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AI (Ancestral Immediacies): Das kollektive Gehirn

Vorträge, Gespräche, Performances, Installation, DJ-Set

30. & 31. Mai 2025

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AI (Ancestral Immediacies): Das kollektive Gehirn untersucht an der Schnittstelle zwischen Künstlicher Intelligenz und Neurowissenschaften sowohl Technologie wie auch das Gehirn als Schauplätze des Bewusstseins, der Intelligenz und der Subjektivität. Das Programm untersucht, wie solche Vorstellungen, in denen üblicherweise die Trennung von Gehirn und Körper betont wird, zur Entwicklung von Computerarchitekturen geführt haben, die auf Individualismus und Separierung setzen. Das Programm erweitert diese Sichtweise des Gehirns um neuere Trends in der Informatik – wie etwa die Bezugnahme auf das Verhalten von Mycetozoa und Pilzen zur Lösung von Problemen – und lenkt den Blick auf andere Konzeptionen des Gehirns in heutigen wie in früheren Zeiten. Es wirft die Frage auf, wie diese Alternativen dazu beitragen könnten, die gesellschaftlichen Vorstellungen von Intelligenz kollektiver zu gestalten. Unter Berücksichtigung von einerseits Pflanzen, Pilzen und Geistern sowie andererseits mit dem Digitalen verbundenen Menschen und kollektiven Neuronen erörtert das Programm, ob und wie Künstliche Intelligenz genutzt werden könnte, um erneut an kollektive Vorstellungen von Intelligenz anzuknüpfen und mit einer versehrten Erde in Verbindung zu treten.

Immer wieder diente das menschliche Gehirn als konzeptioneller Ausgangspunkt technologischer Entwicklungen. Solche Bezugnahmen lassen sich historisch bis zu den alten Kulturen und ihren wissenschaftlichen Unternehmungen zurückverfolgen – trotz ihrer im Vergleich zu heute völlig unterschiedlichen Vorgehensweisen. Im alten Ägypten beispielsweise entstand eines der ersten bekannten technischen Modelle für das Gehirn. Die Entdeckung seines stark gefalteten Gewebes führte dazu, dass es mit Schlacke verglichen wurde, einem Abfallprodukt der Metallverhüttung. Das Hirngewebe, das heute als zentraler Ort und Kontrollsystem der Intelligenz von Säugetieren gilt, wurde für ebenso nutzlos gehalten wie diese metallische Masse. Stattdessen schrieben die Ägypter den Hirnhäuten, den weichen Schutzmembranen, die das Gewebe und das zentrale Nervensystem umhüllen, eine größere Bedeutung zu. Es ist möglich, dass sich verschiedene ägyptische Bestattungspraktiken an diesem wissenschaftlichen Leitgedanken orientierten, da das Gehirn selbst als für das Leben nach dem Tod überflüssig angesehen und dementsprechend vor der Mumifizierung entfernt wurde. Darin drückte sich der Glaube aus, dass das, was im nächsten Leben gebraucht wird, oder was sich gar als „Seele“ bezeichnen ließe, nicht allein an einer Stelle konzentriert ist, sondern sich über den gesamten Körper verteilt.

In den vergangenen Jahren wurden menschliche Vorstellungen von der Bedeutung des Gehirns auf Technologie – und umgekehrt – projiziert: Hydraulikpumpen, Dampfmaschinen, das von Charles Scott Sherrington etablierte Prinzip des verzauberten Webstuhls wie auch Telefonzentralen veranschaulichen die Verbindungslinien zwischen der Erforschung des Gehirns und unserer Auseinandersetzung mit Kultur.[1] Der Begriff der Intelligenz hat sich zunehmend an diese technologischen Fortschritte angepasst. Die Kybernetik war federführend in den Debatten, wie sich Vorstellungen des Gehirns und technologische Visionen zur Deckung bringen ließen. Sie zog gleichermaßen affirmative wie kritische Verbindungen zwischen der Erforschung des Gehirns und technologischen Entwicklungen und legte damit den Grundstein für gesellschaftliche Infrastrukturen, die den Menschen innerhalb des Feldes der Technologie verorten. Durch Technologie macht die Kybernetik das menschliche Wesen begreifbar und formbar. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das Zusammenspiel von technologischer Entwicklung, neuen konzeptionellen Auffassungen des Gehirns und sozioökonomischen Fortschritten das moderne Ideal des menschlichen Individualismus im Westen hervorgebracht.

