Jurykommentar zur Wahl der Preisträger 2012

Mircea Cărtărescu: Der Körper
Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold
Paul Zsolnay Verlag 2011
(Orbitor II. Corpul, Humanitas, Bukarest 2002)

Mit „Der Körper“ ist dem rumänischen Autor Mircea Cărtărescu ein fulminanter Roman und sprachlich elektrisierendes Kunstwerk von seltener Intensität und Leuchtkraft gelungen. Die Selbstexploration des Icherzählers Mircea wird zur Weltexploration und breitet ein literarisch vernetztes Denken aus, das kleinste und größte Elemente der Existenz zusammenführt, Denken und Sprechen in neuronaler Metaphorik mit kosmischen Bezügen in eins setzt. Wie in einem gewaltigen Kaleidoskop fügen sich Bewusstseinssplitter und Kindheitserinnerungen, familiengeschichtliche Episoden und Bukarester Stadtbilder, zeitpolitische Momentaufnahmen der Ceaușescu-Zeit und phantastische Gedankenflüge zu einem farbig schillernden Ganzen zusammen, das sein Zentrum in der Subjektivität des Erzählers findet.

Mircea Cărtărescu entwickelt aus kleinsten Wirklichkeitszellen - sei es eine Beobachtung, eine Erinnerung, ein Bild - wuchernde Phantasiegebilde, die auf hypertrophe, hyperreale Weise Individuelles in Universales transzendieren. Wenn die Urgrossmutter sich jeden Morgen in einen Schmetterling mit roten Flügeln verwandelt, wenn der Blick aus dem Wohnblockzimmer zur Allmachtsgeste mutiert, regieren „Reflexe, Bilder, Töne und Träume“, „Hormone und Halluzinationen“, „mystische Synapsen und engelgleiche Axone“. Der Autor betreibt ein exzessives Spiel auf der Grundlage von Physik und Phantastik, Sinnlichkeit und Abstraktion, Esoterik und Neurowissenschaft, Mythos und Kosmologie. In einem wildwüchsig überbordenden Stil und kraftvollen Metaphernkaskaden feiert er zugleich das vibrierende Leben der Sprache, deren Reichtum über jede einzelne Seite dieses Romanes fließt. Der Titel „Der Körper“ verweist auf eine energiegeladene Stimme, eine in und durch diesen Erzählkörper zirkulierende Stimme von überschäumender Subjektivität. Eine intensive, rhizomatisch ausgreifende und vor allem packende Prosa von großer Suggestivkraft durchzieht diesen Roman - eine Prosa, die nicht nur welthaltig, sondern weltenschaffend ist und den Kanon menschlicher Artikulationskunst um einen großartigen Beitrag erweitert.

Mircea Cărtărescus Roman „Der Körper“ besticht durch seine Sprachkraft - ein Feuerwerk von seltener Intensität und Leuchtkraft. Aus kleinsten Wirklichkeitszellen - sei es eine Beobachtung, eine Erinnerung, ein Bild – entwickeln sich wuchernde Phantasiegebilde, die auf hypertrophe, hyperreale Weise Individuelles in Universales transzendieren. Der aberwitzig surreale Stil erbaut ein Sprachkunstwerk und erweitert den Kanon menschlicher Artikulationskunst. Cărtărescus Roman entführt Seite um Seite in eine gänzlich eigene Sprachwelt, er befragt die Fähigkeiten der Artikulation, türmt Syntaxberge auf, lässt darauf Metaphernkaskaden rollen.

Die Übersetzer Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold bringen mit syntaktischem und semantischem Gespür all dies im Deutschen zum Leuchten. Konsequent bleiben sie der drängenden Syntax von Cărtărescu auf der Spur. Und sie übersetzen, genauer: sie formen nicht nur die Spracherkundungen des Rumänischen nach, sondern übertragen das literarische Experiment in die deutsche Sprache hinein; denn sie wissen: die Sprache selber ist hier zum Denkereignis geworden. So entstanden „Glühfäden des Geschmacks“, „der Sonnenwind meines Lebens ... mit seinem kapriziösen Fransenraum“, „mystische Synapsen und engelgleiche Axone“ oder auch eine „Stimmritze wie ein Muschelfüßchen“. Csejka und Leopold haben sich Cărtărescus Werk in Geist und Buchstaben auf das Nächstmögliche angenähert – und damit wie nebenbei die hiesige Bildwelt und Vorstellungskraft vermessen, belebt und: bereichert.

Berlin 2012, verliehen durch

Bernd Scherer (für das Haus der Kulturen der Welt ) und
Jan Szlovak (für die Stiftung Elementarteilchen)