L is for the Way You Look at Me
Diskursives Programm
2025

Visual: Yukiko
Die erste Ausgabe des Diskursprogramms L is for the Way You Look at Me beginnt mit der Suche nach einem neuen Verständnis von Liebe, indem sie etwas in den Blick nimmt, das für das menschliche Auge nahezu unsichtbar ist: Mikroorganismen, die nur mithilfe von Mikroskopen gesehen werden können. Der Blick, den das menschliche Auge im späten 17. Jahrhundert auf einzellige Organismen warf, legte den Grundstein für die moderne Wissenschaft der Mikrobiologie und prägte in der Folge die Art und Weise, wie wir das Leben verstehen, gestalten und verwalten. Diese moderne Sicht auf das Leben hat wiederum einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltungslogiken unserer intimen Beziehungen und auf die Entwicklung der sie begleitenden Moraldiskurse ausgeübt.
Der Akt des Schauens ist einer der zentralen Modi zur Produktion von Wissen über das Leben und führt uns in faszinierende Bereiche wie den Mikrokosmos. Zugleich setzt er unserer Wahrnehmung und unserem Denken darüber, was das Leben ist und was die Liebe bedeutet, Grenzen. Wie Donna Haraway anmerkt, geht das lateinische Wort für das Verb sehen, specere, auf die Wurzel speciēs zurück. Der Begriff respecere umfasst damit sowohl die Bedeutungen Re-spekt als auch Re-Spezies.[1] Schauen bedeutet, sich zu spezialisieren, zu kategorisieren und ein sinnvoll untergliedertes Modell aufzubauen, das das Fundament der modernen Wissenschaft und Gesellschaft bildet. Erneut zu in-spizieren bedeutet demnach, die mechanische und taxonomische Sichtweise infrage zu stellen, die in übermäßiger Zahl Grenzen hervorbringt, wodurch sie das Andere konstruiert und den Blick auf die vielschichtige und mehrdimensionale Intimität versperrt, die die Welt ausmacht.
Mithilfe des Mikroskops, das die vielen Intra- und Interaktionen zwischen Mikroorganismen sichtbar macht, sucht L is for the Way You Look at Me nach einem tieferen Verständnis des lebendigen Zustands, durch den Bewegung und Gefühl, Leben und Liebe möglich werden. Dieses Ansinnen entspringt der Frage „Was ist Leben?“ – was bedeutet es, empfindungsfähig, sich selbst reproduzierend, sich weiterentwickelnd und mannigfach vorhanden zu sein? Diese Untersuchung könnte wiederum Licht auf die Frage „Was ist Liebe?“ werfen und darauf, warum wir uns nach Wärme, Berührung, Empathie und Transzendenz sehnen.
Heutige Auffassungen des Begriffs „Leben“ sind eng mit der Entwicklung der Mikrobiologie verbunden, der Erforschung der beweglichen, mikroskopisch kleinen Lebewesen, die uns umgeben und die unsere Umwelt prägen. Aufgrund des menschlichen Bedürfnisses, die unsichtbaren, Krankheiten und Verwesung verursachenden Keime zu bestimmen, ist die Mikrobiologie von einer dualistischen Logik angetrieben. Sie zielt darauf ab, Mikroben in „gute“ und „böse“ zu untergliedern. So begründet sie eine moderne Auffassung von Gesundheit und Sicherheit, die untergründig davon besessen ist, Bakterien zu eliminieren, und von einer Mentalität der Furcht geprägt ist, die sich in einer hyperhygienischen Kultur, einer krankhaften Angst vor Keimen und in Xenophobie manifestiert. Aus alledem resultiert ein tief verwurzeltes Unbehagen gegenüber dem Anderen, eine Angst vor zwischenmenschlichen Begegnungen wie vor Kontakten zwischen unterschiedlichen Spezies und eine Fixierung auf Grenzen und Kontrolle. All das unterdrückt diverse, außerhalb der geregelten Kontexte von Ehe und Kernfamilie angesiedelte Formen von Intimität. Der moderne Diskurs über eine expansive und zugleich territoriale Liebe ist somit von einer Lebensauffassung geprägt, die vorrangig mit Sauberkeit, Uniformität und der Angst vor Kontamination und Infektion befasst ist. In ihrem Performance-Workshop im Rahmen des Programms verschränkt die Künstlerin und Forscherin Alanna Lynch den eigenen Körper und die eigene persönliche Geschichte eng mit „abjekter“ Materie, die durch mikrobielle Interaktion entsteht, darunter etwa Gerüche und Schleim. Und die anonyme, im Bereich der Literatur und Biologie aktive MYB (Meltdown Your Books) leitet eine Sitzung der Reading Group, in der über einen ontologischen Reduktionismus nachgedacht wird, der sich an den in den Biowissenschaften vorherrschenden wertebasierten, genzentrierten Forschungstendenzen orientiert.
