später, habe ich mich mit Achtsamkeit beschäftigt, um meine wiederkehrende Schlaflosigkeit zu bekämpfen. Erst da wurde mir bewusst, wie viel Disziplin es erfordert, sich nicht ständig aus dem Moment zu flüchten, sondern in ihm zu verharren.
Stammt diese Unruhe daher, dass wir Entwurzelten keinen festen Boden unter den Füßen haben? Oder ist diese Erklärung zu einfach? In meinem Fall hat sie, glaube ich, auch etwas mit Reden, beziehungsweise Schweigen zu tun. In der Geschichte meiner Familie gibt es viele Wunden, die durch Verdrängung geheilt werden sollten; sie beginnen mit den Kriegserfahrungen meiner Eltern und Verwandten in Vietnam und münden in die Kämpfe, die meine Geschwister und ich mit meiner Mutter und meinem Vater ausgefochten haben. Auch uns ging es um Heimat: Wir wollten wie deutsche Teenager sein, also über deren Freiheiten verfügen, meine Eltern sahen uns jedoch als vietnamesische Kinder an und erzogen uns autoritär. Weder damals noch heute haben wir über diese Gräben zwischen und in uns gesprochen; ich glaube, das erzeugt meine innere Unruhe.
Hier in Taiwan denke ich viel über Donald Trumps nationalistische Revolution in den USA nach und darüber, was sie für uns alle bedeuten könnte. Ich bin hier auf Tour mit KIM, der Bühnenadaption meines Romans Wo auch immer ihr seid, einer globalen Familiengeschichte, die von Flucht, Verdrängung und dem langen Schatten des Vietnamkriegs handelt. Eine Tänzerin, mit der ich auftrete, stammt aus der Ukraine und lebt mit einer Sondergenehmigung für ukrainische Flüchtlinge in Seattle. Wird sie dort weiter wohnen können, oder muss sie in ihre Heimat zurück? Wieviel wird davon noch übrig sein, wenn die neue US-amerikanische Regierung ihre Hilfe für die Ukraine reduziert und einen „Waffenstillstand“ durchsetzt?
An einem Abend in Xinying sprach ich darüber mit David Le Thai, einem DJ, Balletttänzer und Skater, der mir in unserer Show immer wieder wegen seines Humors auffällt. Unsere Beine waren müde von den Proben, wir saßen draußen vor unserem Hotel mit den dünnen Wänden. David ist der Sohn einer deutschen Mutter und eines vietnamesischen Vaters, den er erst mit 15 kennengelernt hat. (Sein Stiefvater, mit dem er in den 90er Jahren in Sachsen aufwuchs, ist ebenfalls Vietnamese.) David erzählte mir, dass damals in dem Textilgeschäft seiner Familie so oft die Scheiben eingeworfen wurden, dass sie es irgendwann schließen mussten. Ihr Auto wurde mehrfach mit Molotow-Cocktails beworfen und ist schließlich – zum Glück saß niemand drin – explodiert.
„Und was hat das mit dir gemacht?“, fragte ich ihn.
„Ich hatte das Gefühl, wir waren bei denen im Visier“, antwortete er. „Weil wir die einzigen Vietnamesen dort waren.“
Er hielt inne und blies den Rauch seiner Selbstgedrehten aus.
„Mir fällt gerade ein, dass wir ja mal ein Haus mit einem Restaurant in Krögis hatten, das auch in Brand gesteckt wurde. Das hatte ich total verdrängt.“
Mich erstaunte, dass er all das ohne Wut oder Verbitterung erzählte, aber vielleicht stellt man seine Gefühle irgendwann ab, wenn man rassistischer Gewalt so oft ausgesetzt ist. Vielleicht hatte ich in diesen Tagen zu viel über Trump, Stephen Miller und „they poison the blood of our country“ gelesen, aber ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass er es doch viel einfacher gehabt hätte, wäre dieser vietnamesische Vater oder besser gesagt: wären die Väter nicht gewesen.
„Als ich klein war, wurde darüber nicht viel geredet“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Es war dann nur so, dass wir irgendwann umziehen mussten.“
Ich frage mich, ob die Anerkennung, die man als Erwachsene*r erfährt, je wiedergutmachen kann, was man als Kind an Ausgrenzung erleben musste. Wahrscheinlich nicht. Psycholog*innen sagen, dass uns die frühen Erfahrungen von Zugehörigkeit, Akzeptanz und Sicherheit ein Leben lang prägen. Lange habe ich damit gehadert, aber inzwischen denke ich, dass auch die Fragen, Lücken und Widersprüche ihre Relevanz haben. Für mich sind sie der Grund zu schreiben. Bei meinen Lesungen und Auftritten treffe ich oft Menschen, die ganz anders aufgewachsen sind als ich und dennoch ganz ähnliche Fragen in sich tragen. Selbst hier in Taiwan.
