Hafiz Dhaou

"Die Kartografie meines Körpers ist nicht die eines Europäers"

Aus einem Interview von Ayoko Mensah mit Hafiz Dhaou, in: Africulture 55, 25.2.2004

Wie sind Sie vom Hip-Hop zum zeitgenössischen Tanz gekommen?

Im Alter von 11 war ich der Anführer einer Gruppe von Jungs, die Hip-Hop tanzten. Was uns an diesem Tanz gefiel - den wir ja nur aus dem Fernsehen kannten - war die Männlichkeit, die er ausstrahlte und das dazugehörige „Star-Phänomen“. Eines Tages sah uns Syhem Belkhodja, der mittlerweile die Leiterin der Carthage Rencontres choréographiques ist, auf der Straße tanzen. In den 80ern gab es nicht viele Jungs in den Tanz-Studios. Als Syhem uns zu sich ins Studio einlud, war das für uns eine völlig neue Erfahrung. Sie sagte uns, wenn wir unseren Stil verbessern wollten, müssten wir am Balken üben. Das war unser erster Kontakt mit einem professionelleren Tanzform. Damals lehnten wir den zeitgenössischen Tanz ab, weil er nicht unserer Identität und unserer Vorstellung von Männlichkeit entsprach. Strumpfhosen zu tragen, kam nicht in Frage. Ich hatte haufenweise Vorurteile und war sehr zurückhaltend. Solange ich Hip-Hop tanzte, war das okay in der Nachbarschaft und bei meiner Familie, aber als ich mich für eine andere Form des Tanzes entschied, kam das gar nicht gut an. Es hat mich denn auch 10 Jahre gekostet, den Schritt wirklich zu tun.

War der islamische Glaube dabei für Sie ein Hindernis?

Nein, der Islam erlaubt das Tanzen. Sehen Sie sich nur die Tänzer der Sufis an. Das schönste Bild des Tanzes im Islam sind die tanzenden Derwische - diese Gemeinschaften, in denen der Körper benützt wird, um zu Gott zu beten. Aber die Religion hat enormen Einfluss auf die Gesellschaft, und es ist schwierig, dagegen anzukommen. Aber mir geht es ohnehin nicht um ein Kräftemessen. Ich will nicht schockieren. Außerdem gibt es in Tunesien sehr wohl säkulare Freiräume. Daher ist das Land auch offen für den künstlerischen Ausdruck.

Haben Sie versucht, traditionelle tunesische Tänze zu lernen?

Als Kind kannte ich sie überhaupt nicht. Ich entdeckte sie erst als ich mit Syhem Belkhodjas Tanz-Company im Land umherreiste. Ich war sehr vom Reichtum und der Schönheit all der Dinge beeindruckt, die es in unserem Land gibt. Ein Erbe und eine Fähigkeit, die ja auch ich in meinem Körper trage. Das hat nichts mit Postkarten-Klischees zu tun. Tunesischer Volkstanz ist ein nordafrikanischer Tanz, der sich sehr stark vom orientalischen Tanz unterscheidet, der viel weniger erdverbunden ist. Der tunesische Tanz ist geradezu im Boden verankert, du schlägst den Takt mit der Ferse, beim orientalischen Tanz ist es der Fußballen. In prächtige Gewänder gekleidet, tanzen die Männer mit weit ausgebreiteten Armen - wie die Flügel eines Adlers. Es ist ein Zeichen ihrer Potenz.

Vor ein paar Jahren sind Sie nach Frankreich gegangen. Was haben Ihnen die Jahre am Zentrum für zeitgenössischen Tanz in Angers gebracht?

Im ersten Jahr habe ich viel an meiner Technik gearbeitet, habe mich selbst kaum in Frage gestellt. Ich habe eine Menge gelernt und realisiere erst jetzt langsam, was eigentlich passiert ist. Im zweiten Jahr haben wir angefangen, die Sprache der zeitgenössischen Choreografie zu erarbeiten, die sich ja aus verschiedenen Disziplinen speist - Film, Anatomie, Yoga - und sehr viel Ballett. Das ging soweit, dass ich mein Knie ernsthaft verletzte, weil mein Körper auf einen so intensiven Kurs nicht vorbereitet war und sich nicht schnell genug anpasste. Es passierte, als ich für mein Choreografie-Examen ein Solo aufführen sollte. Wie sollte ich denn ein Solo kreieren mit einem Bein, das nicht funktionierte? Im Endeffekt verschaffte mir aber diese Einschränkung einen Vorteil gegenüber den anderen Studenten. Wo fängst Du an, wenn Du in ein Studio gehst und ein Solo entwirfst? Mein Ergebnis hieß „Zenzena“, was soviel heißt wie Zelle, Gefängnis.

Wie haben Sie das denn gemacht, trotz Ihres Handicaps?

Ich habe das Solo um das Handicap herum aufgebaut. Ich hatte ja die Erfahrung gemacht, dass der Körper die erste Zelle sein kann. Du kannst in deinem eigenen Körper gefangen sein. Wie kann man diese Idee immer weiter verfeinern, so lange bis Du nichts mehr hast, was su aufgeben kannst, um ins Leben zurückzukehren. Wie kann man im Gefängnis Leben finden? Wie kann ich aufschreien, ohne dass das Echo zu mir zurückkehrt und stattdessen den Himmel erreicht? Wie überlebst du im Gefängnis? Das war das Herzstück meiner Überlegungen. Ich arbeite mit ganz einfachen Bewegungen, beispielsweise denjenigen, die man beim Waschen verwendet. In Tunesien sind Gesten symbolisch aufschlussreich. In ihnen zeigt sich ein ganzes historisches Erbe, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ich weiß jetzt, dass ich mein Körpergedächtnis von meinem Urgroßvater geerbt habe.

Unterscheidet sich Ihr Körper wegen dieses Erbes von dem eines Europäers?

Natürlich. Denken Sie zum Beispiel an das Bild, das wir von unserem Körper haben. Der europäische Körper ist nicht derselbe wie meiner. Die Landkarte meines Körpers - die ja die Bewegungen meines Körpers regiert - ist anders. Wir haben nicht dieselben Bezüge. Was nicht heißt, dass das eine besser ist als das andere. Es ist ein zusätzlicher Reichtum. Andererseits sind die physischen Elemente universal - unsere Gelenke, unser Kopf, die Arme und Beine. Wir sind alle genauso gemacht. Was sich unterscheidet, ist die Art wie wir über unsere Körper denken. Und unsere Körper spiegeln diese Denkweise.