Middle Ground: Festa Literária das Periferias
Escrevivência: Literaturen aus Brasilien und der Diaspora
Literaturfestival: Lesungen, Diskussionen, Workshops, Keynote-Vorträge, Performances, Konzert, DJ-Set, Open Mic Night
10. & 11. Oktober 2025
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Foto: Festa Literária das Periferias (FLUP), 2024
Der englische Begriff „middle ground“ bezeichnet keinen fixen geografischen Ort. Vielmehr stellt der Mittelgrund eine metaphorische Position dar, die Raum für Komplexität, Widersprüchlichkeit, Zwischenzustände und gegenseitige Fürsorge schafft. Inspiriert von Chinua Achebes Überlegungen zu den Möglichkeiten der Mitte und des Dazwischen des middle ground, lädt das Haus der Kulturen der Welt (HKW) jedes Jahr Literaturfestivals aus aller Welt nach Berlin ein, um sich mit literarischen und mündlichen Praktiken und Netzwerken auseinanderzusetzen und sie zu erweitern. In Zeiten sich vertiefender Differenzen und Polarisierungsprozesse wendet sich Middle Ground Literaturen und Oralturen nicht etwa auf der Suche nach Antworten, sondern nach Solidarität zu.
Im Rahmen seiner dritten Ausgabe geht Middle Ground im Jahr 2025 eine Partnerschaft mit der Festa Literária das Periferias (FLUP) ein. Das Festival ist in den Favelas von Rio de Janeiro entstanden und stellt die Frage: Was bedeutet es, aus der Erfahrung des Bruchs heraus zu schreiben? In diesem Kontext wird der Begriff des Bruchs gleichermaßen geografisch und zutiefst metaphorisch verstanden: Er bezieht sich nicht nur auf die Zerklüftung von Landschaften, sondern auch von Sprachen, Erinnerungen und den daraus hervorgegangenen Bruchlinien. In der brasilianischen Literatur wird der Bruch oft angesichts des Erbes kolonialer Gewalt, erzwungener Migration, des transatlantischen Handels mit versklavten Menschen und der Fragmentierung und Auslöschung afro-brasilianischer und Indigener Erzählungen über Zeit und Raum hinweg artikuliert.
Seit seiner Gründung im Jahr 2012 durch die Schriftsteller Julio Ludemir und Ecio Salles (1969–2019) setzt sich FLUP gegen die hegemoniale Struktur der brasilianischen Literaturszene ein: Es schafft Raum für Stimmen und Communitys, die in der Vergangenheit ignoriert wurden. FLUP fördert Autor*innen aus den Favelas und den Randgebieten und legt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf Schwarze, Indigene und weibliche literarische Perspektiven. Die mittlerweile dreizehn Festivalausgaben wurden in Stadtteilen von Rio de Janeiro veranstaltet, denen lange Zeit kein Platz auf der etablierten kulturellen Landkarte Brasiliens zugestanden wurde. Orte wie Morro dos Prazeres, Vigário Geral, Mangueira und Babilônia wurden durch das Festival zu Bühnen für den literarischen und kulturellen Austausch. FLUP schafft Verbindungen zwischen aufstrebenden Schriftsteller*innen aus diesen Kontexten und etablierten Autor*innen und hat Buchvorstellungen und Performances mit Schriftsteller*innen und Künstler*innen wie Bernardine Evaristo, Yanick Lahens, Bethania Nascimento, Teju Cole und Akua Naru veranstaltet. FLUP betrachtet den Prozess des Lernens als ein Instrument der literarischen und politischen Selbstbestimmung. In diesem Sinne richtet das Festival Workshops aus, die marginalisierten Stimmen Gehör verschaffen und Räume schaffen, in denen gemeinsames Geschichtenerzählen zu einer Form des Widerstands wird. Darüber hinaus fördert FLUP durch sein Verlagsprogramm neue literarische Stimmen und veranstaltet regelmäßig Poetry Slams. FLUP verzichtet auf eine Definition von Literatur, die sich ausschließlich auf das geschriebene Wort bezieht. Die Aktivitäten des Festivals erstrecken sich deshalb auch auf Musik und Performance-Kunst, darunter beispielsweise Samba-Zirkel unter der Leitung lokaler Gruppen wie Awurê, deren Rhythmen in ähnlicher Art und Weise auf die Erinnerungen der Vorfahr*innen zurückgreifen, wie die Literatur es tut. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit Middle Ground im HKW setzt FLUP sein Engagement fort: Das Festival schafft einen Raum, in dem Schriftsteller*innen und ihre Werke gesehen werden und der Dialog mit der Vergangenheit aufrechterhalten wird.