25. November 2024
Deniz: Ich schreibe dir aus dem Flugzeug. Ich bin auf dem Weg nach Washington, übermorgen stelle ich dort meinen Roman Vaters Meer vor. Ich schreibe dir, während ich mit 800 Stundenkilometern oberhalb der Wolken fliege. Ich habe also wieder einmal keinen festen Boden unter den Füßen. Aber das hat nichts mit Entwurzelung zu tun. Ich fühle mich nicht entwurzelt, habe nie verstanden, was damit gemeint sein soll. Die Stadt meines Vaters, Mardin, ist 5000 Jahre alt und schaut vom Hang eines Berges auf Mesopotamien, wo vor über 4500 Jahren eine der ältesten verschriftlichten Erzählungen entstand: Gilgamesch. Die Melancholie, die ich empfinde, weil sich die Stadt verändert hat und nicht mehr jener aus der erinnerten Kindheit meines Vaters entspricht, ist die Melancholie des Wandels und des Wissens darum, dass alles endlich ist. Wenn damit Entwurzelung gemeint ist, dann ist sie eine conditio humana.
Eben habe ich aus dem Audioangebot des Flugzeugs in Wilhelm Meisters Lehrjahre von Goethe hineingehört. Wilhelm sucht gerade einen alten Harfenspieler auf, einen Fremden, mit dem er lieber seinen Abend verbringt als mit der Theatergruppe, der er sich angeschlossen hat. Der Harfenspieler singt ihm traurige Lieder, und Wilhelm sagt: „Ich finde dich sehr glücklich […], da du überall ein Fremdling bist, in deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest.“ Das Leben im Transit und die Neigung zu Aufbrüchen kann uns in den Tiefen unseres Selbst Wissen über Endlichkeit und Unendlichkeit finden lassen, und vielleicht sogar die Fähigkeit, die eigene Existenz in ihrer Endlichkeit zu genießen.
Meine Orte werden Teil meiner Geschichte, der Kartografie meines Gedächtnisses, ich gehöre ihnen nicht, und sie gehören nicht mir.
*
Tags darauf, es ist Sonntag, ich sitze in einem Café einer Seitenstraße der 14th Street in Washington, D.C. Gestern nach der Ankunft bin ich in den nächsten Ramen-Laden gegangen, und der Kellner hat mich gefragt, welchen Schärfegrad auf einer Skala von eins bis zehn ich wollte. Ich sagte sieben, es war perfekt. Ich habe mich gefragt, ob die Suppe mich so begeisterte, weil ich hungrig war oder weil sie hier etwas anders machen. Meine Theorie ohne empirische Grundlage: In den USA passt sich der Geschmack der Gesellschaft den kulinarischen Angeboten der Migration an, wohingegen es in Deutschland umgekehrt ist – weniger scharf, weniger gefährlich.
Ich bin in den 90ern aufgewachsen, so wie du. Ich erinnere mich genau an die rassistischen Angriffe in Rostock-Lichtenhagen und Solingen. Nach Lichtenhagen höhlte der Bundestag Artikel 16 des Grundgesetzes aus, das Recht auf Asyl, obwohl die Verfasser*innen die ersten zwanzig Artikel mit einer Ewigkeitsklausel belegt hatten. Und meine Mutter ließ mich nicht unbeaufsichtigt auf den Straßen spielen, weil sie Angst vor Neonazis hatte. Das war keine Paranoia, sie streunten mit ihren Hunden durch das bürgerliche Viertel, in dem ich aufwuchs. Ich hatte keine Angst vor ihnen, weil ich mich in unserer Gegend sicher wähnte, außerdem hatte ich das Gefühl, dass die älteren türkischen Jungs auf dem Bolzplatz aus der Ferne auf mich aufpassten.
Ich bin in einer liberalen, säkularen Familie aufgewachsen und habe keinen echten Unterschied zu den Familienleben meiner Freunde gesehen. Höchstens das: Bei uns mussten die Schuhe ausgezogen werden, es war wichtig, vor Älteren Respekt zu haben und Jüngeren gegenüber eine Schutzpflicht zu empfinden. Brot war heilig, und wenn man ein Stück auf der Straße fand, musste es aufgehoben werden. Man sollte es sogar küssen und an die Stirn führen, weil ein Stück Brot Gottes Hand sein könnte. Deshalb stellte ich mir Gott lange als ein unendlich großes Fladenbrot vor.
Meine Eltern haben keinen Krieg erfahren, dafür aber drei Militärputsche. Sie sind mit den türkisch-republikanischen Werten aufgewachsen, die sich an einer Illusion von Europa orientieren und an öffentlichen Schulen vermittelt wurden. Sie waren die Kinder eines untergegangenen großen Reichs und einer feudalen Gesellschaft: Ihre Eltern waren noch im Osmanischen Reich geboren. Dass meine Eltern daher – vielleicht, ohne es zu merken – die Widersprüche der Moderne in sich trugen, wurde mir später durch die Arbeit an meinen Romanen klar.
