Tafeln 50 bis 59: Beispiel 2: Besonnenheit

Ein Rundgang in vereinfachter Sprache

Tafel 53, Ausschnitt aus: Raffael, Die Schule von Athen, ca. 1510 – 1511, Fotos: Wootton / fluid; Courtesy Warburg Institute

Die Lebendigkeit der Renaissance-Malerei zeigt sich sogar in Bildern, in denen nicht viel Bewegung herrscht. Auch hierfür hat Warburg eine Pathosformel entdeckt. Wir haben sie bereits bei den antiken Vorprägungen (Seite 13) kennengelernt: es handelt sich um den ruhenden Flussgott von Tafel 4. Wir erkennen ihn auf Tafel 53 wieder, auf der Wandmalerei „Die Schule von Athen“ des Malers Raffael (1483 – 1520). Obwohl die Malerei im Vatikan zu sehen ist (dem Staat der katholischen Kirche in Rom), zeigt sie eine weltliche Szene. Wir sehen Männer, die in ihren Gewändern wirken wie antike Philosophen. Dabei sind es Zeitgenossen von Raffael. Sie waren in der Akademie tätig, einem Ort der Wissenschaften, gegründet von der Familie Medici. Die Familie Medici war die einflussreichste Kaufmanns-Familie in der italienischen Stadt Florenz. Sie förderte auch viele Künstler der Renaissance.

Auf dem Bild sehen wir Gelehrte in einer großen, offenen Halle. Sie tauschen sich angeregt aus. Im Vordergrund fallen zwei Männer auf: sie haben sich auf den Stufen niedergelassen und sind ins Schreiben und Lesen vertieft. Hier ist die Körperhaltung des antiken Flussgotts wiederzuerkennen, seine liegende Pose. Wie der Flussgott scheinen auch diese Männer in Gedanken versunken zu sein. Ruhig konzentrieren sie sich auf zu studierende Texte. Eine solche Haltung hat in der Renaissance wieder an Bedeutung gewonnen. Denken, Lernen und Forschen waren so lange Zeit nach der Antike für die Menschen erneut sehr wichtig geworden.

Dieselbe Pathosformel des zurückgelehnten Ruhens bestimmt auch das Gemälde „Das Frühstück im Grünen“ vom französischen Maler Édouard Manet (1832 – 1883). Es befindet sich auf Tafel 55 unten rechts.

Tafel 55, Édouard Manet, Das Frühstück im Grünen, 1863, Fotos: Wootton / fluid; Courtesy Warburg Institute

Aby Warburg springt mit diesem Bild von Manet ein paar Jahrhunderte vor. Manet malte es 1863, in der Zeit der Moderne. Viele Betrachter waren damals empört über das große Gemälde, weil es eine nackte Frau zusammen mit zwei bekleideten Männern beim Picknick in der freien Natur zeigt. Die Frau ist nicht wie eine Sagengestalt dargestellt, sondern wie eine ganz normale Frau. Noch dazu schaut sie wie selbstverständlich aus dem Bild heraus. Édouard Manet hat sie so gemalt, als wäre sie lebendig und würde den Blickkontakt mit der Person suchen, die sie von außerhalb des Bildes anschaut.

Auf diesem Gemälde erkennt man den antiken Flussgott gleich mehrmals in der Haltung dargestellter Personen wieder. Édouard Manet kannte die Figur von Gemälden aus der Renaissance. Auch auf anderen Abbildungen auf Tafel 55 wird ersichtlich, dass der Maler die Kunstwerke aus der Renaissance als Vorbild benutzte. Auf dem Bild „Das Frühstück im Grünen“ jedoch hat er nicht nur gewagt, die altbekannte Pathosformel des ruhenden Mannes einfach in eine nackte Frau zu verwandeln. Er verbindet sogar zwei Figuren, deren Körperhaltung sich als Pathosformeln durch den ganzen Bilderatlas von Aby Warburg bewegen: Zum einen das bewegte (lateinisch: aktive) Motiv der Nymphe, zum anderen das ruhende (lateinisch: passive) Bild vom Flussgott.

Die Frau auf dem Bild hat zwar eine ruhende Körperhaltung, während die bekleidete Frau im Hintergrund in Bewegung ist. Aber verleiht nicht der selbstbewusste Blick aus dem Bild heraus der ruhenden Frau viel mehr Lebendigkeit?