Gamelan

Klang-Räume und Schatten

Zeitgenössische (Gamelan) Musik aus Indonesien: Lokal - National - International

von Dieter Mack, Komponist und Kurator des Gamelan Festivals


Unter dem Überbegriff „zeitgenössische Musik“ könnte man mehrere und zugleich extrem verschiedenartige Musikprogramme mit dem Schwerpunkt Südostasien zusammenstellen. Allerdings nur, wenn man davon ausgeht, dass unser Geschichtsbegriff vor allem bei oralen Musikkulturen kaum sinnvoll anwendbar ist. Bewusst verändernde Entwicklungen sind für viele Indonesier zugleich auch Metaphern für Kulturverlust. Andererseits haben sich in Südostasien die Rahmenbedingungen junger Künstler in den letzten Jahrzehnten radikal geändert. Globalisierung, mediale Präsenz, Migrationen (gewaltsame und friedliche) und eine scheinbar unbegrenzte Verfügbarkeit haben das Bewusstsein junger Künstler wesentlich beeinflusst. Dagegen stehen allerdings autoritäre politische Systeme, die lange Zeit darauf drängten, die Künste zu funktionalisieren. Viele junge Künstler versuchen deswegen, durch einen radikalen Schnitt heraus aus ihren traditionellen Schatten zu treten, um am globalen Interplay aktiv teilzunehmen. Wenngleich solch ein Unterfangen in den meisten Kunstsparten auch eine politische Komponente beinhaltet (auch eine bewusste Abwendung von politischen Umständen zugunsten künstlerischer Ästhetisierung wäre ein indirektes politisches Statement), so ist es vor allem die Musik, die vergleichsweise unberührt alle politischen Wirren überstanden hat. Schaut man jedoch ein wenig hinter die Kulissen, dann haben die politischen Umstände aber trotzdem einen nicht unwesentlichen Einfluss ausgeübt, denkt man beispielsweise an die Gräueltaten in Vietnam oder auch Kambodscha, die bis heute noch nicht überwunden erscheinen und eine eigenständige und aktuelle Musikszene bisher nahezu verhindert haben. Trotz aller Migrationen und Vermischungen hat doch jedes Land seine eigene Problematik. Vor allem Indonesien, der größte Staat Südostasiens, hat eine völlig eigenständige zeitgenössische Musikentwicklung, die keine nennenswerte Verbindung zu den anderen Ländern aufweist.


Populärmusik

Häufig versteht man unter aktueller Populärmusik vor allem Musik der Jugendkulturen, die sich vor allem medial vermitteln oder durch multikulturelle cross-over geprägt sind. Es handelt sich also um eine Art global verbreitete Gesamtrichtung auf der Basis verschiedenster Traditionen (Hiphop, Rock etc.) mit jeweils lokalen Nuancen, sei es hinsichtlich der Sprache, verschiedenen lokalen Instrumenten oder partiellen Anleihen bei traditionellen lokalen Musikformen. Dies ist eine Form der populären Musik, die auch in Indonesien ihre Anhänger vor allem in jüngeren urbanen Gebieten hat. Daneben gibt es selbstverständlich – und wahrscheinlich am populärsten! – Musikformen, die wir lapidar als Schlager bezeichnen würden. Sie unterscheiden sich von der deutschen Variante ausschließlich durch die verwendete Sprache. Diese Welt von Glamour, Starkult und Wecken von Sehnsüchten hat in Indonesien einen erstaunlichen Stellenwert, und es vergeht kein Abend, an dem nicht mindestens ein, wenn nicht mehrere Fernsehsender längere Musikshows dieser Art präsentieren.Schließlich ist es aber ebenso eine Tatsache, dass zeitgenössische Musik durchaus populär sein kann, wenn man, wie beispielsweise auf Bali die Trennung zwischen Kunst-, Unterhaltungs- und religiöser Musik gar nicht kennt. Selbst bei den avantgardistischsten Darbietungen kann man von der aktiven und kritischen Anteilnahme des größten Teils der Bevölkerung ausgehen. Ähnliches gilt auch für die Situation in West-Sumatra und auch in Westjava. Daneben gibt es noch unzählige Volksmusikformen, die kaum überschaubar sind und bezüglich der jeweiligen Ethnie oder Subethnie (manchmal nur ein Dorf) natürlich als populäre Musik gelten.


