„Haben wir denn etwas Besseres verdient?“

Olga Pona über „Staring into Eternity“ im Gespräch mit Gilles Amalvi


In Ihrer Choreografie kreieren sie sehr reine und abstrakte Formen, die aber immer von der russischen Realität inspiriert sind. Wie projezieren Sie diese realistische Quelle auf den poetischen Raum?

Die „russische Realität“ ist die Hauptquelle für meine Arbeit. Und es ist wahr, diese Realität ist nicht sehr poetisch in einem Land, das sich schnell verändert, das seine Ideologie verloren hat. Aber es gibt noch eine andere Tradition in Russland, die wahrscheinlich älter ist als der Kommunismus. Diese Realität gilt es mit einem Sinn für Nostalgie und Absurdität zu sehen. Wir wissen, dass es nicht gut um uns steht, dass es nie gut aussah und nie gut aussehen wird, aber haben wir denn etwas Besseres verdient? Ich glaube, dass diese Kultur viele Gründe hat, Kunst zu produzieren. Vielleicht ist es eine Kultur, die auf Träumen basiert, weil die Wirklichkeit so übel ist und vielleicht sind es diese Träume, die uns am Leben halten und die Realität auf eine poetischere Ebene heben.


Ihre Performance „Staring into Eternity“ beschäftigt sich mit der Situation von Männern. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Wenn Sie in die russische Provinz gingen, würden Sie sehen, dass die russischen Männer sehr verletzt sind. Es gibt kaum Arbeit, und wenn es sie gibt, ist sie schlecht bezahlt. Es ist schwer für sie, ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, und die meisten von ihnen versuchen, ihre Probleme mit Hilfe von Alkohol zu lösen, Unmengen von Alkohol. Man kann diese Männer anschauen und sagen: Sie sind alle gleich und sie haben kein Gefühl mehr. Die Männer in „Staring“ sind aber nicht so. Man sieht ihnen an, dass das Leben sie stark mitgenommen hat, aber sie haben ihre Sensibilität nicht verloren.Das Bewegungsrepertoire, die Art, wie sie mit ihrem Körper umgehen, kommt nicht von einem bestimmten zeitgenössischen Stil. Zum einen kenne ich diese Stile nicht, zum zweiten glaube ich, dass die Bewegungssprache das Ergebnis von Inhalt sein sollte, nicht Stil. Beispielsweise kommen einige der Bewegungen in diesem Stück von der Art, wie Gefangene stundenlang in einer Reihe sitzen müssen. Es ist eine Art zu sitzen, die du überall beobachten kannst, wo Leute warten müssen.


Wir können eine sehr alte Zeit spüren, die durch die Körper geht ... welche Rolle spielt die Stille?

Die meisten zeitgenössischen Choreografen in Russland, mich eingeschlossen, haben eine Volkstanz-Hintergrund, und beim Volkstanz sind Rhythmus und Musik essenziell. Ich setze das ein, weil es für mich „normal“ ist, aber zusätzlich mische ich die Musik mit verschiedenen atmosphärischen Klängen, um sie dem Bereich des „Normalen“ zu entziehen. Stille ist ein Problem in Russland: Das Publikum ist Stille in Tanzstücken nicht gewohnt, Tanz und Musik gelten als untrennbar. Deshalb ist auch für mich Musik sehr wichtig, aber ich versuche, mich von dieser Synchronizität zu lösen, und setze Musik und Klang ein, um eine zusätzliche Ebene in meiner Arbeit zu schaffen. Stille ist ein logischer Teil davon.


Haben Sie versucht, eine Botschaft der Hoffnung durch diese Choreografie zu erzeugen?

Russland hat eine sehr junge Vergangenheit des sozialen Realismus. Jeder künstlerische Ausdruck musste eine Botschaft haben. Ich will eigentlich keine haben, aber vielleicht kann ich meiner Vergangenheit nicht entfliehen, und habe doch eine. Da ich meine Themen aus der „russischen Realität“ beziehe, ist es sehr leicht möglich, dass es eine Botschaft gibt, aber ich glaube nicht, dass es eine Botschaft ist, die uns von der Realität wegführt. Vielleicht will ich nur zeigen, dass es eine andere Art von Schönheit gibt, die nicht von romantischen Bildern bestimmt ist, sondern vom russischen Leben selbst.

(www.olgapona.dance-web.org)