Tupinambá Ybaka – Der Himmel der Tupinambá
Ich heiße Glicéria de Jesus da Silva, auch bekannt als Glicéria oder Célia Tupinambá. Ich lebe im Indigenen Territorium Tupinambá de Olivença im Süden von Bahia, Brasilien. Ich bin Teil der Indigenen Bewegung und kämpfe für die Verteidigung unseres Gebiets und unserer Gemeinschaft. Ich weiß, wer ich bin – und das liegt an meiner Verbindung zu unserem Land.
Mein Kampf zum Schutz unseres Territoriums führte 2010 zu meiner Verhaftung. Im Gefängnis kam es eines Tages zu einer Rebellion und wir blieben über Nacht im Hof. Ein 14 Monate altes Kind unter uns blickte hinauf zum dunkel gewordenen Himmel und sah die Sterne. Der Junge rief die Menschen um ihn herum dazu auf, auch in den Himmel zu schauen. Und dann – als niemand mehr auf ihn achtete – begann er, für die Sterne zu tanzen. Er drehte sich und sprang hoch, um nach ihnen zu greifen. Auch ich hielt meinen Sohn in den Armen, er war nur wenige Monate alt. In jenem Moment, als ich dem Kind dabei zusah, wie es zum ersten Mal den Sternenhimmel entdeckte, erkannte ich, wie viel uns genommen worden war: Sogar den Himmel haben sie kolonisiert. Ich fragte mich: Wie ist unser Himmel beschaffen? Wie ist der Himmel meiner Leute, der Himmel der Tupinambá beschaffen? Wie ist der Himmel Indigener Gesellschaften beschaffen? Diese Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Später begann ich die Arbeit an dem Tupinambá-Mantel. Der Mantel erzählt und in einem Traum sprach er zu mir, dass er ein Geschenk des Himmels an die Erde war und dass er diese Verbindung aufrechterhält. Und während ich das Gewebe des Mantels herstellte, erkannte ich, dass es das Gewebe des Himmels ist – das Netz der Sterne. Und so betrachtete und beobachtete ich den Himmel jeden Tag noch öfter.
Schon als Kind hörte ich immer wieder, dass die encantados [Ahnenwesen] über einen Sternenzweig zu uns kommen. Ich hörte auch, dass es nötig war, den Himmel zu beobachten, um zu wissen, ob Regen käme und wie lange er anhalten würde. Für alles empfahlen uns die Älteren, in den Himmel zu schauen. Als Kind verstand ich das nicht. Ich blickte in die Sterne und erkannte nicht, dass ein schwächeres Leuchten bedeutete, dass es regnen würde. Als ich schließlich verstand, dass die Sterne derart mit unserem Land und unserem Wissen verbunden sind, beschloss ich, mich diesem Wissen zuzuwenden. Denn es ist nicht nur wichtig, unsere eigenen Namen zurückzuerlangen, sondern die Funktion in den Blick zu nehmen, die dieses Wissen in der Welt hat. Es ist nicht mit den Älteren verloren gegangen.
Der Himmel der Tupinambá wurde von Reisenden und Priester*innen über die Zeiten hinweg aufgezeichnet. Sie schrieben über das Sternbild „Der alte Mann und sein Stock“, Tuibaé. Für die Tupinambá symbolisiert er die Schöpfung der Menschheit. Er war es, der die ersten Menschen aus Bäumen schnitzte. Die Bäume schenkten ihm das Material und er schnitzte uns mit seinem Stock. Dann übergab er die Aufgabe, die Schöpfung der Menschheit fortzuführen, dem pajé [Schamanen] und verließ uns, um in den Sternen zu leben. Er ist auch eine wichtige Orientierung für die Einteilung der Zeit. Neben Tuibaé gibt es weitere Sternbilder wie „Der Pfad des Tapirs“, es gibt die Rhea, den Hirsch und weitere Tierbilder. Tatsächlich ist sogar die Erde am Himmel vertreten. Das Sternbild, das in Brasilien als „Três Marias“ bekannt ist, heißt in der Sprache der Tupinambá „Joykexo“. Diese drei Sterne stehen für Fruchtbarkeit. Sie repräsentieren auch den Pfad der Seelen, den Pfad des Todes. Sie kümmern sich seit Anbeginn der Zeiten um das Leben. Die Älteren sprachen immer von diesen drei Sternen, betrachteten sie, beteten zu ihnen und erbaten Informationen. Zum Wechsel der Jahreszeiten lasen sie aus ihnen, ob es regnen oder die Sonne scheinen würde. Wir müssen die Sterne beobachten, um zu erkennen, wie das Klima wird. Für uns ist das grundlegend, weil wir nicht von irgendeiner Technologie abhängen – abgesehen von den Lehren, die die Älteren uns übermitteln. „Der Pfad des Tapirs“ bot Reisenden Orientierung und geleitete sie von einem Ort zum anderen. Damals hatten die Menschen keine Karte dabei, sie orientierten sich am Himmel. Die Sterne waren eine Karte, führten uns, boten einen Pfad.
Jeden Tag versuche ich, den Sternen näherzukommen, sie besser kennenzulernen, sie und ihre Funktion besser zu verstehen. Weil sie nicht nur Teil von etwas sind, sondern etwas Vollständiges, Ganzes. All diese Konstellationen aus Sternen, die an unserem Himmel leuchten, stehen auch für unsere encantados. Sie bringen mich dem Mantel und den Sternen näher. Ich wünsche mir, dass andere Menschen hiervon hören und verstehen können, dass es einen anderen Himmel gibt. Ich überführe diese Sterne in natürliches Textil, in Kokosnussfaser. Wie Tuibaé, der alte Mann mit dem Stock, der das von den Bäumen gespendete Material nutzte, habe ich um Erlaubnis gebeten, mit Vorsicht und Respekt den Sternenhimmel darzustellen, die encantados, unsere Sterne, den Himmel der Tupinambá. Dieses Werk ist eine Einladung, den Himmel anders zu betrachten, sich einen anderen Blick anzueignen. Wie jenes Kind, das zum ersten Mal diesen Himmel sah und für die Sterne tanzte, versuchte, nach ihnen zu greifen – so lade ich Sie alle dazu ein, jede einzelne Person, diesen Himmel zu betrachten und darin den eigenen Himmel zu finden.
Glicéria Tupinambá
Serra do Padeiro, 23. Januar 2023