Gamelan

„Gamelan“ ist die bis heute nicht eindeutig definierte Bezeichnung für verschiedene Arten von kleineren Orchestern, vor allem auf Java, Bali und Sumatra, deren Hauptinstrumente primär Metallophone und Gongs sind. Diese Relativierung ist nötig, denn auf Bali gibt es Ensembles nur mit Flöten, oder vermischte Instrumentarien, die allesamt als Gamelan bezeichnet werden. Die Ensembles in West-Sumatra werden dort unter der übergeordneten Bezeichnung „Talempong“ geführt, im gesamt-indonesischen Rahmen aber dem Gamelantypus zugerechnet.Die Anzahl der Spieler schwankt zwischen vier und 50 Personen. Die Musik, die mit diesen Orchestern gespielt wird, ist sicher das international bekannteste Aushängeschild Indonesiens, denn vor allem in Amerika, aber auch in Europa und anderen Ländern gibt es inzwischen zahlreiche außer-indonesische Gamelangruppen mit teilweise professionellem Niveau. An den wichtigsten einheimischen Kunstakademien bildet die Gamelanmusik naturgemäß den Kern der Ausbildung. Während auf Java und teilweise in West-Sumatra die Gamelanpraxis in der Regel auf spezielle professionelle Gruppen begrenzt ist, findet man auf Bali eine völlig andere Situation. Von allen hier relevanten Gamelanformen ist die balinesische Musik die komplexeste und instrumentaltechnisch schwierigste. Aber gerade auf Bali wird diese Musik nicht nur an den Höfen, Akademien, oder den Touristikzentren praktiziert, sondern ist weiterhin integraler und unabdingbarer Bestandteil des kulturellen Lebens in den Dörfern. Dies ist einer der balinesischen Besonderheiten, ebenso wie die dort am deutlichsten erkennbare Tendenz zu neuartigen Entwicklungen. Wenn ein Kulturkreis Indonesiens inzwischen eine Art historisches Entwicklungsbewusstsein verinnerlicht hat, dann ist dies Bali, wiewohl vom Lebensentwurf selbst her gesehen das Zyklische weiterhin von zentraler Bedeutung ist.


Tradition der Bewahrung und Tradition der Erneuerung

Und damit berühren wir das eigentliche Thema, denn die als Gamelan bezeichneten Musikformen haben einerseits eine lange Tradition der Bewahrung ihrer Werte, andererseits zugleich eine ebenfalls lange Tradition der Erneuerung, also der Suche nach neuen Stil- und Ausdrucksformen. Leider sind diese dynamischen Neuerungen dieser Musikformen bisher wenig bekannt, woran viele Ethnomusikologen nicht ganz unschuldig sind, die moderne Entwicklungen gerne als „unrein“ brandmarken und ein völlig unrealistisches „musikalisches Biotop“ propagieren. Auch der Tourismus trägt seinen Teil mit der ihm eigenen Ironie dazu bei. Die jeweiligen lokalen Musikformen werden gerne mit dem Deckmantel der „alten Tradition“ verkauft. Tatsächlich sind aber fast alle Touristenproduktionen schon hinsichtlich besserer Verständlichkeit modifiziert worden. Zeitweise bestand an den Kunstakademien sogar die Gefahr, das im Rahmen einer ökonomisch orientierten „link and match“-Ideologie des Kultusministeriums, diese „light music“ Versionen zum allgemeinen kulturellen Standard erklärt werden sollten. Glücklicherweise ist dies nicht geschehen, sondern es hat sich allenfalls eine Art funktionale Touristenmusik kultiviert.