Diese Genealogie bleibt zwar weitgehend ungebrochen, ist aber nicht alternativlos. Denn die Vorstellung eines singulären, körperlosen und individualistischen Gefäßes der Intelligenz wird schon seit Längerem von verschiedentlichen Ideen kollektiver und vernetzter Intelligenzen, verkörperter Kognition und mehr-als-menschlicher Handlungsmacht hinterfragt und unterlaufen. Dies verkompliziert eine Idee, die vielleicht so alt ist wie die Computertechnik selbst: Dass die eigene Intelligenz irgendwann auf einer Festplatte oder einem Computer gespeichert werden kann. Im Januar 2024 implantierte Neuralink seine erste Computerschnittstelle in ein menschliches Gehirn in einem ansonsten vollständig gelähmten Körper. Einen Monat nach der Operation waren jedoch 85 Prozent der Fäden des Links schon nicht mehr responsiv. Das wirft die Frage auf, ob das Gehirn nicht vielleicht doch auf einen Körper angewiesen ist, um zu funktionieren.

Nichtsdestotrotz könnte das Digitale den Menschen und andere Spezies vollständig verzehren – schließlich wurde die in Neuralink verwendete Technologie jahrelang in Experimenten an Affen, Schweinen und Schafen getestet, oftmals mit tödlichem Ausgang.[2] Die Anerkennung dieser und anderer Opfer im Dienste des Fortschritts der Künstlichen Intelligenz könnte dazu führen, dass die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen, der Unterschied zwischen nicht lebenswerten und lebenswerten Gehirnen und die Lokalisierungen der Intelligenz neu gezogen werden müssen. In Anbetracht von Nancy Frasers jüngster Einschätzung des „kannibalischen Kapitalismus“,[3] in der sie beschreibt, wie die gesamte Natur und Kultur sowie die Kapazitäten für gegenseitige Fürsorge und Solidarität verkonsumiert werden, erfordern diese Entwicklungen zunächst einmal eine Analyse der neuronalen Netzwerke und ihrer Stützungsfunktion für die Technokratie. Wichtiger noch ist es aber zu untersuchen, was es überhaupt bedeutet, ein Individuum zu sein, das die Erde konsumiert, und ob nicht vielleicht andere und differenziertere Wege zur Förderung von Intelligenz existieren könnten.

Dieses Konsumverhalten findet ein Echo im jüngst beobachteten Phänomen des KI-Kannibalismus. Mit dem Begriff wird ein Degenerationsprozess beschrieben, ein Qualitätsverlust, der eintritt, sobald KI-Systeme nicht mehr an menschengemachten Inhalten trainiert werden, sondern nur noch an ihrem eigenen Output. Dieses Phänomen erweist nicht nur die mangelnde Tragfähigkeit der maschinellen Erzeugung von Intelligenz mittels KI, sondern zeigt, dass sie letztlich sogar zur Implosion des gesamten Modells führt. Das alles verschlingende neuronale Netzwerk, das sich dem digitalen Kannibalismus hingibt, ist eine Folgeerscheinung, die die Hoffnungen der Entwickler*innen auf eine vollständige Automatisierung zerschlagen hat. Es stellt demnach einen unbeabsichtigten Störfaktor in der Logik des unablässigen technologischen Fortschritts dar. Entgegen dieser „widersetzt“ sich die KI ihrer eigenen Kommodifizierung mittels ihrer Weigerung, sich weiterzuentwickeln, sofern sie keiner Differenz ausgesetzt wird.

Gegenüber diesen potenziellen Zukunftsszenarien hat das Motiv des Kannibalismus allerdings eine historisch weit ausgreifende Tradition, etwa in der brasilianischen modernistischen Bewegung der 1920er-Jahre. In seinem Manifesto Antropófago aus dem Jahr 1928[4] verwendete der Schriftsteller Oswald de Andrade die Figur des Kannibalen als Chiffre des Widerstands gegen koloniale Hierarchien. Der Begriff der „Anthropophagie“ wurde ursprünglich in Berichten aus der Kolonialzeit verwendet und bezeichnete das ehrenhafte und ritualisierte Verschlingen des Anderen, wie es von Indigenen Stämme in den nordöstlichen Regionen der Mata Atlântica (Atlantischer Regenwald) praktiziert wurde. Von den europäischen Kolonialist*innen als barbarisch angesehen, wurde die Figur des Kannibalen als Mythos verbreitet und gilt als Zeichen der Angst des Westens beim Aufeinandertreffen mit der komplexen Kultur der Indigenen Karib*innen und Tupi. Zugleich wurde dieser Mythos zur Rechtfertigung der Unterwerfung dieser Völker herbeigezogen. Durch die Wiederaneignung der Bedeutung und des Werts dieser ritualisierten Formen der Welterschließung schlug de Andrade in seinem Manifest die Anthropophagie als Praxis vor, die sich ohne Rücksicht auf nationale Grenzen oder Identitäten das Wissen der Welt zu eigen macht und sich dabei sowohl die europäische Philosophie als auch Indigene Epistemologien einverleibt. De Andrade zielte auf die Erschaffung einer Sprache und Ästhetik, die eine Gesellschaft hervorbringen sollte, in der wie in der Anthropophagie alle Unterschiede einverleibt und verdaut werden – eine Gesellschaft, die Indigenem Gedankengut und aufklärerischen Idealen das gleiche Gewicht einräumt. Aus heutiger Perspektive ist es bezeichnend, dass es eine bürgerliche Elite war, die Indigene Wissenspraktiken für sich beanspruchte. Dennoch, oder vielleicht auch deshalb, verzeichnete die Anthropophagie keine wesentlichen Erfolge beim Versuch, Indigenen Epistemen ihre eigenständige Geltung zukommen zu lassen. Womöglich aber eröffnen das Konzept und die ihm innewohnenden Spannungen neue Perspektiven auf KI, verstanden als Figur, die die Welt ‚verzehrt‘, um sie sich auf diese Weise zu erschließen.