Während ich das alles für dich aufschreibe, merke ich, dass ich bescheidener sein muss in meinen Auffassungen. Wir sind im selben Land aufgewachsen, aber unsere Erfahrungen sind unterschiedlich. Die Erfahrung einer vietnamesischen Familie ist eine andere als meine, auch die Erfahrung als migrantisierte Frau ist eine andere als meine.
Danke, dass du mir von deiner Jugend erzählst. Als ich 13 Jahre alt war, wurde mein Vater zum Pflegefall. Dieses Schicksal teile ich mit meinem Erzähler Yunus aus Vaters Meer. Und es hat alles andere in der zweiten Hälfte der 90er Jahre überlagert. Als dann in den Nullerjahren Fernsehfilme die deutsche ‚Multikulti‘-Erfahrung darstellen wollten, indem ein unbeholfener Hans in der Familie einer Ayşe um deren Hand anhielt, war ich einfach raus: Ganze Familien werden von Neonazis ermordet, und ihr seht das große Integrationsdrama in irgendwelchen orientalen Hochzeitsklischees? Echt jetzt?
4. Dezember 2024
Khuê: Ich schreibe dir aus meinem Zuhause am nördlichen Zipfel von Berlin, wo ich aufgewachsen bin und nun wieder lebe. Nie hätte ich gedacht, dass ich freiwillig an diesen Ort zurückkehren würde, mit dem ich die geistige Enge der 90er Jahre und die Entfremdung während meiner Jugend verbinde. Und doch bin ich hier wieder gelandet und nach jeder Reise froh, die Haustür aufzuschließen. Die Vertrautheit und Ruhe fangen mich auf. Meine Eltern und meine Schwester wohnen gleich um die Ecke, mit meinem vierjährigen Sohn radele ich jeden Morgen durch ein Naturschutzgebiet zur Kita, am Nachmittag holen ihn meine Eltern oft dort ab. Wir sind nun eine kleine Community mit mehreren Generationen. Manchmal denke ich: Wir haben uns eine neue Heimat gebaut.
Ich kann nur erahnen, wie sich dein Leben verändert hat, als dein Vater zum Pflegefall wurde. Aus deinem Buch lese ich eine große, traurige Zärtlichkeit heraus. Habe ich dir schon mal gesagt, was mir an dir als Erstes auffiel? Eine besondere Sensibilität und das ehrliche Bemühen, dein Gegenüber zu verstehen. Die Empathie, die du ausstrahlst, trifft man selten. Ich glaube, sie ist ein Grund dafür, warum dein Buch so viele Menschen berührt, nun auch in den USA und Mexiko. Denkst du, sie hat auch mit deinem Vater zu tun?
Mein Vater war für mich der Mann, der stetig voranging. Vietnamesischer Arzt in einem deutschen Krankenhaus, immer im Dienst, nie eine Klage. Als sein Chef in Rente ging, hat er stolz über meinen Vater gesagt: „In all den Jahren hat sich Thoại nicht einen Tag krank gemeldet!“
Als Kind hatte ich immer meinen Vater und seinen Weg vor Augen. Ohne dass meine Eltern es so gesagt hätten, hatte ich verinnerlicht, dass ich weiterkommen musste als sie, da ich doch hier geboren bin und perfekt Deutsch spreche. Alles andere wäre mir nicht nur wie ein persönliches Versagen erschienen, sondern auch als Verrat an all den Opfern, die sie, als erste Generation, für mich, die zweite Generation, erbracht haben. Das war und ist mein Verständnis vom Leben in Deutschland: Es ist eine Strecke, die es zurückzulegen gilt, mit einem höheren, undefinierten Ziel.
Lange habe ich Deutschland gleichzeitig idealisiert (da ich ja ankommen wollte) und abgewertet (da ich mich nicht akzeptiert fühlte). Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 denke ich wieder viel darüber nach. Denn der Krieg hat neben seinen zigtausenden zivilen Opfern auch eine Debatte darüber hervorgebracht, was es bedeutet, deutsch zu sein.
Mir fällt auf, dass ich darauf mit anderen Gefühlen blicke als viele meiner Freund*innen und Kolleg*innen, die aus Familien stammen, die ‚schon immer‘ deutsch waren. In meiner Familie gibt es keine Täter*innen, Mitläufer*innen oder Held*innen aus der Zeit des Holocaust; ich kenne weder den persönlichen Bezug dazu (mir fällt gerade kein besserer Begriff dafür ein), noch das Gefühl, die historische Schuld meiner Vorfahren auf meinen Schultern zu tragen.
