Harry Graf Kessler: „Brief an Gustav Richter („Musch“)“

Ökörmezö, 1. Februar 1915

Lieber M.
Wir sitzen jetzt mitten in den Karpaten in einem ziemlich weiten Hochtal, das am Fuße des von unseren Truppen vor acht Tagen gestürmten Kliwa liegt und rings von tief verschneiten Bergen umgeben ist.
Der Vormarsch geht trotz der ungeheuren Schwierigkeiten, die der immer tiefere Schnee verursacht, langsam aber sicher weiter. Heute Nacht hat die österreichische Division, die uns untersteht, die Beskid Klause* gestürmt, die uns seit drei Tagen aufhielt. Jetzt können wir wieder weiter, allerdings immer unter denselben Schwierigkeiten und Sturmangriffen auf Gebirgsstellungen und Engpässe.
Das Generalkommando sitzt dabei notgedrungen ziemlich weit vom Schuss, da im Gebirge überall nur kleine Abteilungen operieren können.
Ich hause hier in einer winzigen Blockhütte, die immer mehr einschneit, mit einem sehr lieben, netten jungen Husaren zusammen, dem ich manchmal Gedichte vorlese, und der seinerseits Musik macht (Mundharmonika!). Wir haben einen Herd, auf dem wir Tee kochen können, und einen Tisch, an dem wir schreiben.
Den ganzen Tag ziehen abenteuerlich aussehende Kolonnen im Schneetreiben auf der Straße vor unserer Hütte vorüber: Tragtiere mit tiefverschneiten Lasten, Ochsenkarren (gleich fünfzig bis hundert hintereinander), Schlitten mit Munition oder Proviant, österreichische Infanteristen, die sich kaum schleppen können; oder in umgekehrter Richtung Trupps dumpfer, stur blickender russischer Gefangener, auf die der Schnee wie ein Schicksal niederfällt. Man sitzt wie im Kino und sieht dem Karpathenübergange zu….


* Gebirge

Quelle: Harry Graf Kessler: Krieg und Zusammenbruch / Aus Feldpostbriefen 1914-1918. Privatdruck der Cranach Presse, Weimar 1921