You Have No Choice

You Have No Choice

Kammermusikprojekt in Kooperation mit dem Ensemble Modern

Kuratorin: Liu Sola


1977, nach dem offiziell erklärten Ende der Kulturrevolution, nahm das Konservatorium in Beijing seinen Betrieb wieder auf. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wurde wieder eine Klasse von Kompositionsstudenten immatrikuliert. Viele von ihnen hatten Umerziehungslager oder Zwangsarbeit in der Landwirtschaft erlebt.Die Kompositionsklasse, die 1983 ihr Studium abschloss, ist in vieler Hinsicht einzigartig. Sie steht beispielhaft für Öffnung und Modernisierung Chinas wie niemand vor ihr oder nach ihr. Vor ihr regierte das Revolutionspathos, nach ihr die Marktgesetze. Die heute wichtigsten chinesischen Komponisten kommen aus dieser Klasse. Aufgewachsen und zunächst ausgebildet unter dem Schatten der Kulturrevolution, waren sie Freigeister, die der Revolutionswerke müde waren und sich nach neuen Richtungen orientierten und schließlich sogar die Welt bereisten. Ihr Werk wurde innerhalb Chinas heftiger diskutiert, als das bis dahin oder auch später üblich war. Das Projekt „You have No Choice“ stellt die viel gefeierten und kritisierten Mitglieder dieser Kompositionsklasse mit Auftragswerken und älteren Kompositionen vor, resümiert ihre Entwicklung seit den 80-er Jahren und fragt nach ihren heutigen künstlerischen Positionen und deren Bedingungen.„You Have No Choice“ ist der Titel einer Novelle von Liu Sola, Studentin dieser Klasse, heute Komponistin, Schriftstellerin und die künstlerische Leiterin dieses Projektes. Sie hat in ihrem Buch die Klasse porträtiert, ihre künstlerische Suche zwischen Drill und Ausbruch gezeigt und damit Millionenauflagen erzielt. Noch heute gilt die Novelle unter jungen Leuten als Kultbuch, ist Aufruf zur Aufmüpfigkeit wie auch Hilfe, die Generation der Eltern zu verstehen.Das Projekt ist ein wichtiger Teil des Programms "China - Zwischen Vergangenheit und Zukunft", weil kulturelles Gedächtnis, kulturelles Erbe und dessen Anverwandlung gerade in der zeitgenössischen Musik Chinas von großer Bedeutung sind. Auf die chinesische traditionelle Musik folgten die Begegnung mit der europäischen Klassik, die Konservatorien sowjetischer Prägung, die Kulturrevolution mit ihren Revolutionsliedern und schließlich die Begegnung mit zeitgenössischer westlicher Musik sowie Rock, Pop, Jazz. Dies sind die Sedimente heutiger chinesischer Kompositionen.Die Komponisten der 83er Abschlussklasse waren in einer schizophrenen Situation: Einerseits wurden sie für ihren künstlerischen Mut landesweit gefeiert und umjubelt wie Popstars. Sie waren berühmt, wie es für Komponisten zeitgenössischer Musik hierzulande unvorstellbar ist. Andererseits wurden sie harsch kritisiert, von den alten wie von den jüngeren Kollegen. Die älteren warfen ihnen vor, sich von den Idealen des Kommunismus zu entfernen, selbstherrliche, eitle Musik zu komponieren, die ihrem eigenen Vergnügen dient und nicht dem Ruhm der Arbeiter- und Bauernschaft. Die Generation der heute 20 bis 30-jährigen kritisiert eine noch zu enge Verbindung der Komponisten des 83-er Jahrgangs mit den alten Idealen - sie seien zu wenig frei in ihrem Ausdruck, zu wenig westlich und „modern“.

Die Geschichte der Kompositionsklasse, die Kritik an ihr und ihre eigene Positionierung wird Gegenstand eines Podiumsgesprächs sein.