Auch das ist wieder ziemlich unbeholfen formuliert, aber wahrscheinlich ist diese Unbeholfenheit Ausdruck meiner allgemeinen Verunsicherung, denn kein anderes Thema ist so heikel und aufgeladen für die nationale Identität; auch bei als Deutschen Geborenen gibt es diese Übertragung von einer Generation auf die nächste, den langen Weg, den es zurückzulegen gilt. Ein falsches Wort, ein missverständlicher Post oder, wie bei Claudia Roth während der Preisverleihung der Berlinale 2024 geschehen, ein uneindeutiges Klatschen, und man landet in der No-go-Area der deutschen Debatte. Mit seinen vielen Tabus macht dieser Diskurs es noch unerträglicher, diesen grausamen Krieg mitanzusehen, in dem Unschuldige in Tunneln gefangen gehalten werden, Kinder aus dem Schutt ihrer Schulen geborgen werden und Gaza in die Steinzeit bombardiert wird.
Wie hast du deine Tage in den USA erlebt? Wie war es in Washington, so kurz nach dem zweiten Wahlsieg von Trump?
14. Dezember 2024
Deniz: Ich schreibe diesen Brief an dich in der hinteren Ecke einer Jazzbar in Mexiko-Stadt. Per Hand, auf die letzten Seiten meines Notizhefts. Der Raum ist rot. Die Wände, das Schlagzeug, die Jacke der Kellnerin, alles rot. An runden Tischen mit Thonet-Stühlen sitzen Gruppen in Abendgarderobe oder Holzfällerhemden. Sie unterhalten sich laut, mit grellen Stimmen. Die Bar ist eine herrschaftliche Wohnung im Kolonialstil. Die Zimmer sind gemütlich eingerichtet mit Sofas und Sesseln, auch sie sind rot. An den Wänden hängen Spiegel, um das Rot zu vervielfachen. Wer sich einmal in Kreuzberg zuhause fühlte, wird es auch in Beyoğlu, in Williamsburg oder hier in Roma Norte tun.
Deshalb staune ich, wenn von unterschiedlichen „Heimaten“ die Rede ist. Als würde man jetzt an den Debatten der industriellen Zeit scheitern. Schon im 19. Jahrhundert beschrieben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest die Globalisierung, auch wenn es das Wort nicht gab, als eine „kosmopolitische“ Vereinheitlichung der Welt. „Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.“ Die Privilegierten aller Länder, darunter eben auch Autor*innen und Künstler*innen, treffen sich in der leuchtenden, verspiegelten Bar, zu der die Welt geworden ist.
Die Band fängt an zu spielen. Die Musiker wählen zum Einstieg ein Stück von John Coltrane. Sie sehen aus wie Rocker, aber spielen Jazz. Der Gitarrist schwitzt voller Genugtuung beim Improvisieren. Ihre Zuhörenden sind jung. Viel jünger als in den Jazzbars Berlins.
Es ist schön hier. Wirklich. Das Bild ist aber unvollständig, es gibt ein Hinterzimmer, das man nicht immer zu Gesicht bekommt. Während wir hier einer Jazzband zuhören, haben die Drogenkartelle die Macht. Ich weiß nicht, ob es hier, in dieser Bar, ein Hinterzimmer gibt, in dem schmutzige Geschäfte gemacht werden. Irgendwo gibt es jedenfalls so ein Zimmer.
Aber es geht nicht um Mexiko, wir vorerst Verschonten sind global verwoben mit Leid: über Lieferketten, Waffenlieferungen, Entscheidungen von Regierungen, die wir wählen, durch das Wissen, das wir haben. In einer Welt, in der die materiellen und „geistigen Erzeugnisse Gemeingut werden“, existiert das Potenzial einer Rettung, eines gemeinsamen Denkens, und es existiert das Risiko, auch die Zerstörung zu verallgemeinern.
Du fragst nach Washington. Ich kann dir erzählen, wie ich die 14th Street auf und ab lief und wie glücklich die Menschen dort wirkten, so gesund in ihren Yoga-Leggings, mit breiten Schultern und trainierten Armen trotz ihrer sechzig Jahre. Aber alle fünfzig, allenfalls hundert Meter, begegnete ich einem, dessen Augen wahnsinnig sind. Einem, der zerbrochen ist an dieser Gesellschaft. Es ist schön hier, wirklich, aber das Hinterzimmer.