In kritischer Reflexion des neodarwinistischen Prinzips, das vom Wettbewerb als Grundlage der Evolution ausgeht, lässt sich L is for the Way You Look at Me vom komplexen Netz mikrobieller Beziehungen inspirieren, die über bloße Rivalität hinausgehen. Es sind die weitgehend unerforschten, ständigen Interaktionen des Lebens, und nicht so sehr die Gewebe, die es ausbildet, welche das Leben als solches ausmachen. Die allgegenwärtigen Mikroorganismen und ihr ständiger Austausch weben ein kompliziertes Netz des Lebens, aus dem Bakterien, Protisten, Tiere, Pilze, Pflanzen und Menschen hervorgehen – eine gemeinsame Abstammungslinie und eine gemeinsame ökologische Zukunft. Die Meeresbiologin Flora Vincent skizziert diese mikrobiellen Zusammenhänge in ihrer Sitzung der Reading Group und die Künstlerin und Landwirtin Lo Lai Lai Natalie reflektiert in ihrem Fermentations-Workshop das Bodenmikrobiom im Zusammenhang mit der Ökologie von Land und Gesellschaft. In diesen Darstellungen mikrobieller Lebendigkeit bedeutet erneute In-spektion/Re-spekt/Re-Spezies also, eine festgelegte Vorstellung von Subjektivität zu unterwandern. Dies legt nahe, dass Denken, Gefühle, Wünsche und Instinkte weder individuell noch einfach sozial konstruiert sind. Stattdessen befinden auch sie sich in einem gemeinschaftlichen Prozess der Formung und Reformierung.
Mikroorganismen können uns auch die Erfahrung von Multiplizität vermitteln und uns lehren, viele zu sein und zu werden. Kyla Wazana Tompkins beispielsweise beschreibt eine Art der Kommunikation zwischen Mensch und Mikrobe, die die Annahme einer festgelegten, isolierten Subjektivität unterläuft: Berauschende Nebenprodukte des Gärungsprozesses wie Alkohol können das menschliche Nervensystem destabilisieren und die Wahrnehmung der Subjekt/Objekt-Grenzen stören.[2] „Berauscht sein“, eine herkömmliche Metapher für tiefe Besessenheit und leidenschaftliche Zuneigung, kann potenziell einen dezentralisierten Weg zur Liebe aufzeigen, der aus dem eigenen Körper und der eigenen Identität herausführt und in die Beziehungsströme mit vielen anderen Menschen nah und fern hineinführt. Dem ähnelt der Vorschlag von Lynn Margulis und Dorion Sagan, dass die Liebe ähnlich wie das Leben eine Demonstration synergetischer Phänomene darstellt: „Entitäten verhalten sich als mehr als die Summe ihrer Teile“[3]. In ihrer Schreibwerkstatt untersucht Regina Kanyu Wang, eine Autorin spekulativer Literatur, mittels der Einbeziehung von Mikroben in posthumane Erzählungen das symbiotische Bewusstsein. In Anlehnung an die zahlreichen Interaktionen zwischen den vielen Organismen auf den unterschiedlichsten Ebenen re-imaginiert und re-inszeniert L is for the Way You Look at Me die Liebe, indem sie sie mit den Biowissenschaften bekannt macht und diese re-speceriert – insbesondere die lebendigen Wechselbeziehungen zwischen Mikroben, die sowohl Leben und Tod als auch Evolution und Transmutation zugrunde liegen.
Allzu oft beobachten wir, dass das Leben (als Gegenstand der Naturwissenschaften) und die Liebe (als moralischer Diskurs) als moralische Lektionen zusammenkommen und bestimmte soziale Codes rationalisieren, derweil andere vernachlässigt werden. So trägt beispielsweise die wissenschaftliche Beobachtung des mütterlichen Verhaltens im Tierreich zur Institutionalisierung der Mutterschaft in einer patriarchalischen Gesellschaft bei, während ausgehend vom Wettbewerbscharakter der sexuellen Selektion bei allen Arten die Rivalität als grundlegender Modus der Fortpflanzung und des Überlebens dargestellt wird. Dieser oft selektive und politische Austausch zwischen Leben und Liebe scheint die Liebe auf hierarchische Beziehungen und/oder Kosten-Nutzen-Rechnungen zu reduzieren. Sich von der restriktiven Verbindung zwischen Leben und Liebe zu lösen, bedeutet indes nicht, die beiden Bereiche voneinander zu trennen. Vielmehr wird das Leben mit mehr Detailgenauigkeit, Tiefe und Sensibilität re-speceriert. L is for the Way You Look at Me erforscht die Dynamik des Lebens nicht ausschließlich als harmonische wechselseitige Abhängigkeit oder wettbewerbliche Rivalität, sondern vielmehr als fortlaufende Prozesse, die Relationalität und Multiplizität hervorheben. In diesem Sinne zielt die Auseinandersetzung mit der Liebe im Rahmen des Programms nicht auf die Formulierung einer bestimmten Art des Liebens ab. Vielmehr schlägt es eine ganze Reihe von Maßnahmen vor, die unsere Sinne auf kleinste Verbindungen, unbedeutende Handlungen und Stoffwechselvorgänge sowie Nähe und Zweideutigkeit einstimmen. Auf diese Weise können wir für Mikro- und Makroschwingungen sensibel werden. Das Programm gibt Raum für verschiedene Mikroben, Menschen und Pflanzen in einer Reihe von wiederkehrenden Workshops, Filmvorführungen, Lesungen und kleineren Text-, Audio- und visuellen Projekten. Das Ziel ist es, einen nachhaltigen Prozess der Wissensverdauung, des Ideenaustauschs und der Gedankengärung über verschiedene Wissensgebiete, Kunstgattungen, Gefühlsströme, Formen der Intimität sowie Lebens-und Liebesweisen hinweg in Gang zu setzen.
[1] Donna J. Haraway, When Species Meet, Minnesota: University of Minnesota Press, 2008, S. 17–18.
[2] Kyla Wazana Tompkins, „Introduction”, Deviant Matter: Ferment, Intoxicants, Jelly, Rot, New York: NYU Press, 2024, aufgerufen über Google Books, S. 14.
[3] Lynn Margulis und Dorion Sagan, What is Life?, New York: Simon & Schuster, 1995, S. 8.