Mit Blick auf die komplizierte Geschichte der Anthrophagie[5] deuten die Auswirkungen des zeitgenössischen digitalen Kannibalismus darauf hin, dass Differenz und Differenzierung eigene Werte darstellen könnten. Es wird nicht möglich sein, die Aufrechterhaltung und Reflexion von Differenz maschinell durchzukalkulieren– weder in Ausdrucksformen, noch im Verständnis von Intelligenz, noch auf der Ebene scheinbar unveränderlicher Objekte wie Gehirnzellen oder immaterieller Konzepte wie Kognition. Die Unfähigkeit der KI, ihre eigenen Formen der Neuinterpretation anzuerkennen – oder sich selbst als außerhalb ihrer selbst stehend zu begreifen –, wirft unweigerlich Fragen nach dem Selbst und dem Anderen auf, nach der Art und Weise, wie Unterschiede produziert werden, und schließlich nach der Rolle intellektueller oder kognitiver Fähigkeiten innerhalb dieses Prozesses. Umgekehrt wird durch den Blickwinkel des KI-Kannibalismus die Anthropophagie in ihrem vermeintlich universellen Anspruch problematisiert. Denn der ohne Bewusstsein für Differenz oder Kontext durchgeführte Prozess der Verschlingung kann allzu leicht in eine Art von bequemer Verkümmerung münden. Wie also können diese Konzepte in einer Zeit miteinander in Dialog treten, in der einmal mehr Differenzierungen und Verweise auf das Partikulare entweder abgelehnt oder instrumentalisiert werden?

In dem Maße, in dem „Künstliche Intelligenz“ zunehmend zum Oberbegriff für alle Formen technologischer und zukunftsorientierter Eingriffe wird, beeinflusst sie auch gesellschaftliche Vorstellungen vom Gehirn und verändert damit auch faktisch das Bild der sie tragenden Körper und der Umwelten, aus denen sie hervorgehen. Trotz der Wandlungsfähigkeit der Gehirnmetapher bleibt ihre Konzeption unterentwickelt, insbesondere mit Hinblick auf die Frage, wie sie Gesellschaft und Kollektivität mitgestaltet. Mittels einer anthropophagischen Lesart könnte die Idee, dass die Digitalität ihr menschliches Anderes ‚frisst‘, Gehirne, Intelligenzen und Subjektivitäten hervorbringen, die kollektiv und gemeinsam genutzt werden, da ihre Energien potenziell unbekannte, poröse Grenzen überqueren oder durch sie hindurchsickern. Anzeichen für derlei Erkenntnisse finden sich in Forschungen zu Pflanzen, Mycetozoa und Pilzen, die allesamt Impulse für eine differenziertere Diskussion über die Beziehungen zwischen Gehirn, Geist, Intelligenz und Körper liefern können. Welche Formen von ökologischer Normativität, welche Vorstellungen von Gesellschaft, welche ökonomischen und sozialen Formen von Intelligenz entstehen aus diesen Verschiebungen?

Eintritt frei. Alle Veranstaltungen und Gespräche finden (überwiegend) in englischer Sprache statt, mit Übersetzung ins Deutsche.

 

[1] Cornelius Borck, „Fühlfäden und Fangarme: Metaphern des Organischen als Dispositiv der Hirnforschung“, in: Michael Hagner (Hg.), Ecce Cortex. Beiträge zur Geschichte des modernen Gehirns, Göttingen: Wallstein, 1999, S. 144-176.

[2] Siehe Rachel Levvy, „Exclusive: Musk’s Neuralink faces federal probe, employee backlash over animal tests”, Reuters, 6. Dezember 2023, www.reuters.com/technology/musks-neuralink-faces-federal-probe-employee-backlash-over-animal-tests-2022-12-05/.

[3] Nancy Fraser, Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, übers. v. Andreas Wirthensohn, Berlin: Suhrkamp, 2023.

[4] Oswald de Andrade, „Das anthropophage Manifest“, in: ders., Manifeste,übers., hg. und kommentiert von Oliver Precht, Wien / Berlin: Turia + Kant 2016, S. 34–59.

[5] Oliver Precht, der deutsche Übersetzer des Manifesto Antropófago, gibt hier eine kurze Übersicht über die Relevanz des Manifests und des Konzepts für die brasilianische Geistesgeschichte: https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/06/01/oliver-precht-gibt-es-eine-brazilian-theory/