Tafeln 35 bis 39: Die Wiedergeburt der Antike (die Jahre 1400 – 1600 nach Christus)

Ein Rundgang in vereinfachter Sprache

Tafel 37, Meister des Urteils des Paris (oder Antonfrancesco di Giovanni Dello Scheggia?) Raub der Helena, 1440 – 1460, Fotos: Wootton / fluid; Courtesy Warburg Institute

Die Zeit zwischen ungefähr 1400 und 1600 nach westlicher Zeitrechnung bezeichnet man nach dem französischen Wort für Wiedergeburt: Renaissance. In der Renaissance war das Bilderfahrzeug Buch besonders wichtig für die Wiederentdeckung von antiken Themen. Das Buch galt nicht als so wertvoll wie zum Beispiel ein Ölgemälde, denn es konnte in großer Anzahl hergestellt und kopiert werden. Und die christliche Kirche kontrollierte die Darstellungen in Büchern nicht so streng wie die auf Gemälden.

In Büchern konnten daher auch weltliche Themen auftauchen, die nicht in die christliche Bilderwelt vom Mittelalter passten. In vielen Büchern aus Frankreich um 1450 zum Beispiel erscheinen wieder die alten griechischen Helden und Heldinnen. Aber die Figuren sehen ganz anders aus. Gerade zu Beginn der Renaissance sind sie nicht nackt und voller Körperlichkeit wie in der Antike.

Stattdessen werden sie dargestellt, wie man sich die Menschen im Mittelalter idealerweise vorgestellt hat: Männer in Ritterrüstungen und Frauen in hoch geschlossenen Kleidern mit Kopfbedeckungen. Es sind Darstellungen des Lebens an Königshöfen und Adelssitzen.

Die Sage vom Raub der Helena erscheint mehrmals auf den Tafeln 35 bis 38. In der antiken Sagenwelt gibt es zahlreiche Entführungsszenen, und die von Helena ist besonders berühmt. Sie geht so:

Paris war ein Prinz aus Troja, einer Stadt im griechischen Altertum. Venus war die Göttin der Liebe, und sie versprach Paris die schönste Frau der Welt. Das war Helena, die Ehefrau des Königs Menelaos. Als Paris Helena entführte, verbündete sich Menelaos mit allen anderen griechischen Königreichen, um aus Rache für den Raub gegen Troja in den Krieg zu ziehen.

Auf den Tafeln sieht man auf unterschiedlichen Bilderfahrzeugen Paris in verschiedenen Gewändern: mal als Ritter, mal als Edelmann. Helena wiederum erscheint als Prinzessin in einem für die jeweilige Zeit typischen Kleid. Diese Art, antike Figuren zeitgenössisch zu verkleiden, beschreibt Aby Warburg mit dem Begriff einer Antike „alla francese“ (italienisch, auf Deutsch: Antike auf französische Art).

Der Raub der Helena ist nur eins von vielen Beispielen für den konflfliktreichen Weg von Bildern aus der Antike über das Mittelalter bis in die Renaissance. In der Renaissance im 15. Jahrhundert schwand die Macht von Kirche und Adel langsam. Reiche Kaufleute waren einflussreich geworden und gaben den Königen und Päpsten Geld für ihre Kriege und Schlösser. So wurden sie unabhängiger von der Kirche. Städte wie das italienische Florenz wuchsen und bildeten neue Machtzentren heraus, zum Beispiel Banken und Schulen. Und Künstler unterzeichneten ihre Arbeiten zum ersten Mal selbstbewusst mit dem eigenen Namen.

Tafel 39, Sandro Botticelli, Geburt der Venus, ca. 1485, Fotos: Wootton / fluid; Courtesy Warburg Institute

Diese Entwicklung führt uns zu dem italienischen Maler Sandro Botticelli (1445 – 1510) und seinem Werk „Die Geburt der Venus“ auf Tafel 39. Es ist bis heute sehr berühmt und häufig in Zeitschriften, Internet-Memes oder auf Plakaten zu sehen. Die Göttin Venus ist hier – wie zuletzt zu Zeiten der Antike – nackt dargestellt, als eine junge Frau auf einer Muschel. Sie steht im Zentrum des Gemäldes. Sie verdeckt ihren Schoß mit ihren langen Haaren und ähnelt so der antiken Venus Pudica (auf Deutsch: schamhafte Venus). Rechts von ihr bringt eine Figur Bewegung ins Bild. Wir kennen sie schon als Pathosformel, sie erinnert an die tanzende, wenig schamhaft Mänade (Seite 12). Die Bewegung ist ähnlich, hier jedoch von einer Nymphe dargestellt. Eine Nymphe ist ein weiblicher Naturgeist in der antiken Sagenwelt. Die Bezeichnung kommt vom griechischen Wort nýmphē, das eine Braut, ein heiratsfähiges Mädchen bezeichnet. Das Gewand der Nymphe flattert im Wind, und sie hält ein wehendes Tuch in den Händen, um Venus zu bekleiden.

Die bewegten Stoffe und die Haare der Venus führen zu einem weiteren Begriff von Aby Warburg: das „bewegte Beiwerk“.

„Bewegtes Beiwerk“ nennt er Teile einer Figur, die eigentlich nebensächlich erscheinen, aber der gesamten Darstellung erst ein Gefühl von Lebendigkeit geben. Botticelli war der erste Künstler, der ein antikes Thema in einem so großen Format malte. Er holte die griechischen Götter sozusagen in Lebensgröße zurück.

Zum nächsten Kapitel: Tafeln 40 – 49 Beispiel 1: Bewegung