Die Sprache besagt, dass die Zeit dahinfließt wie ein Fluss und dass wir keine andere Wahl haben, als mitzugehen und ihrem Lauf zu folgen. Oder etwa doch nicht? Für Wassergeister wie für die Quantenphysik ist Zeit kreisförmig, multipel und potenziell eher räumlich als sequenziell. Der Ozean birgt nicht nur Seelen und Sorgen, er beherbergt auch die Infrastruktur der Informationsnetze mit ihren riesigen Kabeln, die entlang ehemaliger Routen des transatlantischen Handels mit versklavten Völkern liegen und die Welt mit schnellem Internet versorgen. Diese gemeinsame Nutzung des Raums ist gleichzeitig pluriversal und gewalttätig; eine Gewalt, die wir, wie der aus Martinique stammende Dichter Édouard Glissant andeutet, wohl oder übel als produktiv begreifen müssen. Die filmische Videocollage Deep Down Tidal der Künstlerin Tabita Rezaire, die sich mit den Wasserwegen und Infrastrukturen dessen befasst, was wir heute als digitalen Kolonialismus verstehen, gibt die visuelle Anregung für die Provokationen der investigativen Journalistin und Datenwissenschaftlerin Karen Hao. Ihre Arbeiten über digitalen Kolonialismus haben sie zu einer global anerkannten Expertin für die Auswirkungen jener ungleichen Machtverteilungen gemacht, die sich auf technologische Systeme zurückführen lassen.  

Deep Down Tidal, Tabita Rezaire, 2017, HD-Video, 19'

Deep Down Tidal ist ein Video-Essay der französisch-guayanischen Künstlerin Tabita Rezaire, der die ozeanischen Dimensionen der Informations- und Kommunikationstechnologien erforscht. Der Ozean wird zur Schnittstelle für einen komplexen und vielschichtigen Raum des Informationsaustauschs, in dem politische, kosmologische, spirituelle und technologische Erzählungen auftauchen und sich innerhalb der komplexen Infrastruktur dessen, was wir heute als digitalen Kolonialismus bezeichnen, gegenseitig überlagern.

AI and its Old World Order
Oder: Wie einige wenige durch KI reicher werden, indem sie Gemeinschaften enteignen, die schon zuvor enteignet wurden

 Impulsvortrag von Karen Hao, auf Englisch mit deutscher Simultanübersetzung

In den vergangenen Jahren hat eine wachsende Zahl von Wissenschaftler*innen darauf hingewiesen, dass die KI in ihren Auswirkungen die  Muster der Kolonialgeschichte wiederholt. War der europäische Kolonialismus durch die gewaltsame Eroberung von Land, die Extraktion von Ressourcen und die Ausbeutung von Menschen zur wirtschaftlichen Bereicherung des erobernden Landes gekennzeichnet, so nutzt die KI-Industrie nun noch heimtückischere Mittel, um unser Verhalten zu erfassen, unsere Daten zu extrahieren und unsere Arbeitskraft auszubeuten – damit die wenigen Reichen und Mächtigen sich auf Kosten der Armen weiter bereichern können.

Dieser Vortrag nimmt nur eine Dimension dieses KI-Kolonialismus in den Fokus: die Ausbeutung von Arbeitskräften. Die KI-Industrie profitiert seit langem von einem Modell, in dem milliardenschwere Produkte auf der Grundlage einer großen, wirtschaftlich prekären Zahl von Arbeitskräften hergestellt werden. Jetzt verfeinert sie ihr Modell weiter, indem sie gezielt nach Arbeiter*innen in krisengeschüttelten Ländern sucht, um die Arbeitskosten noch weiter zu senken.