Diese Tradition des Widerstands gegen kulturelle Auslöschungsprozesse wurzelt in den Werken afro-brasilianischer Schriftsteller*innen wie Conceição Evaristo, Léila Gonzalez, Beatriz Nascimento und Leda Maria Martins. Für Evaristo ist das Erzählen von Geschichten nicht einfach nur eine narrative Tätigkeit. Vielmehr sichert es nach historischen Gewalterfahrungen als radikaler Akt des Daseins das eigene Überleben. Sie prägte den Begriff escrevivência, einen Neologismus, der die portugiesischen Wörter für „Schreiben” (escrita) und „Erfahrung” (vivência) miteinander verbindet. Er beschreibt eine literarische Praxis, die untrennbar mit der gelebten Realität verbunden ist. „Ich konzipiere [mein Schreiben] aus meiner Position als Schwarze Frau”, erklärt Evaristo. „Meine Fiktionalisierung kann nur von dem Ort ausgehen, an dem ich stehe. Und ich nehme meinen Platz ein als Schwarze Frau in der brasilianischen Gesellschaft, als arme Frau in der brasilianischen Gesellschaft.“[1] Escrevivência ist also mehr als eine literarische Methode. Vielmehr handelt es sich um eine politische und erkenntnistheoretische Haltung, die sich weigert, das Leben von der Sprache, die Erinnerung vom Text oder die Identität von der Autorschaft zu trennen. Evaristo bekräftigt, dass die Stimme untrennbar mit der Sprechposition verbunden ist.
Diese Ausgabe von Middle Ground schafft, ausgehend vom Konzept der Escrevivência und ihrer untrennbaren Vermischung von Leben und Sprache, Raum für die komplizierte, vielschichtige Wahrheit des Schreibens aus gelebten Erfahrungen heraus. Zu den zahlreichen Veranstaltungen und Aktivierungen des Festivalprogramms gehören auch zwei Keynote-Vorträge: Leda Maria Martins untersucht den Zusammenhang zwischen verkörpertem Wissen und afro-Indigenen Erkenntnistheorien, während Conceição Evaristo ausführt, wie Escrevivência Lücken in der Geschichtsschreibung und der Erinnerung enthüllt. Eine Podiumsdiskussion mit Vinicius Jatobá, Amara Moira und Luciany Aparecida setzt sich unter dem Titel Writing Against the Map mit der Frage auseinander, wie Schriftsteller*innen verschiedener Genres dominante Narrative unterlaufen. Zudem werden, wie schon in früheren Ausgaben, Creative-Writing- Workshops für Autor*innen angeboten. Die Teilnehmenden können von den Erfahrungen der angereisten Gäste von Middle Ground profitieren und zugleich ihre Auseinandersetzung mit den thematischen Schwerpunkten des Festivals vertiefen. Ebenfalls zum diesjährigen Programm gehört der Auftritt von Bia Ferreira. Mit unbändiger Energie verwandelt die Musikerin und Sängerin die Bühne in einen Ort der Freude, des Widerstands und des kompromisslosen Daseins. Die Open Mic Night gehört zu den beliebtesten Formaten des Festivals und bietet eine Bühne für die lebendige stimmliche Präsentation von Gedichten, Erzählungen und anderen sprachlichen Erkundungen. Dieses Jahr lädt ihr Motto „Voice, Echo, and Location“ dazu ein, darüber nachzudenken, wie Migration und Mündlichkeit Individuen und Communitys prägen und Geschichten entstehen lassen, die sich zwischen Brasilien und dem Rest der Welt bewegen. Im Jahr 2025 feiert das Festival außerdem die Veröffentlichung von zwei neuen Büchern, die aus früheren Kooperationen von Middle Ground mit PREE (2023) und der Hargeysa International Book Fair (2024) hervorgegangen sind. In ihnen erklingen Stimmen und werden Beziehungen erfahrbar, die sich über verschiedene Kontinente erstrecken.
[1] Franciane Conceição Silva, „Insurgent Voices: A Panorama of Afro-Brazilian Writing“, Words Without Borders, übers. (ins Englische) Bruna Dantas Lobato (1. Dezember 2018), www.wordswithoutborders.org/read/article/2018-12/december-2019-afro-brazilian-panorama-of-afro-brazilian-literature-francy. In Fußnote 7 zitiert Silva aus dem YouTube-Video „The Starting Point of Writing – Conceição Evaristo Occupation (2017)”, YouTube, hochgeladen von Itaú Cultural (22. März 2018), www.youtube.com/watch?v=3CWDQvX7rno.