Kulturelles Gedächtnis

Internationales Symposium

Fr 24.3.2006
10h
Eintritt frei

Eine Veranstaltung des Hauses der Kulturen der Welt und der Bundeszentrale für politische Bildung

Internationale Wissenschaftler und Künstler umreißen chinesische wie auch europäische Perspektiven auf die so brennenden wie komplexen Fragen zum Gedankengut von Kulturen, die nicht nur für Erinnerungspolitiken, sondern gerade für die künstlerische Praxis existenziell wichtig sind.

Im wechselseitigen Blick sollen Gemeinsamkeiten des Zugangs zu Fragen des Kulturellen Gedächtnisses sichtbar gemacht werden, ohne notwendige Differenzen einzuebnen. Die Frage nach den Strategien der Verarbeitung kollektiver Traumata - die Völkermorde des letzten Jahrhunderts oder die Kulturrevolution in China - führt deshalb ins Zentrum der Debatte. Künstler thematisieren, wie sich soziale Erfahrungen in den Körper einschreiben, und beleuchten Handlungsweisen unterschiedlicher Kulturpraxis; Kuratoren sprechen über die Bedeutung des zeitgenössischen Ausstellungswesens und Theaterwissenschaftler diskutieren mit Theatermachern über historische wie identitätspolitische Kontexte moderner Theater- und Opernproduktion. Am Beispiel des heftig umkämpften öffentlichen Raums chinesischer Großstädte erweitern Urbanismusexperten und politische Aktivisten die Überlegungen auf die Brisanz realer Gedächtnisorte, die sich auch in Berlin vor seinem historischen Hintergrund beständig aktualisiert.

10 h Kulturelles Gedächtnis in China und Europa
Lydia Haustein, Kunstwissenschaftlerin, Haus der Kulturen der Welt und Kunsthochschule Weißensee, Berlin , Michael Lackner, Sinologe, Universität Erlangen, Zhu Qingsheng, Kunsthistoriker, Akademie der Bildenden Künste, Beijing

Das Kulturelle Gedächtnis scheint vor allem in Europa ein wichtiger Topos zu sein, um über die Konstruktion von Identität und Kultur nachdenken zu können und diese in ein historisches Kontinuum einzubetten. Allgemein kann man festhalten, dass am Beginn jeder künstlerischen Handlung eine intensive bewusste oder unbewusste Auseinandersetzung mit den Paradigmen der kulturellen Gedächtnisproduktion steht. Die Frage, ob man im Falle Chinas und Europas das kulturelle Gedächtnis zwangsläufig ins Plural setzen und als disparate Konstrukte betrachten muss, oder ob es tatsächlich Gemeinsamkeiten gibt kann als die zentrale Frage der Konferenz betrachtet werden. Denn versucht man diese Frage ernst zu nehmen, verlässt man automatisch das Gefängnis stereotyper Zuschreibungen und schafft den oftmals fehlenden Kontext, der für das Verständnis der aus China stammenden Kunstproduktion so wichtig erscheint.

12 h Kollektives und Soziales Gedächtnis
Aleida Assmann, Literaturwissenschaftlerin, Universität Konstanz, Leng Lin, Kunsthistoriker, Beijing
Moderation: Thekla Wiebusch, Ostasienwissenschaftlerin, Paris

Kultur, Gesellschaft und ihre Erinnerungsformen sind gleichermaßen auf die Erfahrung von einzelnen Personen wie auf übergreifende Konzepte angewiesen, die es erst ermöglichen, Erinnerung als ein Gemeinsames zu denken. Die verschiedenen politischen Modelle, wie sie innerhalb des 20ten Jahrhunderts entwickelt wurden, definieren ihrerseits den Begriff der Geschichte und natürlich die Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft auf unterschiedliche Weise - es gilt also nicht nur, die Unterschiede zwischen der individuellen Erinnerung und derjenigen von Gemeinschaften und Kulturen zu differenzieren, sondern auch zwischen den verschiedenen Modellen, wie sie sich in China und Europa entwickelt haben.

