Kuratorisches Statement

Wir leben und überleben in den Ruinen des modernen und kolonialen Weltsystems, umgeben von untoten Institutionen und den Strukturen systemischer Ungleichheit und ihrer Grenzregime und Subjektformen. Um Möglichkeiten für eine andere Zukunft zu eröffnen, muss erst diese untote Welt, die sich mit Gewalt gegen den Wandel stemmt in ihrer Weigerung zu sterben, zu Grabe getragen werden. Dieses Begräbnis auszutragen, hat sich Ceremony (Burial of an Undead World) zur Aufgabe gemacht. Dafür möchten wir die Beziehung zwischen Kosmologie und Ästhetik neu denken.

Zwei Texte der jamaikanischen Romanautorin, Dramatikerin und Philosophin Sylvia Wynter sind für die Ausstellung und das Forschungsprojekt von zentraler Bedeutung: The Ceremony Must be Found (1984) und The Ceremony Found (2015). In diesen Texten wird das Prinzip der „Zeremonie“ als revolutionärer Übergangsritus fruchtbar gemacht: als „Hochzeit“, bei der die konstitutiven Antagonismen der kapitalistischen Moderne aufgebrochen werden; als Überwindung und Neugestaltung der Kategorien, mit denen diese Moderne Status verleiht und ihre Verfahren der Welterschaffung reproduziert. In einer neuen Art der Auseinandersetzung mit Ursprungsmythen werden diese als „Ursprungsrepräsentationen“ verstanden, welche eher Diskursgattungen strukturieren als Berichte von tatsächlichen Ereignissen in der Vergangenheit darzustellen. Ursprungsmythen werden in diesem Kontext als narrativ-symbolische Metagattung begriffen, durch die Kategorien und Genealogien performativ und in Abhängigkeit von gesellschaftsspezifischen „materiellen Versorgungsweisen“ entstehen (diesen Begriff verwendet Wynter anstelle des marxistischen Konzepts der „Produktionsweisen“).

Wenn Wynter zu einer neuen „Ketzerei ”, einer „Neuen Wissenschaft“ aufruft, so ist damit nicht die Rückkehr zu einer vormodernen Vergangenheit gemeint. Es ist vielmehr der Aufruf, die kollektive symbolische Handlungsmacht freizulegen, durch die wir uns als Geschichten erzählende, Bilder erschaffende menschliche Wesen inszenieren; der Aufruf, eine dekoloniale Kontinuität zwischen „vormodernen“ und modernen Formen der Welterzeugung sichtbar zu machen, und zwar innerhalb des größeren Zusammenhangs globaler systemischer Bedingungen, wie sie derzeit das Leben auf der Erde gefährden. So notiert Wynter: „Wenn wir als Menschheit überleben wollen, müssen wir die Ketzerei wagen, die Nicht-Opazität unserer eigenen Handlungsmacht sicherzustellen.“

„Wir Menschen“, so Wynter weiter, „können unseren Ursprungsmythen genauso wenig vorausgehen, wie eine Biene dem Bienenstock.“ Die Menschheit setze sich aus „Geschichtenerzähler*innen” zusammen, die sich „mit ihren Geschichten“ selbst erfinden. Gesellschaften, auch die modernen, haben ihre je eigenen materiell-symbolischen Umgangsweisen mit „Reproduktion des Lebens und Todesabwehr“ und etablieren insofern eine Unterscheidung zwischen Chaos und Ordnung. Jede Gesellschaft „formt“ ihre eigenen Menschen und erschafft Personalität, indem sie ihre Mitglieder in die jeweiligen soziogenetischen/kosmogonischen Codes initiiert. Statt von „Kultur“ oder „Ideologie“ spricht Wynter daher von Kosmogonien und Gegen-Kosmogonien.

Entgegen sowohl religiöser als auch säkular-wissenschaftlicher Ursprungsmythen, die heute das globale System legitimieren und als natürliches konstruieren, schlägt Wynter eine andere mögliche Ursprungserzählung vor, eine „ökumenisch-menschliche (Ursprungs-) Geschichte“ nach den „Gesetzen narrativer Selbst-Setzung“. Sie fordert eine „Neuschreibung des Wissens“ als Gegen-Kosmogonie, konzipiert als revolutionäre Überwindung („Umwendung/Umsturz“) der weltsystemischen Ordnung der kolonialen Moderne und des rassifizierenden Kapitalismus, und damit auch des modernen Verständnisses des Kosmos und der Gestalt des Menschen darin. Bezugnehmend auf Aimé Césaire, Frantz Fanon und Giambattista Vico entwirft Wynter ihre Neue Wissenschaft als Ketzerei gegen die festgeschriebenen Mythen und rassifizierenden Codes der kolonialen Moderne. Eine solche Ketzerei muss sowohl die rassistische „Negation, einer Menschheit anzugehören“, die im westlichen Humanismus seit der Renaissance tief verwurzelt ist, als auch die daraus resultierende „Überrepräsentation des westlich-bürgerlichen und ethno-klassistischen Bezugsobjekts Wir“ überwinden. Der Begriff „Anthropozän“ zum Beispiel ist Ausdruck dieser „Überrepräsentation“, indem anthropos automatisch mit der westlichen und westlich besetzten Subjekt/Geschichte gleichgesetzt wird. Das hat zur Folge, dass die spezifischen weltsystemischen Bedingungen des kolonialen Kapitalismus fälschlicherweise universalisiert und naturalisiert werden.

