Escrevivência: Worte finden für das Ungesagte in der afrobrasilianischen Geschichte und ihrem kollektiven Gedächtnis
Keynote von Conceição Evaristo, gefolgt von einem Gespräch mit Eliana Alves Cruz und Julio Ludemir
Keynote, Gespräch
Fr., 10.10.2025
18:00–19:15
Safi Faye Saal
Auf Portugiesisch mit Simultanübersetzung ins Englische und Deutsche
Eintritt frei

Conceição Evaristo. Foto: Festa Literária das Periferias (FLUP), 2024
Der Begriff der escrevivência wurde der Welt von der Schriftstellerin und Dichterin Conceição Evaristo geschenkt. Er verbindet die portugiesischen Wörter für Schreiben (escrever) und Leben (vivência) zur Bezeichnung für eine einheitliche Praxis. Diese spezifische Art des Erzählens wurzelt in der gelebten Erfahrung und trägt der Tatsache Rechnung, dass die Erinnerung an ein singuläres Leben untrennbar mit der kollektiven Geschichte vieler Menschen verbunden ist. Evaristos Roman Ponciá Vicêncio (2003) folgt einer jungen Frau, die aus der ländlichen Heimat ihrer versklavten Vorfahr*innen in die Stadt zieht und legt die Widerstände offen, mit denen Afro-Brasilianer*innen sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gebieten konfrontiert sind. Die eindrückliche Prosa der Autorin verwebt Alltagsbeobachtungen mit spirituellen Motiven und Themen wie Familie, Widerstand und Gedenken an vorangegangene Generationen. Mit ihrem Keynote-Vortrag für Middle Ground lädt Evaristo dazu ein, Literatur als eine Art des Herumkauens auf dem, was beschwiegen wurde, zu betrachten: Die durch Kolonialismus, Rassismus und Patriarchat verursachten Versäumnisse sollen weiterverarbeitet werden, bis sie neue Bedeutungen hervorbringen. Dabei handelt es sich nicht um einen sanften, sondern vielmehr widerständigen Akt: Er verwandelt Abwesenheit in Anwesenheit, Wunden in Worte.
Nach ihrer Keynote diskutiert Evaristo gemeinsam mit Autorin Eliana Alves Cruz und Kurator Julio Ludemir darüber, wie die brasilianische Literatur weiterhin mit dem Unausgesprochenen ringt. Cruz, deren preisgekrönter Roman Água de Barrela (2016) über neun Generationen hinweg der Geschichte einer Schwarzen Familie folgt, schreibt mit einer Präzision, die offizielle Geschichtsschreibungen ins Wanken bringt. Ludemir ist Mitbegründer der Festa Literária das Periferias (FLUP) und schafft seit langem Räume, in denen marginalisierte Stimmen den Kanon neu schreiben.