Romain Rolland: „Offener Brief an Gerhart Hauptmann“

(nach der Zerstörung der Universitätsbibliothek von Löwen durch deutsches Militär)

Genf, 29. August 1914

Ich gehöre nicht, Gerhart Hauptmann, zu jenen Franzosen, die Deutschland als ein Barbaren-Land ansehen. Mir ist die geistige und moralische Größe Ihres gewaltigen Volkes wohl bekannt. Ich weiß, was ich den Denkern des edlen Deutschlands schulde, und noch jetzt, in dieser Stunde, erinnere ich mich an das Beispiel und an die Worte unseres Goethe – denn er gehört der ganzen Menschheit –, der jeden Nationalhaß von sich wies und seine Seele gelassen in jenen Höhen schweben ließ, „wo man das Glück und das Unglück anderer Völker wie sein eigenes empfindet.“ (…)

Soviel Grund ich auch haben mag, heute an Ihrem Deutschland zu leiden und die deutsche Politik sowie die Mittel, die sie anwendet, für verbrecherisch zu halten, so mache ich doch das Volk nicht dafür verantwortlich, das sie duldet und das sich zu ihrem blinden Werkzeug macht. (…)

Ich werfe Euch nicht unsere Schmerzen vor, die Eurigen werden nicht geringer sein. Wenn Frankreich zugrunde gehen muß, so wird es Deutschland ebenso ergehen. Ich habe nicht einmal die Stimme erhoben, als ich sah, wie Eure Heere die Neutralität des edlen Belgiens verletzten. Diese ehrlose Schandtat, die in jedem rechtlichen Bewußtsein Verachtung wecken muß, entspricht viel zu sehr der politischen Tradition Ihrer preußischen Könige; sie hat mich nicht überrascht. (…)

Nicht zufrieden mit Euren Taten gegen das lebende Belgien, führt Ihr auch noch Krieg gegen die Toten, gegen jahrhundertalten Ruhm. Ihr bombardiert Mecheln, Ihr steckt Rubens in Brand, Löwen ist nicht mehr als ein Aschenhaufen – Löwen mit seinen Schätzen der Kunst und der Wissenschaft, die heilige Stadt! - Aber wer seid denn Ihr? Und mit welchem Namen wollen Sie, Hauptmann, dass man Euch gegenwärtig nenne, der Sie den Titel Barbaren zurückweisen? Seid Ihr die Enkel Goethes oder Attilas? Führt Ihr Krieg gegen die Armeen oder gegen den menschlichen Geist? (…)

Im Namen unseres Europas, zu dessen berühmtesten Wortführern Sie bis zu dieser Stunde gezählt haben, im Namen jener Zivilisation, für welche die größten Männer seit Jahrhunderten kämpften, im Namen der Ehre Ihres deutschen Volkes beschwöre ich Sie, Gerhart Hauptmann. Ich fordere Sie auf, Sie und die geistige Elite Deutschlands, in der ich viele Freunde besitze, mit der äußersten Energie gegen ein Verbrechen zu protestieren, das auf Sie zurückfällt. (…)

Ich erwarte von Ihnen, Hauptmann, eine Antwort, eine Antwort, die eine Tat ist. Die öffentliche Meinung Europas erwartet sie gleich mir. Beachten Sie wohl: in einem solchen Augenblick bedeutet auch das Schweigen eine Tat.

Romain Rolland