Kettly Noël

Der afrikanische Tanz muss niemandem etwas beweisen

Kettly Noël im Gespräch mit Ayoko Mensah

Sie haben keinerlei akademische Tanzausbildung. Verunsichert Sie das bei ihrer Arbeit als Choreografin?

Als ich 1996 an „Dans la cour“ arbeitete, folgte ich einem inneren Drang. Ich wollte etwas über Voodoo erzählen, aber da ich keine ausgebildete Choregrafin war und bin, wusste ich noch nicht, was dabei am Ende herauskommen würde. Aber die Leute mochten es trotzdem sehr - weil wir authentisch waren, glaube ich. Warum muss man eigentlich unbedingt bei einem französischen Choreografen studiert haben, bevor man zeitgenössischen Tanz machen darf? Können wir nicht unseren eigenen Kosmos schaffen, indem wir bei unserer eigenen Lebenswirklichkeit ansetzen? Entscheidend ist, ob man einen Weg findet, um das zu sagen, was man sagen will.

Inwieweit hilft Ihnen die Arbeit mit jungen Tänzern in Benin und Mali bei Ihrer Recherche?

Die Auseinandersetzung mit jungen traditionellen Tänzern ist nicht einfach, aber sehr fruchtbar. Ich möchte sie dazu bringen, ihre Tradition zu bereichern und ihre eigene Sprache zu entwickeln, damit aus der Tradition ein Spiegel ihres Lebens im Hier und Jetzt wird. Das verstehen nicht alle. Einmal nahm ein Tänzer des Staatsballets von Mali an meinem Workshop teil. Irgendwann rief er: „Für mich ist das ein Tanz von Verrückten. Ich verstehe überhaupt nichts.“ Und ein Regisseur einer volkstümlichen Tanztruppe sagte zu mir: „Ich bin durchaus offen für den zeitgenössischen Tanz, aber er kommt aus Europa, er kann mich nicht berühren.“ Ich glaube auch, dass der zeitgenössische Tanz sehr intellektuell ist und afrikanische Tänzer nicht wirklich erreichen kann. Sie fühlen sich von dieser Arbeitsweise nicht angesprochen. Aber wenn sie von ihrer eigenen Realität ausgehen und sie zum Ausdruck bringen, wenn sie zeigen können, wie reich und bedeutend diese Tradition ist, dann ist das etwas ganz Anderes.

Wie sieht ihre Arbeit mit diesen Tänzern aus?

Es geht dabei nicht darum, etwas abzulegen, das man mitbringt, denn dieses persönliche und kulturelle Gepäck ist sehr wichtig! Aber irgendwann bitte ich sie, alles zu vergessen. Sie sollen ihre Körper und ihr Körpergedächtnis sprechen lassen. Wir arbeiten viel mit Haltungen und Verhaltensweisen, die wir an uns selbst beobachten, die uns geprägt haben und an die wir uns noch erinnern. Ich gehe gern vom lebendigen Material einer Person aus, um daraus einen Tanz entstehen zu lassen. Das kann eine Haltung sein, eine Geschichte oder sogar ein Lied ... Wichtig ist, dass man mit dem anfängt, was man hat. Ich arbeite auch viel mit dem Thema Stille. In Afrika gibt es viel Ungesagtes und viel bedeutungsvolles Schweigen.

aus: L’Harmattan (www.editions-harmattan.fr)