Kanon-Fragen

Ist der Eurozentrismus überwunden, wenn Kunstsammlungen globalisiert und um vormals Ausgeschlossenes erweitert werden? Was kommt und bleibt nach dem Eurozentrismus, wenn seine Formen weltweit reproduziert werden? Mit dem Langzeitprojekt Kanon-Fragen entwickelt das HKW forschungsbasierte Ausstellungen, die sich kritisch mit der Kanonisierung der Moderne auseinandersetzen. Ausstellungen wie Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930 und Parapolitik: Kulturelle Freiheit und Kalter Krieg haben den in den Museen etablierten Kanon nicht bloß erweitert, sondern hinterfragen dessen Strukturen. Denn die kolonialen Vereinnahmungen und Ausschlüsse der Vergangenheit lassen sich nicht korrigieren, ohne die strukturellen Grundlagen der Kunst, ihre Abgrenzung zur Folklore, Ritual oder Handwerk und ihre gesellschaftliche Rolle zu problematisieren. Die Korrektur des Kanons der Moderne bleibt unseriös, wenn die Auseinandersetzung um die Kunst selbst, ihren gesellschaftlichen Ort und ihre ökonomische Funktion nicht ernst genommen werden. Wenn die Institution „Kunst“ unhinterfragt bleibt, wird aus der Ausweitung des Kanons letztlich eine weitere Aneignung: Der westliche Rahmen wird auf die „Weltkunst“-Geschichte und die globale Gegenwartskunst übertragen.

Die Ethnologie hat in der Gegenwart durch die Diskussion um Restitutionen und ihre Verstrickung in koloniales Unrecht einen schweren Stand. Doch das genau sollte der Anlass sein, sich ihrem kritischen Potenzial erneut zu widmen und die historische Betrachtung der Disziplin zu differenzieren. Denn ohne Ethnologie geht es nicht. Wie sonst ließen sich die eigenen Kategorien der Welterfassung radikal hinterfragen, wenn nicht in der kategorial „unreinen“ Zone ethnografischen Wissens? Trotzdem ist die Kritik des ethnografischen Blicks notwendig, mehr noch: Es gilt, diesen zu radikalisieren, präzisieren und differenzieren. Alternative Erzählungen der Moderne kann es ohne die Ambivalenzen ethnografischer Grenzgänger*innen nicht geben. Der Wunsch nach moralisch eindeutigen Urteilen ist angesichts der europäischen Geschichtsamnesie verständlich, aber er spielt in die Hände jener, die diese Amnesie zum Programm erhoben haben.

In den drei HKW-Ausstellungen im Herbst 2019 geht es um antikoloniale Denkentwürfe aus der deutschen Geschichte und wie selbst diese koloniale Schemata reproduzieren. Es geht aber auch um die Umkehrung des Blicks und Gesten der Rückspiegelung. Liebe und Ethnologie – die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit (nach Hubert Fichte) ist der Abschluss eines dreijährigen Projektes, in dem Texte des Schriftstellers Fichte übersetzt und zur Grundlage einer Neubewertung und kritischen Rezeption an den von ihm beschriebenen Orten wurden. Afro-Sonic Mapping des Künstlers und Musikers Satch Hoyt setzt Fichtes Auseinandersetzung mit afro-diasporischen Kulturen eine zeitgenössische Forschung zu Klängen aus Angola und dem Kongo entgegen, die ihr diasporisches Echo und popkulturelles Erbe als lebendige und widerständige Erinnerungslandschaft beschreibt. Die Ausstellung Spektral-Weiß. Die Erscheinung kolonialzeitlicher Europäer*innen rekurriert auf den ersten, explizit antirassistischen Versuch in der deutschen Ethnologie, Europäer*innen-Darstellungen von Künstler*innen aus damals kolonisierten Ländern zu interpretieren. Was heißt es, diesen Darstellungen heute nachzuspüren?

Anselm Franke, Bereichsleiter Bildende Kunst & Bernd Scherer, Intendant
September 2019