Ernst Toller: „Eine Jugend in Deutschland“ (1933)

Drittes Kapitel

Mitte August [1914] verlassen wir, blumengeschmückt, von Frauen und Kindern begleitet, München. Noch ziehen wir nicht ins Feld. Mit unbekanntem Ziel fährt der Zug ab. Tagelang fahren wir. Auf einer Bahnstation, an der wir halten, steht im Nebengeleis ein Lazarettzug. An Krücken humpelt mit zerrissenen und blutbefleckten Kleidern einer, dem sie ein Bein weggeschossen haben. Ich sehe zum ersten Mal einen Verwundeten. Ich sehe ein lehmgelbes, eingefallenes Gesicht, müde, blicklose Augen, in der Brust spüre ich einen stechenden Schmerz, ich habe Angst, ich will keine Angst haben, ich will nicht weich werden, was liegt an uns, ich denke an Deutschland. […]

Mitten in der Nacht schreckt uns eine Stimme aus dem Schlaf, wir fahren über den Rhein. Wir springen auf, wir öffnen die Fenster, unter uns fließt schwarz und still der Rhein. Die Kadetten ziehen die Säbel aus der Scheide, »Achtung!« schreit einer, ein andrer singt »Die Wacht am Rhein«, wir singen mit und schwingen drohend unsere Gewehre.

Ja, wir leben in einem Rausch des Gefühls. Die Worte Deutschland, Vaterland, Krieg haben magische Kraft, wenn wir sie aussprechen, verflüchtigen sie sich nicht, sie schweben in der Luft, kreisen um sich selbst, entzünden sich und uns. […]

Die Vorgesetzten wissen mit unserm Enthusiasmus nichts anzufangen. Wir werden sinnlos gedrillt. Hat es geregnet, ist der Exerzierplatz aufgeweicht und schlammig, bekommt die Stimme des Unteroffiziers einen süßlich schmierigen Ton: »Hinlegen!« flötet er. »Aufstehen! Hinlegen! Aufstehen!« Wir schmeißen uns in den Dreck, wir stehen auf, wir schmeißen uns wieder in den Dreck, wir müssen mit dem Kopf im Schlamm liegenbleiben, nach der Exerzierstunde starren wir vor Nässe und Schmutz. Auf dem Heimweg befiehlt der Feldwebel, daß wir das Lied »Wie ein stolzer Adler« singen. […]
Im Januar 1915 verlassen wir die Pfalz. Vor unserer Abfahrt hält der Hauptmann eine Rede: Wir kämen zwar in deutsches Land, aber verdächtige Menschen wohnten dort, fast Feinde, vor denen wir uns in acht nehmen müßten, wir würden bei Bürgern einquartiert werden, aber wir dürften ihnen nicht trauen und müßten nachts die Stuben verriegeln und die Waffen bereithalten.
Das Land, von dem der Hauptmann spricht, ist Elsaß-Lothringen, seit dreiundvierzig Jahren deutsches Reichsland. […]

Der Vormarsch in Frankreich ist zum Stillstand gekommen, niemand weiß warum, von der verlorenen Marneschlacht haben die Zeitungen nichts berichtet, die Deutschen siegen immerfort, trotzdem ist Paris nicht gefallen, trotzdem geht der Krieg weiter.

Es ist März 1915, die Untätigkeit wird unerträglich. Den halben Tag stehen wir wartend umher. Ab und zu werden vom Feld Soldaten angefordert. Als eines Tages der Hauptmann drei kräftige Leute für einen Zug in Frankreich aussucht und wieder an mir vorbeigeht, trete ich unmilitärisch vor und melde mich.
»Sie sind nicht kräftig genug«, sagt der Hauptmann.
»Ich bin noch kräftiger, ich ertrag's nicht mehr hier, ich will ins Feld!«
Der Feldwebel erstarrt, die Unteroffiziere werfen mir wütende Blicke zu, der Hauptmann weiß nicht recht, was tun, er schwankt, ob er mich bestrafen soll, er dreht sich um und schreit dem Feldwebel zu: »An die Front mit ihm!«

Viertes Kapitel: Die Front

Zerschossener Wald, zwei armselige Worte. Ein Baum ist wie ein Mensch. Die Sonne bescheint ihn, er hat Wurzeln, die Wurzeln stecken in Erde, der Regen wässert sie, die Winde streichen über sein Geäst, er wächst, er stirbt, wir wissen wenig von seinem Wachsen und noch weniger von seinem Sterben. Dem Herbststurm neigt er sich wie seiner Erfüllung, aber es ist nicht der Tod, der kommt, sondern der sammelnde Schlaf des Winters.

Ein Wald ist ein Volk. Ein zerschossener Wald ist ein gemeucheltes Volk. Die gliedlosen Stümpfe stehen schwarz im Tag, und auch die erbarmende Nacht verhüllt sie nicht, selbst die Winde streichen fremd über sie hinweg. Durch einen dieser zerschossenen Wälder, die überall in Europa verwesen, den Priesterwald, ziehen sich die Schützengräben der Franzosen und der Deutschen. Wir liegen so nahe beieinander, daß wir, steckten wir die Köpfe aus den Gräben, miteinander sprechen könnten, ohne unsere Stimme zu erheben.

Wir schlafen aneinandergekauert in schlammigen Unterständen, von den Wänden rinnt Wasser, an unserem Brot nagen die Ratten, an unserem Schlaf der Krieg und die Heimat. Heute sind wir zehn Mann, morgen acht, zwei haben Granaten zerfleischt. Wir begraben unsere Toten nicht. Wir setzen sie in die kleinen Nischen, die in die Grabenwand geschachtet sind für uns zum Ausruhen. Wenn ich geduckt durch den Graben schleiche, weiß ich nicht, ob ich an einem Toten oder einem Lebenden vorübergehe. Hier haben Leichen und Lebende die gleichen graugelben Gesichter.
Nicht immer müssen wir nach einem Platz für die Toten suchen. Oft werden ihre Körper so zerrissen, daß nur ein Fetzen Fleisch, an einem Baumstumpf klebend, an sie erinnert. Oder sie verröcheln im Drahtverhau zwischen den Gräben. […]

Eines Nachts hören wir Schreie, so, als wenn ein Mensch furchtbare Schmerzen leidet, dann ist es still. ›Wird einer zu Tode getroffen sein‹, denken wir. Nach einer Stunde kommen die Schreie wieder. Nun hört es nicht mehr auf. Diese Nacht nicht. Die nächste Nacht nicht. Nackt und wortlos wimmert der Schrei, wir wissen nicht, dringt er aus der Kehle eines Deutschen oder eines Franzosen. Der Schrei lebt für sich, er klagt die Erde an und den Himmel. Wir pressen die Fäuste an unsere Ohren, um das Gewimmer nicht zu hören, es hilft nichts, der Schrei dreht sich wie ein Kreisel in unsern Köpfen, er zerdehnt die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Jahren. Wir vertrocknen und vergreisen zwischen Ton und Ton.

Wir haben erfahren, wer schreit, einer der Unsern, er hängt im Drahtverhau, niemand kann ihn retten, zwei haben's versucht, sie wurden erschossen, irgendeiner Mutter Sohn wehrt sich verzweifelt gegen seinen Tod, zum Teufel, er macht so viel Aufhebens davon, wir werden verrückt, wenn er noch lange schreit. Der Tod stopft ihm den Mund am dritten Tag.

Quelle: Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland, Querido Verlag, Amsterdam 1933.
(Gemeinfreier Text beim Projekt Gutenberg-DE.)