Kuratorisches Statement

Eine Ausstellung, die im Jahr 2021 unter dem Titel Bildungsschock eröffnet, weckt sehr konkrete Erwartungen. Denn die Coronakrise hat weltweit die Bildungssysteme in einen Schockzustand versetzt. Es war einmal ein Konzept alternativer Pädagogik: der Unterricht zuhause. Unter dem Eindruck der Pandemie aber erweist sich das Homeschooling als eine enorme Belastungsprobe für Kinder und Eltern, für Schüler*innen und Studierende, und damit für die Gesellschaft insgesamt. Es zeigt sich, dass die Institutionen der Bildung eben nicht zuletzt halb-öffentliche Orte außerhalb von Familie und Wohnung sind – und wohl auch sein sollten. Auf einmal war die Selbstverständlichkeit der Begegnung mit Lehrer*innen, Mitschüler*innen und Kommiliton*innen in den Architekturen von Klassenzimmer oder Seminar dahin.

Nicht nur in Deutschland führt die Pandemie auf schmerzhafte Weise die Versäumnisse und Ungleichheiten bei der sogenannten Digitalisierung vor Augen. Auch wenn der Distanzunterricht auf Lernplattformen in der Cloud gelegentlich funktioniert, stellen sich unangenehme Fragen nach Bildungsgerechtigkeit und Erreichbarkeit, nach Nähe und Ferne zu Bildung, und damit nach gesellschaftlicher Teilhabe.

Was aber kann ein wissenschaftlich-künstlerisches Forschungsprojekt zur Beziehung von Bildungspolitiken und Raumpolitiken in den 1960er- und 1970er-Jahren beitragen zu diesen so drängenden Problemen? Was erzählt eine Ausstellung, die sich einer mehr als fünfzig Jahre zurückliegenden Epoche widmet, den von der aktuellen Krise Betroffenen? Welche Schlüsse lassen sich für die heutige Bildungspolitik aus einer Zeit ziehen, in der wie nie zuvor in die Infrastrukturen und Architekturen der Bildung investiert wurde? Gibt es ein Fortwirken der „revolutionären“ Pädagogiken, die sich um 1970 in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen und geopolitischen Zusammenhängen dem kapitalistischen Bildungsmodell widersetzten?

Bildungsschock nähert sich diesen Fragen unter anderem dadurch, dass der experimentelle, gelegentlich auch improvisierende Charakter von Bildungspolitik zum Gegenstand des historischen Erkenntnisinteresses erklärt wird. Die Jahrzehnte, in denen die Postindustrialisierung der Gegenwart eingeleitet wurde, waren noch geprägt von der Ideologie der Modernisierung, aber die Planbarkeit der Zukunft erschien zugleich immer ungewisser. Vor diesem Hintergrund wurden die Reformen von Schule und Universität in Erwartung neuer Formen des Arbeitens, der Wertschöpfung, der Technologie und damit einhergehender Formen von Subjektivität und Sozialität umgesetzt. Im Experiment sollte sich alles erneuern: die Menschen, die Lehrpläne, die Städte, die Wirtschaft, die Politik, die Kultur. Das klappte nicht immer. Aber die vergangene, intensive Arbeit an den Modellen einer künftigen Gesellschaft lässt sich rekonstruieren und in der Gegenwart besichtigen – als Einblick in das Labor einer Zukunft, die als gleichermaßen gescheitert wie unverwirklicht gelten darf.

Die Eröffnung von Bildungsschock war ursprünglich für den September 2020 geplant. Unmittelbar an der Ausstellung gearbeitet wurde etwa seit Sommer 2018, aber die ersten Überlegungen zu diesem Projekt datieren auf die Jahre 2008 bis 2010. Mit einer Epidemie, die das gesellschaftliche Leben und das Bildungssystem stillstellt, rechnete, zumindest in Europa, so gut wie niemand.

Zu dieser Zeit veranstaltete ich mit Marion von Osten an der Akademie der bildenden Künste Wien eine Ringvorlesung zur visuellen Kultur des Pädagogischen. Auch brachten wir den dazugehörigen Sammelband Das Erziehungsbild auf den Weg. Bei den Recherchen zur Bildungsgeschichte ergaben sich immer wieder Fragen zur Architektur: Welche Vorstellungen von Schulleistung, Lernpsychologie, Wissensproduktion oder Didaktik lagen und liegen den Entwürfen für Schul- und Universitätsgebäude, für Forschungseinrichtungen und Bibliotheken zugrunde? Und wie werden die gebauten Umgebungen des Lernens von denen genutzt, die in und mit ihnen arbeiten?

Wieder einige Jahre später, 2016 und 2017, hatte ich Gelegenheit, Teilergebnisse meiner (nun schon vorangeschrittenen) Forschungen an der Basis voor actuele kunst (BAK) in Utrecht zu präsentieren. Die Ausstellung Learning Laboratories. Architecture, Instructional Technology, and the Social Production of Pedagogical Space around 1970 legte nicht nur bereits den Fokus auf die 1960er und 1970er Jahre, sie hatte auch einen ähnlich kollaborativen Charakter wie Bildungsschock.

Viele der Forscher*innen und Künstler*innen, die in Utrecht dabei waren, konnten für die Fortsetzung im HKW gewonnen werden. Nicht zuletzt gelang es, nomen est omen, der Kooperative für Darstellungspolitik erneut die Architektur der Ausstellung zu übertragen. Auch am HKW selbst wurden Kooperationen rund um Bildungsschock angestoßen – das Projekt Bildung in Beton ist nur ein Ergebnis dieser Interaktionen. Und mit dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst stand der Partner für ein großes Filmprogramm bereit.

Ausstellungen zu Bildung und zu Bildungsgeschichte sind schon deshalb schwierig, weil sie daran scheitern müssen, einen anderen Prozess des Lernens erlebbar zu machen als den, der – im besseren Fall – in einer Ausstellung selbst stattfindet. Die Immaterialität kognitiver und emotiver Vorgänge entzieht sich der Ausstellbarkeit. Was aber gezeigt werden kann, sind Modelle, Pläne, Lehrmittel, Publikationen und andere Archivalien aus den Geschichten von Architektur und Pädagogik. Wie sich diese Materialien und die in sie eingegangenen Erfahrungen betrachten, analysieren und inszenieren lassen, demonstrieren vor allem die Beiträge der beteiligten Künstler*innen und Forscher*innen. Ihre Fallstudien legen Zugänge zu einer Epoche, die ein einziges Versuchsfeld war. So öffnen sich unerwartete und konstruktive Perspektiven auf die Bildungskrise der Gegenwart.

Tom Holert