Vor einigen Tagen habe ich hier eine Schule auf dem Land besucht, etwa 80 Kilometer vor der Stadt Guadalajara. Es waren hunderte Jugendliche aus der Provinz dort, die aus bescheidenen Verhältnissen kommen. Eine Schülerin und ich – sie auf Spanisch, ich auf Deutsch – lasen aus Vaters Meer vor. Dann haben die Schüler*innen Fragen gestellt. Viele wunderbare, tiefgründige Fragen. Eine Schülerin fragte, ob es für mich als Schriftsteller ein bestimmtes Thema gebe. Ich antwortete: „Ich suche nach einem Umgang mit der Endlichkeit des Lebens. Das ist die eine Sicherheit, die wir haben: Das Leben wird enden. Wie gehen wir damit um? Ich glaube, dass Gewalt und Machtbegehren auf einem Missverständnis beruhen: Wir vergessen, was wir gemeinsam haben, dass wir nur befristet hier sind. Angesichts dieses gemeinsamen Schicksals haben wir die Möglichkeit, zueinander zerstörerisch zu sein oder liebevoll. Es ist eine Entscheidung. Die Zerstörung mag intuitiv sein: den Anderen zerstören oder unterwerfen, um mehr für mich zu haben in dieser kurzen Zeit, die mir gegeben ist. Genau das ist das Missverständnis. Alles Leben liegt in der Begegnung. Angesichts eines endlichen Lebens kann der einzig sinnvolle Umgang miteinander nur der liebevolle sein.“ Nachdem übersetzt wurde, was ich gesagt habe, jubelte der ganze Hof. Ich fragte die Übersetzerin, was passiert ist. Sie sagte: „Sie stimmen dir zu.“
*
Du schreibst, in der Diskussion über Israel und Gaza werde implizit verhandelt, was es bedeutet, deutsch zu sein. Das mag für Deutschland so sein, aber dort, wo die Menschen sterben, ist es egal, ob wir deutsch sind oder nicht oder inwieweit wir uns so fühlen. Gleichzeitig haben die Debatten darüber durchaus Einfluss auf die Politik und die Kapazitäten der Solidarität. Ich frage mich: Was bedeutet das für unsere Menschlichkeit und unsere Verantwortlichkeit?
Darüber habe ich bei einem Bühnengespräch mit Sasha Marianna Salzmann geredet. Vielmehr haben wir nach Worten gesucht für die Möglichkeit eines Gesprächs. Wir sprachen über unsere Romane, wie sie und wie wir in Korrespondenz zueinander stehen, wir sprachen über das Schreiben als gemeinsamen Denkprozess über Dekaden hinweg, und wie sich das Land, in dem wir leben, in der Zeit gewandelt hat, und was das mit unserem Denken gemacht hat. Etwas ist mit der Gesprächskultur passiert. An die Stelle von Zuhören und Verstehen treten Verdacht und missgünstige Deutung.
Sashas Stück Danja, mein dementes Jahrhundert stand an diesem Abend im Fokus. Es handelt von einem jüdischen Großvater, der in der Sowjetunion aufgewachsen ist und in Deutschland nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober drei Schlaganfälle erleidet. Es war so still im Raum, als wir die Reste einer Sprache versammelten für ein ehrliches Gespräch, man konnte fast das Zuhören selbst hören. Der angehaltene Atem der Zuhörenden hatte auch etwas damit zu tun, dass es sich gefährlich anfühlt zu sprechen, wenn das Thema auch nur mittelbar Israel und Gaza streift. Sasha und ich dachten darüber nach, was Verantwortung in einer Welt bedeutet, in der alle wissen und sehen, was an verschiedenen Orten, was in Gaza, geschieht. Eine Überlegung war, ob die eigene Verantwortung sich nicht auf den unmittelbaren Ort unseres Wirkens begrenzen soll, in unserem Fall also auf Deutschland.
Würde Verantwortung dann nicht darin liegen, den impliziten Zugehörigkeitsdiskurs explizit zu machen? Oder wenigstens seine Modalitäten zu verstehen? Müssten wir uns die Begriffe in den Debatten nicht genauer anschauen? Hinterher sagten mir einige Zuschauende, dass sie sich so ein offenes Gespräch lange schon ersehnt hatten und erleichtert waren, zu sehen, dass es (sie sagten: „noch“) möglich ist. Und es stimmt: Während das öffentliche Gespräch riskanter wird, stellen führende deutsche Politiker*innen geltendes Recht und die Werte dahinter infrage: Die Bundesregierung geht leichtfertig mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit um, indem sie offenlässt, ob sie den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Benjamin Netanyahu vollstrecken würde; ein sozialdemokratischer Bundeskanzler nennt in einer Rede die restriktive Migrationspolitik der eben auseinandergebrochenen Regierung eine Errungenschaft; erneut wird das im Grundgesetz aufgrund der Erfahrung des Faschismus verankerte Staatsbürgerrecht angegriffen. Alle wollen Teil einer „Brandmauer“ gegen den Faschismus sein, aber ich erkenne nicht, dass viele von denen, die sich Demokrat*innen nennen, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie respektieren. Ich sehe nichts als ihr Machtbegehren.
Bedeutet ein solches Nachdenken schon, Verantwortung zu übernehmen?
Vielleicht beginnt Zugehörigkeit mit der Suche nach eigenen Verantwortungsmöglichkeiten. Vielleicht kann Verantwortung heißen, die eigene Zugehörigkeit zu hinterfragen.