Die Entmythisierung der Moderne macht eine erneute Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Funktionen von Mythos und Kosmologie innerhalb und jenseits der Moderne notwendig. Wie kann von „Kosmologie“ in Begriffen gesprochen werden, die moderne Kategorisierungen und Spaltungen, wie jene zwischen Logos und Mythos, nicht systematisch reproduzieren? Im Diskurs der Moderne nämlich erscheint „Kosmologie“ als Begriff von vornherein kategorisch gespalten: Die „harten“ Fakten der modernen wissenschaftlichen Kosmologie (z.B. der Astrophysik) rücken das, was man gemeinhin als bloß symbolische und vorrationale mythologische oder religiöse Glaubensvorstellungen ansieht (z.B. die Astrologie) in den Bereich des Nicht-Realen. Der Diskurs der säkularen Moderne instituiert sich selbst durch den Bruch mit dem, was durch ihn als „vormoderne“ Vergangenheit eingestuft wird, um damit die lineare „Chronopolitik” der Moderne hervorzubringen, innerhalb derer natürliche Kausalität mit ökonomischer „Entwicklung” und Akkumulation aufs Engste verknüpft wird. Beinahe unkenntlich gemacht wird dabei nicht-modernes Leben – ein Leben jenseits von ökonomischer Abstraktion und Finanzakkumulation. Die Ursprungsmythen der Moderne – ihr Narrativ eines Selbst und eines Anderen, ihre Ein- und Ausschlussverfahren – stellen uns vor falsche Entscheidungen. Auf der einen Seite stehen Fortschrittsnarrative und der „Sieg“ über die „rohe Natur“, auf der anderen Seite Fiktionen von einer „vormodernen Vergangenheit“ und „Tradition“, die selbst wiederum moderne Mythen sind. Dieses Strukturmerkmal des Diskurses der Moderne kann nur durch das Beschreiben/Analysieren der kapitalistische Moderne mit Begriffen, die sie nicht selbst hervorgebracht hat, untergraben werden. Was für eine Art Kosmologie ist nun der moderne/koloniale Kapitalismus? Was sind seine „soziogenen/kosmogonischen Replikationscodes“? Wie steht es um seine symbolische Ökonomie innerhalb der Dichotomien von „Leben/Tod“ und „Chaos/Ordnung“? Ceremony (Burial of an Undead World) will die theologische Struktur freilegen, die den kapitalistischen Extraktionsverfahren zugrunde liegt und die Umwandlungsprozesse, die die erobernde Kapitalakkumulation erst ermöglichen und antreiben, und damit die Opferprozesse im Zentrum dieser Ökonomie sichtbar machen. Bei dieser „Zeremonie“ werden die Trennungslinien zwischen Selbst/Andere*r sowie die Replikationscodes des irrwitzigen kapitalistischen Kosmos – einer Welt der lebenden Toten – durchbrochen. Das meinen wir, wenn wir vom „Begräbnis einer untoten Welt“ sprechen.

