Fantasy of the Red Queen

Fantasy of the Red Queen

Kammeroper (Uraufführung)

Aufführungen am 09. und 10. Mai 2006 im Haus der Kulturen der Welt Veranstaltungsinformationen >>>


Die Oper

In Kooperation mit dem Ensemble Modern bringt das Haus der Kulturen der Welt die Auftragsoper Fantasy of the Red Queen von Liu Sola zur Aufführung. Die Oper erzählt allerdings nicht die Geschichte der „Red Queen“ selbst [– der vierten Ehefrau Maos, Jiang Qing –], sondern die einer Frau, die sich, getrieben von Machthunger, so sehr mit Jiang Qing identifiziert, dass sie ihre Identitäten nicht mehr auseinander halten kann.

Jiang Qing war als Mao Tse-Tungs Frau wichtigster Auslöser und Antriebskraft der Kulturrevolution. Nach einer mittelmäßig erfolgreichen Karriere im Shanghai der 20er-Jahre als Darstellerin in der Peking Oper und im Film schließt sie sich den Kommunisten in Ya’nan an, wo sie Mao kennenlernt und schließlich heiratet. Viele Jahre ist sie gezwungen, in seinem Schatten zu leben. In den 60er-Jahren jedoch, als die politische Opposition an Boden gewinnt, greift Mao auf die Hilfe seiner Frau zurück, um die Kulturrevolution in Gang zu setzen. Bald wird sie zu deren führendem Kopf: Jiang Qing sieht ihre Stunde gekommen, bedient sich der Kulturrevolution, um persönliche Feinde und Konkurrentinnen zu beseitigen und ihre Vorstellungen von „revolutionärer Kunst“ durchzusetzen. Inhaftierungen, Folter und politische Morde geschehen auf ihre Anweisung, betroffen waren vor allem Kulturschaffende und Intellektuelle. Zunächst in Universitäten und wenig später auch in Schulen und Fabriken in ganz China bilden sich „Rote Garden“, die ihrem Befehl folgend Chaos und Zerstörung verbreiten. Unzählige Schriften werden vernichtet, Museen und Theater gestürmt und geplündert. Jiang Qing persönlich gibt die acht sogenannten „Modellopern“ in Auftrag, die als einzige während der Kulturrevolution noch gespielt werden durften, zum Teil unter ihrer Regie. Nach Maos Tod aber lassen ihre Wiedersacher Jiang Qing verhaften, alle Rechte werden ihr aberkannt, selbst das Recht, sich Maos Witwe zu nennen. Sie verbleibt rund 20 Jahre in Haft, bis sie sich, schwer krank, mit 80 Jahren das Leben nimmt.


Die Protagonistin in Liu Solas Oper ist nicht Jiang Qing, sondern eine alte Frau, die durch ihren Machthunger in geistige Umnachtung verfallen ist [und in ein Krankenhaus eingewiesen wurde]. Auf einer Ebene ist die Oper daher eine politische Phantasmagorie, die Politik als Wahngebilde präsentiert. Sie zeigt die Macht der Illusion – und die Illusion der Macht. Andere Handlungsebenen entwickeln sich durch eine Mischung aus Fakt und Fantasie, Erinnerung und Sehnsucht. Das Geschehen spielt sich sowohl auf der Bühne als auch auf einem riesigen Video-Bildschirm ab. Wir erkennen schnell, dass die Wächter der neuen Gesellschaftsordnung auf der Bühne (verkörpert durch die Krankenschwester, die Sekretärin und den Chef) nicht länger die Roten Garden sind, sondern Bürger einer Konsumgesellschaft – einer Gesellschaft, die sich auf Mobiltelefone, globale Waren und chemische Geschmacksverstärker stützt. Auf der Bühne sitzt die alte Frau und starrt die Wand an, die sich in einen Video-Bildschirm verwandelt, auf dem sie sich selbst in verschiedenen Phasen ihres Lebens sieht: als junge Frau, als Schauspielerin in einer Peking-Oper, als schöne, reife Frau, die in der Verbotenen Stadt festgehalten wird, und als die Rote Königin, in ein Kostüm der Peking Oper gekleidet. In späteren Szenen sind andere Sequenzen zu sehen: Eine Tänzerin der Peking Oper führt Bewegungen aus, die als „revolutionär“ kodifiziert sind – ein anderes Mal tritt dieselbe Tänzerin als Geist auf.