14.30 h Trauma, Amnesie und Anamnesis
Harald Welzer, Sozialpsychologe, Witten-Herdecke, Nora Sausmikat, Sinologin, Universität Duisburg, Zuo Jing, Kurator, Nanjing

Die Kulturrevolution als die gezielte Auslöschung kultureller Artefakte und Orte bedeutete nicht nur den Verlust realer Bezugspunkte, sondern schuf auch durch die begleitenden Gewaltexzesse ein Trauma, das tief in die persönlichen Geschichten aller Beteiligten eingeschrieben bleibt. Gleichzeitig scheint dieses Trauma für diejenigen Generationen, die es nicht unmittelbar erlebt haben, bereits überwunden oder gar irrelevant. Der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, ob erzwungen oder als individuelle Reaktion, wird hier auch vor dem Hintergrund entsprechender Erfahrungen im Europa des 20ten Jahrhunderts diskutiert.

16:30 h Körper, Identität, Erinnerung
Jin Xing, Tänzerin und Choreografin, Jin Xing Dance Theatre Shanghai
Moderation: Johannes Odenthal, Leiter Performing Arts, Haus der Kulturen der Welt, Berlin

Die Einschreibung des kulturellen Gedächtnisses in eine Gesellschaft kann nicht zuletzt über das Körperverständnis des Einzelnen erfolgen; die Frage nach kulturellen und politischen Implikationen der Identität betrifft sehr wohl auch die Freiheit zur ästhetischen und sexuellen Selbstbestimmung. Die zeitgenössische darstellende Kunst setzt sich im performativen Akt unmittelbar den Rollenbildern entgegen, wie sie Politik und Konsumkultur vom einzelnen einfordern, und erlaubt in diesem kritischen Blick einen nicht weniger kritischen Blick zurück auf die Rollenbilder, wie sie durch die traditionellen Formen der darstellenden Künste in Oper oder Tanz vermittelt wurden.

Die Referenten

Lydia Haustein, Professorin für Kunstwissenschaft an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, stellvertretende Intendantin und Bereichsleiterin „Literatur, Gesellschaft, Wissenschaft“ am Haus der Kulturen der Welt.

Michael Lackner, Professor für Sinologie an der Universität Erlangen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte und Gegenwart der Beziehungen zwischen China und dem Abendland, die neuere chinesische Geistesgeschichte sowie die Geschichte des politischen Denkens in China.

Zhu Qingsheng, ist Professor der Kunstwissenschaft an der Universität von Beijing und als Berater des „Weltkunst-Programms“ für das „Millenium Art Museum“ sowie als Direktor des „Han Art Instituts“ tätig. Seine Forschungen beziehen sich auf zeitgenössische Ästhetik und Kunsttheorie

Aleida Assmann, Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaften an der Universität Konstanz. Sie prägte nicht zuletzt mit ihrem Buch „Erinnerungsräume“ (2003) die Theorie des „Kulturellen Gedächtnisses“.

Leng Lin studierte von 1984 bis einschließlich 1993 an der Central Academy of Social Sciences in Beijing Kunstgeschichte und ist als assoziierter Professor für Kunstgeschichte an der Universität von Beijing, sowie als freier Kurator und Kunstkritiker tätig.

Website: Beijing Commune (ch/en)

Harald Welzer, Leiter der Forschungsgruppe „Erinnerung und Gedächtnis“ am Kulturwissenschaftlichen Institut (Essen). Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung, sowie der psychologischen Holocaust- und Gewaltforschung. Er prägte den Begriff des „Sozialen Gedächtnisses“.

Thekla Wiebusch ist Ostasienwissenschaftlerin an der Universität Leipzig und am Centre des Recherches Linguistiques sur l' Asie Orientale (CRLAO) in Paris.

Zuo Jing ist Professor an der Fakultät für Journalismus und Rundfunk der Universität Anhui. Desweiteren ist er Geschäftsführer und Kurator des RCM Museum of Modern Art Nanjing.

Nora Sausmikat, Dozentin für Sinologie an der Universität Duisburg und Leiterin des Projekts „Beijing Case“ , das 2005 in Beijing am Goethe Institut stattfand.

Jin Xing, Tänzerin und Choreografin, geboren 1969, leitet in Shanghai mit dem „Jin Xing Dance Theatre“ die erste private Tanzkompanie Chinas. Als Transsexuelle befragt sie unter anderem die Körperbilder von Frauen und Männern im Tanz. Jin Xing war bereits vor ihrer Geschlechtsumwandlung zur Frau ein gefeierter Tanz-Star. Heute gilt sie als kulturelles Aushängeschild Shanghais und als eine der schillerndsten Persönlichkeiten Asiens.

Johannes Odenthal, Kurator, Publizist und Bereichsleiter „Musik, Tanz, Theater“ am Haus der Kulturen der Welt.