„Schatten“ werfen auch die zahlreichen Kontakte mit der Welt außerhalb Indonesiens. Es sind nicht nur das Internet und die Massenmedien, beziehungsweise die scheinbare globale Verfügbarkeit. Gerade die Gamelanmusik Indonesiens hat in den letzten 20 Jahren vor allem in Amerika aber auch in Europa, Australien und Japan einen regelrechten Boom erfahren. Hunderte von nichtindonesischen Ensembles spielen Gamelanmusik und zeugen somit von der internationalen Aktualität dieser faszinierenden Ensemblekultur. Zwangsläufig arbeiten viele indonesische Musiker regelmäßig im Ausland und bringen Erfahrungen mit Musik anderer Kulturen wieder zurück in ihre eigene Welt. Genau an diesem Punkt gibt es aber immer noch ein eigenartiges Phänomen, das sich wohl nur durch die Geschichte des Landes selbst verstehen lässt. Obwohl gerade die Kontakte mit der außer-indonesischen Welt und die wechselseitigen Einflüsse exponentiell zunehmen, findet dieser Austausch inner-indonesisch sehr selten satt. Vielfach erlebt man das genaue Gegenteil, also Spannungen, Neid, Missgunst und Abgrenzung zwischen den verschiedenen Ethnien. Hier spielen politische Gegebenheiten ungewollt in die künstlerische Praxis mit hinein, denn dies scheint vor allem ein Phänomen im Bereich Musik und Tanz zu sein, den beiden Kunstformen also, die historisch gesehen, am meisten in den lokalen Ethnien verwurzelt sind.


„Neue Gamelanmusik“

Wodurch zeichnet sich nun die neue Gamelanmusik aus, abgesehen von der Tatsache, dass die vier hier repräsentierten Kulturkreise grundsätzlich völlig verschiedene musiksprachliche Traditionen aufweisen? Auffallend ist eine vielfältige Tendenz zur unkonventionellen Klangproduktion mit herkömmlichen Instrumenten: Buckelgongs werden umgedreht und wie kleine Gongs gespielt, neuartige Dämpfungstechniken der Metallophone ergeben ungewöhnliche Klangfarben, ebenso wie die Anwendung gestrichener Klänge (mit einer Art Geigenbogen) an den Bronzeinstrumenten. Der instrumentalen Erweiterung sind ebenfalls keine Grenzen gesetzt, und die Verwendung von Küchengeräten, Flaschen oder Gläsern ist in vielen Werken schon keine Besonderheit mehr. Vor allem in den letzten fünf bis zehn Jahren vollzog sich aber auch ein Wandel auf der Ebene der traditionellen Parameter Form, Rhythmik und Melodik. Was ein zeitgenössischer Komponist wie Conlon Nancarrow an rhythmisch-metrischer Mehrschichtigkeit nur mit Hilfe von mechanischen Klavier erzielen konnte, ist heute bereits in neuen balinesischen und sundanesischen Werken für Gamelan nicht mehr ungewöhnlich, ebenso wie die vielfältige Kombination verschiedener Stimmungssysteme bis hin zum Einsatz von Live Elektronik und Computerklängen. Faszinierend bei all diesen Entwicklungen ist die spielerische Herangehensweise der meisten jungen Komponisten. Auch wenn ihr Selbstverständnis als individuelle Künstler schon deutlich ausgeprägt ist, hat die kollektive Ausarbeitung immer noch einen hohen Stellenwert. Und vielleicht ist gerade sie der Garant dafür, dass solche komplexen, zukunftsweisenden Entwicklungen überhaupt entstehen können. Bei dieser weiterhin primär oralen Musikpraxis wäre ein Komponist ohne seine Mitstreiter schlichtweg nicht existent.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gamelanensembles von Java, Bali und Westsumatra eigenständige und trotzdem vielfältige Musikkulturen repräsentieren, die immer noch im Mittelpunkt der indonesischen Musikszene stehen.Neben der Bewahrung der traditionellen, beziehungsweise zeremoniell gebundenen Formen, werden immer wieder alte Stücke neu arrangiert, vor allem aber neue Stücke komponiert, die musikalisch grenzüberschreitend Neuland betreten. Einflüsse von außen spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle und werden meist auf kongeniale Art und Weise transformierend integriert. Die Wesensart der Musikpraxis der meisten großen Gamelanensembles bringt es dabei mit sich, dass interkulturelle Produktionen zusammen mit Musikern anderer Kulturen selten von Erfolg gekrönt sind. Die eigene Verarbeitung anderer Einflüsse ist wesentlich erfolgreicher.