Dies ist eine Zeit, in der die Gespräche abbrechen. Vielleicht ist die Form des Briefs – oder eine ehrliche Unterhaltung auf der Bühne – ein Weg, um den Dialog in Gang zu halten. In einer Zeit, in der alle Wahrheiten angezweifelt und Fakten durch Meinungen ersetzt werden, ist die Begegnung mit einem anderen vielleicht die einzige Möglichkeit, auszubrechen aus den eigenen Selbstvergewisserungen.
Wenn es so etwas wie Heimat gibt, dann liegt sie unter dem Gedankenstoff, der sich zwischen zwei Menschen aufspannt.
Deswegen bin ich dir dankbar, Khuê, für diesen Austausch. Ich erinnere mich an die Begegnung mit dir nach der Buchpremiere von Vaters Meer. An deinen Blick, der zeigte, du hast die Worte zugelassen. Vielleicht sind ein wohlwollendes und ehrliches Lesen oder ein Zuhören sowie Schreiben oder Sprechen bereits Teil einer Verantwortung füreinander?
1. Januar 2025
Khuê: An dem Abend, an dem mich deine Nachricht aus Mexiko erreichte, war ich auf einer Party zu Gast. Eine Altbauwohnung mit Kunstwerken von Olafur Eliasson und Wolfgang Tillmans, der Koch ein Künstler, der aus Paris eingeflogen worden war. Viele der Gäste trugen Ketten und Ohrringe aus Gold. Schüchtern bewegte ich mich durch die Räume, bis ich an der Bar einen Diplomaten traf, den ich flüchtig kenne.
Aus der Ferne wirst du wahrscheinlich nicht viel davon mitbekommen haben, aber der Schriftsteller*innenverband PEN Berlin hat im Dezember eine Resolution zu den getöteten Autor*innen in Gaza, Libanon und Israel verabschiedet und sich darüber in aller Öffentlichkeit zerstritten. Mit offenen Briefen und Social-Media-Statements, in denen die einen den (mit sehr knapper Mehrheit) verabschiedeten Text als zu unkritisch gegenüber der israelischen Regierung kritisierten, während andere sich davon distanzierten, weil er aus Solidarität mehrere Namen von getöteten Palästinenser*innen nennt.
Als ich meinem Bekannten auf der Party davon erzählte, wurde mir klar, wie surreal das Ganze klang: Was macht es für Menschen, die um ihr Leben fürchten, schon für einen Unterschied, was irgendwelche Leute in Deutschland dazu zu sagen haben? Keinen natürlich, es ging vor allem um uns und unser Gewissen. Doch wir Autor*innen waren nicht in der Lage gewesen, gemeinsam die richtigen Worte für unsere Trauer und unser Entsetzen über diesen Krieg zu finden. So war unser Streit beim PEN Berlin ein weiteres Abbild der deutschen Debatte.
Mein Bekannter seufzte und goss mir Wein ein. Wir kamen zu dem Schluss, dass etwas Grundlegendes kaputt ist. Das betrifft nicht nur das Reden über Israel, es geht um die liberale Politik insgesamt. Sie will demokratische und moralische Werte vertreten, wirkt aber oft widersprüchlich und unmoralisch. Ich glaube, wir werden im neuen Jahr noch viel über „Heimat“ zu hören bekommen von Leuten, die sie vermeintlich verteidigen, retten oder bewahren wollen. Von Trump sowieso, aber auch im deutschen Wahlkampf, der sich schon jetzt im Kern darum dreht, wer dazugehört und wer nicht.
Einige Tage später fuhr ich nach Baden-Württemberg, eine Region, die ich mit Orten verbinde, die auf -ingen enden. Wir wohnten in einer Ferienwohnung in einem Dorf mit Straßen aus Pflasterstein, bezaubernd mittelalterlich mit seinen restaurierten Fachwerkhäusern und dem weihnachtlich geschmückten Dorfmuseum. Drumherum eine Landschaft aus Hügeln und Feldern, in jedem Ort drei Metzgereien, die sich auf ihre Maultaschen und Spätzle verstehen. Am ersten Tag stapften wir einen Weinhügel hoch und sahen die Sonne über den kahlen Weinstöcken untergehen. „So habe ich mir immer Heimat vorgestellt“, dachte ich.
In meiner kindlichen Vorstellung war die Heimat der anderen ungebrochen, während meine gebrochen war. Hier aber wurde mir deutlich, dass das eine Illusion war. Auch die, die einem Ort wie diesem entstammen, wollen ihm vielleicht später entfliehen, weil sie sich von den kleinbürgerlichen Normen und der allgemeinen Überschaubarkeit (der Pflastersteinstraßen, aber auch des Lebens) erdrückt fühlen. So viel Energie hatte ich darauf verschwendet, bei anderen zu imaginieren, was mir so fehlte. Dabei hätte ich mich dort, wo alle irgendwie gleich wirken und ihre Vorgärten pflegen, wahrscheinlich auch schnell eingesperrt gefühlt.