In allen Szenen kommt ein maskierter Zither-Spieler vor, der eine alte Melodie ohne jeden politischen Unterton zu Gehör bringt. Dieser mysteriöse Zither-Spieler ist eine zentrale Symbolfigur, der in gewissem Sinne für die Zählebigkeit historischer Traditionen steht, die trotz „revolutionärer“ und „kapitalistischer“ Umwälzungen weiterbestehen. Die andere zentrale Figur ist der Teufel, dessen Dialoge mit der Roten Königin den dramatischen wie emotionalen Kern der Oper bilden. Während er ihre tiefsten Sehnsüchte zu erfüllen scheint, kontrolliert und manipuliert er sie gleichzeitig. Der Teufel kennt und versteht die Macht der „Tradition“ – durch ihn verfällt die Rote Königin auf die Idee, traditionelle Chinesische Oper und Revolution zu verbinden, um die revolutionäre Oper zu schaffen. Ihr Austausch dient als Beleg, dass die Sehnsucht nach Macht nur ein konkreter Fall der Macht der Sehnsucht ist, der wir paradoxerweise machtlos gegenüberstehen. Diese dialektische Beziehung zwischen Macht und Ohnmacht, die sich besonders prägnant am Beispiel Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft zeigt (sei sie nun kommunistisch oder kapitalistisch), kann zum tragischen Ende einer Jiang Qing oder einer Roten Königin führen.


Besetzung und Credits

Komposition und Libretto:

Liu Sola

Musiker:

Ensemble Modern, neunzehn Instrumentalisten

Neun chinesische Instrumentalisten, von denen sechs traditionelle chinesische Instrumente spielen: drei chinesische Trommeln, Guqin (Zither), Pipa (Laute), Piano/Akkordeon (im Revolutionsstil)

Drei chinesische Sänger(innen): Liu Sola als alte Frau, die sich für Jiang Qing hält; eine Popsängerin als Krankenschwester; ein Sänger der Peking Oper als Teufel

Alle Instrumentalisten haben Sprechrollen als Chor

Dauer:

Anderthalb Stunden ohne Pause. Die Oper besteht aus einem Präludium, sechs Szenen und einem Epilog, ohne Wechsel des Bühnenbilds


Die Musik

Die Musik benutzt Motive aus Revolutionsliedern, traditioneller Musik, Shanghai Pop, 30er-Jahre-Jazz, dem so genannten Revolutionären Tango, traditioneller Chinesischen Oper, chinesischem Hip-Hop sowie Romantischer, Modernen und zeitgenössischer Klassischer Musik. Sie schöpft aus den verschiedensten Musikformen, die in den letzten 150 Jahren auf allen Erdteilen geschaffen wurden, um die Beziehung von Musik und sozialen Vorstellungswelten zu erforschen. Liu Solas eigene Partitur entsteht durch einen Prozess der Komposition und De-Komposition: Sie meidet musikalische Reinheit. In der Musik, die der Roten Königin gewidmet ist, hören wir die Anfänge musikalischer Entwicklungslinien, die abbrechen, unterbrochen und umgelenkt werden. Dennoch durchzieht eine Art äußerster Leidenschaft das Ganze.


Die Inszenierung

Die Musiker des Ensemble Modern tragen schwarze Anzüge und graue Armbinden. Sie formen einen Halbkreis im Hintergrund und spielen ihre Rolle als Sicherheitsleute. Sie bewegen sich auch auf der Bühne: laufen, tanzen, singen. Die chinesischen Musiker im Vordergrund tragen graue Overalls und spielen das Personal des Krankenhauses. Liu Sola ist die Rote Königin: die verwirrte alte Dame. Eine bekannte Pekinger Popsängerin spielt die Rolle der Krankenschwester, die lieber ein Popstar wäre. Ein bekannter Star der Peking Oper spielt die Rolle des Teufels, der der Roten Königin immer wieder hilft, den Kontakt zur Vergangenheit herzustellen.

Das Bühnenbild ist äußerst karg und schlicht. Es besteht aus einem großen Bett mit einem Video-Bildschirm dahinter. Das Krankenhausbett füllt die Bühnenmitte vollständig aus. Hier hält sich auch die Rote Königin die ganze Zeit auf.

Eine DVD-Projektion auf einem Schwarz-Weiß-Bildschirm liefert verschlüsselte Rückblenden auf die Zeit der Kulturrevolution als auch der vorhergehenden Periode: hin- und herwogenden Massen, die hochdekorierte Uniformjacke eines Spitzenfunktionärs, eine tanzende Opernschönheit aus dem Shanghai der Zwanziger... Das gesamte Bühnenbild einschließlich der Kostüme ist in schwarz-weiß gehalten. Die einzigen farbigen Elemente sind die Kostüme der Roten Königin aus ihrer glorreichen Phase; einige hängen an verschiedenen Stellen, einige trägt sie im Verlauf der Oper.