Seit vielen Jahren zieht die Digitalkünstlerin und Filmemacherin Shu Lea Cheang ihre Inspiration aus einer Vielzahl an Einflüssen – von Science-Fiction über Geschlechtertheorien bis hin zur Transgenetik –, um die stets aufs Neue kollabierenden Grenzziehungen zwischen körperlicher Autonomie und Regierungskontrolle in den Blick zu nehmen. In Virus Becoming (2022) spiegelt die Zirkulation von Viren und Müll die variablen Definitionen von physischer ‚Reinheit‘ und Wertigkeit. Wir schreiben das Jahr 2060 und Reiko, ein ausrangierter Replikant, ist vom Unternehmen Genom nach einer Data-Mining-Mission in der menschlichen Welt entsorgt worden. Reikos nun dysfunktionaler Körper wird mithilfe anderer Bewohner*innen von E-Trashville aus weggeworfenen Schaltkreisplatinen und Robotergliedmaßen neu zusammengesetzt – eine Metamorphose, die am Ende einen neuen Virus namens UKI hervorbringt. Die Installation Red Pill (2021–2023) zeigt eine beinahe komisch überdimensionierte Pille, die mit Blutzellen gefüllt ist. Sie wirkt weniger wie eine Skulptur als eine Requisite für den Messestand eines Pharmakonzerns. Obwohl das Werk die kulturellen Konnotationen der „roten Pille“ und die Chance, in einer Welt aufzuwachen, in der die Wirklichkeit in ihren Grundfesten erschüttert ist, nicht explizit zum Ausdruck bringt, sind derartige Assoziationen unvermeidlich. Dass solche Ideen längst von rechten Kräften und maskulinistischen Verschwörungsnarrativen übernommen wurden, unter­ streicht bloß den schlüpfrigen Status der ‚Wahrheit‘ und ihrer ideologischen Manipulation. Cheangs Werke werden unter dem Gewicht all dieser Einflussfaktoren aber nicht schwach, im Gegenteil sprühen sie vor Attraktivität und Erregung. In ihrer queeren Vision von Zukunft können kleine Fehler im System immer noch für widerständige Zwecke genutzt werden.

WERKE IN DER AUSSTELLUNG: Red Pill (2021), 3D-Druck und Glas, 100 × 30 × 30 cm; Virus Becoming (2022), 1-Kanal-Video, Farbe, Ton, 630". Courtesy Shu Lea Cheang