Auf der Zugfahrt zurück nach Berlin hörte ich einen Podcast über Psychoanalyse, in dem es um den Teil der Identität ging, den man in sich trägt, aber nicht ausdrücken kann oder will. „Der Schatten“, wie C.G. Jung sagen würde. Oft habe ich mich gefragt, ob in meiner Biografie nicht ein anderes Leben angelegt ist, vielleicht sogar zwei oder drei. Wer wäre ich geworden, wenn ich in Vietnam aufgewachsen wäre? Oder in der vietnamesischen Community in Los Angeles, wo alle Vietnamesisch sprechen, sich aber ganz selbstverständlich als Amerikaner*innen verstehen? Es existieren so viele Pfade einer Seele, so viele Heimaten.
Auch ich bin froh, dir in diesen Zeiten schreiben zu können. Mir gefällt nicht nur, dass jemand anderes meinen Gedanken „zuhört“. Es tut mir auch gut, zu wissen, dass eine Antwort kommt. Ein bisschen erinnert mich unser Dialog an die Brieffreundschaften, die ich als Schülerin hatte. Sehr altmodisch und langsam, aber vielleicht gerade aus diesem Grund genau das Richtige in dieser sich überschlagenden Zeit.
19. Januar 2025
Deniz: Ich schreibe dir aus Berlin. Ich bin zurück. Ich hatte damit gerechnet, dass ich aufgrund der Zeitverschiebung in den Nächten wach liegen und tagsüber schlafen würde. Aber ich schlief sowohl tags als auch nachts, oft sechzehn Stunden lang.
Ich muss bei der Episode mit ‚deinem Diplomaten‘ an die offiziösen Momente auf meinen Reisen denken. Als Autor bist du Teil der deutschen Delegation, unterhältst dich mit dem deutschen Botschafter, trinkst Sprudelwasser am deutschen Stand der zweitgrößten Buchmesse der Welt in Guadalajara. Die Blicke der anderen befragen dich plötzlich genauso wie ihn. Hier und da fällt sogar das Wort „Kulturbotschafter“. Aber ich finde, die Botschaft eines Autors ist die Sprache selbst.
Du hast recht, wir brauchen einander, denn Sprache – diese aus meiner Sicht einzige Heimat – ist vor allem eine Verbindungslinie. Sie braucht mindestens zwei Pole, verträgt aber unendlich viele.
17. Februar 2025
Khuê: Ich bin in Berlin, knapp eine Woche ist es bis zur Bundestagswahl, und ich kämpfe mit einer ständigen Unruhe, schlafe schlecht und und frage Freund*innen und Fremde bei jeder Begegnung: „Weißt du schon, wen du wählen willst?“ Und jedes Mal, wirklich jedes Mal, schaue ich in ratlose, frustrierte Gesichter.
Auch ich schwanke hin und her, habe an jedem Spitzenkandidaten Grundsätzliches auszusetzen und gelange nach jedem Gespräch zu dem Schluss, dass ich wohl taktisch entscheiden und mit zusammengebissenen Zähnen wählen muss. Im Grunde geht es ja nicht so sehr um eine Stimme für Merz, Scholz oder Habeck, sondern um eine gegen Weidel – um die alles überwölbende Frage, was man tun kann, damit die AfD in der nächsten Legislaturperiode nicht noch stärker und 2029 Teil der Bundesregierung wird.
In diesen verrückten Tagen, in denen unser Kanzler in spe die Stimmen der Rechtsextremen in Kauf nimmt und der neue US-Vizepräsident zur Abschaffung der Brandmauer aufruft, stellt man sich verrückte Fragen: Wie schlimm könnte es hier werden? Welche Zukunft haben Familien wie unsere? Falls wir auswandern müssen – wohin?
Man kann, darüber haben wir ja gesprochen, auf viele Arten so etwas wie Heimat finden. Man kann sie auch auf genauso viele Arten verlieren.
Ich habe das schon einmal erlebt, 2016, als ich für die Zeit über den Brexit berichtete. Nie werde ich den Morgen nach der Entscheidung für Leave vergessen, als ich durch Westminster stolperte und in einem Pub mit lauter jubelnden Brexit-Fans landete. Mir hatte man das Herz herausgerissen, ich fühlte mich verlassen wie nach dem Ende einer Beziehung. Sie aber waren aus einem südenglischen Vorort nach London gereist, um ihren Triumph gebührend zu feiern.
„Wir, die dachten, dass die Gesellschaft im Großen und Ganzen unsere Werte teilt, stellen nun fest, dass wir die Gesellschaft nie kannten“, schrieb ich damals in meinem Artikel. Daran muss ich in diesen Tagen wieder oft denken. Der Brexit war der Beginn der populistischen Ära, die mit Trump II ihren neuen Höhepunkt erreicht hat und nun auch Deutschland einzuholen droht. Wir, die Liberalen, verlieren an Land.
