The Nation with the Soul of a Church

A Nation with the Soul of a Church?

Transatlantische Dissonanzen zur Rolle der Religion


Themenspektrum des Religion-Podiums im Rahmen der Transatlantischen Gespräche


Vorträge:

Paul S. Boyer (Professor im Ruhestand für Geschichte, University of Wisconsin, Madison)

José Casanova (Professor für Sozialogie, New School for Social Research, New York/Budapest)


Diskussion:

Britta Waldschmidt-Nelson (American Institute, University of Munich)

Moderation.: Berndt Ostendorf (American Institute, University of Munich)


Ein Diskussionsforum in New York im Dezember 2003, das mit linken wie rechten europäischen Intellektuellen besetzt war, kam zum Schluß: „Die Rolle der Religion in den USA ist ein Affront gegen das säkulare Europa.“ Woher rührt die neuerliche Vitalität der evangelikalen, pentekostalen und fundamentalistischen Religionen, die zu einer wichtigen politischen Macht der USA geworden sind, und warum bleiben diese für Europäer weitgehend rätselhaft. Hierzu fünf Thesen:


Erstens: In den USA ist das Webersche Säkularisierungsparadigma nicht anwendbar, und dies, obwohl die USA 1789 von den Gründungsvätern als radikal säkularer Staat mit einer aufgeklärten Verfassung konzipiert wurden und obwohl die Modernisierung, die Weber als Triebkraft der Säkularisierung verstand, in den USA erheblich schneller und rücksichtsloser wirkte (und auch heute noch wirkt) als in Europa. Die Erklärung für das Ausbleiben der Säkularisierung liegt in einer dialektischen Spannung im ersten Zusatz zur Verfassung: Hier wird die radikale institutionelle Trennung von Kirche und Staat festgeschrieben (anti-establishment clause); aber die individuelle freie Ausübung der Religion ebenso radikal geschützt (free exercize clause). Im ersten Zusatz zur Verfassung ist die Privatisierung, Popularisierung und Pluralisierung der Religiösität im freien Markt als historische Zukunft vorprogrammiert.


Zweitens: Kurz nach der Gründung der Republik hat zunächst ein gradueller und weitgehend regionaler, dann ab den 1960iger Jahren ein beschleunigter, nationaler Prozess der Desäkularisierung eingesetzt. Diese war die Reaktion auf die von oben verordnete institutionelle Trennung von Kirche und Staat. Es hat in der amerikanischen Geschichte eine Serie solcher Erweckungsbewegungen gegeben, allerdings blieben diese bis 1960 ohne politische Konsequenzen. Die politische Wende der religiösen „silent majority“ begann als Reaktion auf die liberale Revolution der sechziger Jahre. Seitdem ist die sog. „moralische Mehrheit“ (Falwell) politisch aktiv geworden, vor allem nach der Kontroverse über das Schulgebet im Jahr 1962 und nach der Abtreibungsentscheidung des Obersten Gerichts im Jahr 1972. Das Krisenmanagement der religiösen Rechten entsteht also als Reaktion auf die Säkularisierung. Zu ihrer Bekämpfung greift das freigesetzte Individuum nach einfachen religiösen Orientierungen, also den sogenannten Fundamentals, und zu privaten statt zu staatlichen Lösungen, also zur „born again“ Erfahrung der Evangelikalen. Have you chosen Jesus as your personal savior, wird zur Gretchenfrage.

Drittens: Die Religionsfreiheit hat die USA zu einem Biotop für neue religiöse Bewegungen werden lassen, wie ein Blick in die Gelben Seiten irgendeiner Großstadt deutlich macht. In dem Spannungsfeld zwischen Modernisierungsschüben und Desäkularisierungsreaktionen haben sich auch neue religiöse Kunden eingerichtet und neue Formen der populären Religiosität gebildet. Es hat im Laufe der amerikanischen Geschichte eine kumulative Indigenisierung vor allem der populärreligiösen, apokalyptischen und millenarischen Fantasien stattgefunden, die in Europa eher verpönt sind. Eine manichäisch-apokalyptische Matrix ist im Laufe der Zeit zusammengewachsen, die bis in den Hollywood Film spürbar ist. definiert von einer Endzeiterwartung und einem melodramatischen Kampf zwischen Gut und Böse.


Viertens: Popkultur und Religion stabilisieren sich gegenseitig. Angebot und Nachfrage des religiösen Markts haben das Ritual und die liturgische Choreographie der amerikanischen Religionen stark beeinflusst und zur ihrer Reduktion auf den Warencharakter und zu ihrer Inszenierung als Spektakel geführt. Wieder findet ein dialektischer Prozess statt: Die populäre Medienkultur hat die religiös-apokalyptische Symbolik als moralischen Mehrwert aufgesogen (Rap, Hollywood). Umgekehrt haben die neuen Megakirchen, die im Geschäft des „selling Jesus“ sind, die komsumorientierten Medien und Werbung, grob gesagt die McDonaldisierung, mit großem Erfolg eingesetzt. Diese Hinwendung zur Dienstleistung hat mehrere Konsequenzen: sie hat die theologischen Inhalte weitgehend ausgedünnt. Religion wird zum „life-style“ und zur „wellness.“ Gleichzeitig hat diese Verarmung der Doktrin einem religiös motivierten Anti-Intellektualismus Vorschub geleistet, der die vereinfachte Doktrin der Fundamentals und die Rolle der Privatoffenbarung stärkt.


Fünftens: Man könnte von einer anwachsenden Symbiose der millenarischen und demokratischen Leidenschaften und ihrer Aufhebung im populären Patriotismus sprechen:

Die religiöse Mobilisierung kam besonders Ronald Reagan und George W. Bush zugute, aber ihr Einfluss ist auch auf lokaler Ebene spürbar. Mit Hilfe eines neuen Netzwerks von Organisationen, kollektiv „religiöse Rechte“ genannt, propagierte sie den Marsch durch die Institutionen und mobilisierten evangelikale Wähler mit emotionalen Appellen an Moral und Patriotismus. Angeregt durch Endzeitfantasien, die von den Bestsellern der Left Behind Romane popularisiert wurden, hat die religiöse Rechte Einfluss auf außenpolitische Fragen wie die Rolle der UN, Globalisierung und NAFTA, Ökologie, den Irak Krieg und die Nahostpolitik genommen. Hierbei erhöht der alte missionarische Anspruch einer City upon a hill die soteriologische Versuchung: Denn die religiöse Rechte versteht die USA als Erlösernation, die die Welt „sicher für die Demokratie“ machen möchte. Dazu hilft eine Bereitschaft zur Violenz, die religiös begründet wird und das alttestamentarische lex talionis mit dem Bellizismus der Neokonservativen verbindet. „Religiöse Leidenschaft“ so Tocqueville, „wird in den USA vom Feuer des Patriotismus aufgeheizt“. Er meinte damit auch jene Sakralisierung der nationalen Rhetorik, die zur Gewohnheit des politischen Geschäfts geworden ist. Präsidenten reden wie Hohepriester der Nation. Das amerikanische Volk erwartet diese religiös durchwachsene Rhetorik, wenn der Präsident sich zu grundsätzlichen Fragen des nationalen Interesses äußert. Europäer halten dies für heuchlerisch oder gar zynisch.


Diese Abweichungen von der europäischen Regel geben der amerikanischen politischen Kultur ihren eigenartigen, für Europäer oft undurchschaubaren Charakter.