Der von Sylvia Wynter vorgeschlagene Diskurs des „ökumenisch Menschlichen“, das immer schon „kosmogonisch kartiert“ ist, löst sich somit aus der Verschmelzung der modernen Geschichte mit der Teleologie des Kapitals, einem rein linearen Entwicklungsschema. Wenn eine nicht eurozentristische Geschichte ohne evolutionistische Struktur geschrieben werden soll, wird das Ergebnis eine stoffliche Geschichte in kosmologischen Bildern sein. Nur von einer solchen überarbeiteten Grundstruktur aus rücken die wesentlichen Figurationen des Kapitalismus in den Blick, ohne dessen Codes zu reproduzieren. Nur so können wir die historische Indienstnahme der Mythologie für die Zwecke der Kosmogonie des Kapitals vollständig begreifen. Die strukturelle Logik, nach der die Kolonisierung der Welt durch europäische Nationen mit dem Begriff der Geschichte gleichgesetzt wird, hat auf diese Weise wohl ab dem 19. Jahrhundert die weiße Vorherrschaft als strukturelles Merkmal der kapitalistischen Kosmogonie und die patriarchale Heroisierung einer „schöpferischen Zerstörung“ in einem gerade wiederauferstehenden Faschismus hervorgebracht, den wir innerhalb dieses Projekts als „weiße Mythopoetik“ bezeichnen. Deren Ursprünge reichen zurück bis zur Neuschreibung der christlichen Theologie als Kosmologie in der frühen Kolonialzeit. Um die für bürgerliche bis hin zu faschistischen Ideologien typische Entgleisung zu vermeiden, nämlich die falsche Universalisierung des rassifizierenden Kapitalismus innerhalb der/als Kosmogonie der Moderne, muss seine Art der Welterzeugung – die Grenzfantasien der „weißen Mythopoetik“ – als spezifische historische Konfiguration kenntlich gemacht werden, die ihre eigene heroisierende und zivilisatorische Ursprungsgeschichte als den Ursprungsmythos der Menschheit schlechthin entwirft (die demnach von vornherein eine rassifizierte und in Nationalstaaten unterteilte wäre). Nur ein planetarisch erweitertes „Wir“ kann nach Wynters eigener Ursprungserklärung diesem Missbrauch der Mythologie als Waffe im Dienst der Teleologie des Kapitals entgegenwirken, und damit auch einer akzelerierenden Spirale des Bürgerkriegs als Dauerzustand und letzter Konsequenz einer kapitalistischen Konstruktion von Welt unter der Herrschaft von Finanzkapitalismus und postliberalen, ethnonationalistischen Staaten. Ein solches „Wir“ kann auch nicht auf der rassifizierenden, nationalisierenden und sexuierenden identitären Matrix der kolonialen Moderne und des rassifizierenden Kapitalismus gedacht werden.

Für die Gegenwart gilt: Wir können die kosmogonisch überdeterminierten „Räume des Andersseins“ nicht länger aufrechterhalten, mit denen man die „versteckten Kosten“ des kolonialen Kapitalismus politisch wie ökologisch beständig ausgelagert hat, und sehen uns mit den planetarischen und in der Tat kosmologischen Dimensionen seiner Boomerang-Effekte konfrontiert. Extraktion, Othering und Externalisierung – diese Prozesse, auf die die kapitalistische Ordnung angewiesen ist, können nicht länger eingedämmt oder vertuscht werden. Darüber hinaus bringt diese systemische Herausforderung eine entscheidend „kosmologische“ Dimension der symbolischen Welterzeugung und ihrer Formen „materieller Versorgung“ mit sich. Sylvia Wynters dekolonialistische „Ketzerei“ gegen die Orthodoxie des modernen Diskurses und seiner Arbeitsteilungen fordert Formen der Welterzeugung ohne die „Opfertheologie“ des Kapitalismus sowie eine Neugestaltung des projektiven Mechanismus, der die gleichsam kosmologische menschliche Handlungsmacht bisher „ausgegrenzt“ und übermenschlichen Akteuren zugeschrieben hat, seien es göttliche Wesen oder eben die „freien Märkte“, die angeblich natürlichen/evolutionären Gesetzen folgen (survival of the fittest). Das ist der weitreichende Horizont ihrer These, dass das „ökumenisch Menschliche“ nur gelebt werden kann, wenn wir “die Nicht-Opazität unserer eigenen Handlungsmacht sicherstellen“. Mit Wynter will unser Projekt zeigen, dass es ein neues Verständnis des Spezifischen der kapitalistisch-kolonialen Moderne braucht, das deren hegemoniale Mythopoetik aus den Angeln hebt, indem es sie neu erzählt, um so einen Horizont für strukturelle Dekolonisierung jenseits von bloßer „Inklusion“ und „Anerkennung“ innerhalb der kapitalistischen Moderne zu ermöglichen. Nur so können die systemischen Bedingungen, die derzeit das Leben auf dem Planeten an den Rand der Vernichtung treiben, angemessen zu Grabe getragen werden.

Ceremony (Burial of an Undead World) ist ein Projekt, das Wynters Thesen einem Realitätstest unterzieht, indem es ihr Programm anwendet und erweitert. Es ist auch eine Ausstellung über die kosmologischen Funktionen der Kunst, die die Reproduktion der Wertformen der „modernen Kunst“ untergräbt, wonach autonome und säkulare Künstler*innen als moderne Subjekte schlechthin die Aufgabe haben, individuell „alternative Kosmologien“ zu schaffen. Ausgehend von der historischen Aufgabe des Museums, sich als Institution an der Konstruktion und Naturalisierung von modernen Ursprungsmythen zu beteiligen, reflektiert Ceremony (Burial of an Undead World) außerdem die Rolle, die Ausstellungen zukünftig spielen können.

Anselm Franke, Elisa Giuliano, Denise Ryner, Claire Tancons und Zairong Xiang