Vielleicht bin ich, geprägt durch die Erlebnisse von 2016, pessimistischer als nötig. Aber um mich herum spüre ich überall ein Klima der Angst. Was gibt dir Zuversicht in diesen Tagen? Ich glaube, ich könnte eine Dosis davon gut gebrauchen.
18. März 2025
Deniz: Ich schreibe wieder fliegend.
Unter mir ein Flickenteppich: karges Grün eines endlosen Flachlands, Äcker, Seen, Windräder, ein wenig Industrie.
Ein Monat ist vergangen, seit du mir schriebst. Die Welt ist jetzt eine andere. Das System des 20. Jahrhunderts stürzt in sich zusammen.
Gestern aß ich mit älteren Gelehrten aus den USA zu Abend. Alles Menschen, die ihr Leben dem Denken und der Lehre gewidmet haben. Sie blicken ernst durch ihre beschlagenen Brillengläser. Sie sagen: Das Land, aus dem wir vor einigen Wochen abgereist sind, das gibt es nicht mehr. Wir kehren in ein anderes zurück. Sie sagen: Was tun was tun was tun.
Sie sprechen vom Ende der Demokratie. Sie erkennen es daran, dass die Politik, der Präsident, sich nicht mehr der Hoheit der Gerichte beugt.
Wir beide haben ebenfalls über die Angriffe auf das Rechtsstaatsprinzip diskutiert, auch hier, gerade hier. Und seit wir dazu schrieben, ist es weitergegangen: Die Gemeinnützigkeit von Organisationen wie Omas gegen Rechts wird infrage gestellt, weil diese gegen das AfD-CDU-Bündnis im Bundestag protestiert haben. Du fragst, ob du zu pessimistisch auf die Dinge schaust. Ich sage: Lass uns die Hoffnung liebevoll begraben. Sie hilft uns nicht. Wir betrügen uns mit ihr selbst, vergeuden Kraft an falscher Stelle. Lass uns hoffnungslos handlungsfähig bleiben.
Hoffnungslos handlungsfähig. Skrupellos zärtlich. Dunkel klar. Sich die Freiheit zu bewahren, an einer anderen Welt festzuhalten, auch wenn sie gerade aussichtslos sein mag – das ist etwas anderes als aufzugeben. In mir verfestigt sich ein Gedanke: dass nämlich die Dinge, die ich schätze, nicht die Errungenschaften jener sind, die gewonnen haben, sondern auf die Mühen jener zurückgehen, die verloren haben, oft genug wussten, dass sie verlieren würden und trotzdem kämpften. Ich wohne in Berlin auf der sogenannten Roten Insel. Regelmäßig gehe ich an der alten Kohlenhandlung vorbei, in deren Keller Julius Leber die Verschwörung gegen Hitler organisierte. Er ist gescheitert. Die Verschwörung ist aufgeflogen. Alle Beteiligten wurden hingerichtet. Nein, sie konnten das Schlimmste nicht verhindern. Es gibt keinen Trost. Keine Hoffnung. Aber dass jemand einmal gegen das Unrecht gekämpft hat, gibt mir Lebenskraft in dieser zerfallenden Welt. Eine der Gelehrten gestern war Marianne Hirsch, deren Eltern vor dem Faschismus aus der Bukowina geflüchtet waren. Sie sagte, wir müssen fortfahren, mit dem, was wir immer taten: mit dem Denken, mit dem Ernstnehmen der Worte. Unabhängig davon, wer jetzt noch in der Lage ist zu hören.
Ich fliege über die winzigen Inseln vor der schwedischen Küste, die wie Brotkrumen auf einem blauen Teller liegen. Ich habe Die Ästhetik des Widerstands mitgenommen, nicht um das Buch noch einmal ganz zu lesen, sondern um hier einen Satz zu fischen, dort einen Moment aus der Feder von Peter Weiss auf mich einwirken zu lassen. Dieses Autors, der niemals aufgegeben hat zu kämpfen, und der das Exil zur Heimat gemacht hat. Er ist in Schweden geblieben, dort gestorben. Ich habe einen Rechercheauftrag und fliege für einen Text zur europäischen Identität nach Stockholm. Diese Aufträge kommen zu spät. Zwanzig Jahre, dreißig Jahre zu spät. Es muss einen Weg geben, die richtige Frage zu finden, die unsere Not besser artikuliert als die Worte „Europa“, „Identität“ und „Heimat“. Behauptungen gibt es zuhauf, wo sind die Fragen? Ich will sie suchen.
Ich lande gleich. Hier sind endlose Wälder, unterbrochen von blauen Klecksen, die sich zum Horizont hin vermehren, und unter der Wolkendecke, am Ende der Landschaft in einer Explosion aus grellem blau-türkisen Licht verschwinden.