Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut

Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
Literaturverlag Droschl 2014
(Fizika na tagata; Janet 45, Plovdiv 2012)

Das Buch

Gospodinovs Erzähler leidet an übergroßer Empathie: Er kann und muss sich in alles und jeden einfühlen und erlebt dann, was diese anderen erleben – ob das nun sein Großvater am Beginn des 20. Jahrhunderts war, der kleine in ein Labyrinth weggesperrte Minotauros oder eine Schnecke, die gerade verschluckt wird. Aber auch, dass die Zeit unwiederbringlich vergeht, macht ihm zu schaffen; und er geht mit Zeitkapseln dagegen vor: Behälter, in die alles hineinkommt, was für die Gegenwart wichtig ist. Aber was ist wichtig? Zu diesem Zweck wiederum müssen Listen angelegt werden, eine im alten Ostblock bei Kindern und Jugendlichen ohnehin beliebte Praxis … Aus zahlreichen kurzen poetischen Kapiteln komponiert Gospodinov einen melancholischen Roman, der amüsiert und überrascht, in denkwürdiger Form altgriechische Mythen vergegenwärtigt wie auch 40 Jahre bulgarischen Kommunismus erinnert.

Georgi Gospodinov, © Dafinka Stoilova

Der Autor

Georgi Gospodinov, 1968 in Jambol in Bulgarien geboren, studierte Bulgarische Philologie in Sofia und war 2008/09 Gast des Berliner Künstlerprogramms DAAD, 2012 Stipendiat des Wissenschaftskollegs zu Berlin, 2014 Writer-in-Residence in Wien und in Zug (Schweiz). Dem Lyrikband Lapidarium, seinem literarischen Debüt, folgte sein erster Roman, der Natürliche Roman (1999), der ihn bei einem internationalen Publikum bekannt machte und mittlerweile in 23 Sprachen übersetzt ist. Sein Erzählband And Other Stories war auf der Longlist für den Frank O‘Connor Award.

Zuletzt erschienen:
8 Minuten und 19 Sekunden
Droschl, Graz 2016, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
(И всичко стана луна; Janet 45, Plovdiv 2013)

Kleines morgendliches Verbrechen (Gedichte)
Droschl 2010, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann

The Apocalypse Comes at 6 pm (Theaterstück)
2010

Natürlicher Roman
Droschl 2007, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
(Estestven roman, Korporacia Razvitie, Sofia 1999)

Alexander Sitzmann , © Valzhyna Mort

Der Übersetzer

Alexander Sitzmann, geboren 1974 in Stuttgart, studierte Skandinavistik und Slawistik in Wien und forscht und lehrt an der dortigen Universität. Seit 1999 ist er als freier literarischer Übersetzer aus dem Bulgarischen, Mazedonischen und den skandinavischen Sprachen tätig. Er ist Autor zweier sprachwissenschaftlicher Monografien, Herausgeber mehrerer Anthologien und Zeitschriftenschwerpunkte. 2004 erhielt er den Ehrenpreis des bulgarischen Kultusministeriums, 2007-2013 die Übersetzerprämie des bm:ukk, sowie zahlreiche Stipendien.

Zuletzt erschienen:
8 Minuten und 19 Sekunden
Droschl, Graz 2016, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
(И всичко стана луна; Janet 45, Plovdiv 2013)

Theodora Dimova: Die Mütter
Wieser Verlag 2014, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
(Maikite, Ciela, Sofia 2006)

Palmi Ranchev: Ein bißchen Glück für später: Erzählungen
Wieser Verlag 2014, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
(Malko kštmet za po-štsno, Fama, Sofia 2006)

Alek Popov: Schneeweißchen und Partisanenrot
Residenzverlag 2014, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
(Sestri Palaveevi v burjata na istorijata, Sofia, ciela 2013)

Alexander Sitzmann (Hg): Auf den Spuren von Penčo Georgiev
Black Flamingo Publishing 2013, aus dem Bulgarischen und mit einem Vorwort von Alexander Sitzmann
(Po dirite na Penčo Georgiev, Sofia, Black Flamingo Publishing 2013)

Jurykommentar
zur Shortlist-Nominierung 2014

„Ein Feuerwerk an Geschichten, Ideen, Erinnerungen, Plänen, Fundstücken, Einfällen, nicht zuletzt an Witzen bietet der Bulgare Georgi Gospodinov in ‚Physik der Schwermut‘ auf. In diese Romanwunderkammer hinein rettet er alles Mögliche und einiges Unmögliche: alte Lochkarten und den Mythos vom Minotaurus ebenso wie Kinderspiele und die Liebesgeschichte in Ungarn, über die der Großvater nie gesprochen hatte – ohne ein Wort der Erklärung kehrte er mit einjähriger Verspätung aus dem Krieg zu Frau und Kindern zurück und wurde, weil ihn das Dorf bereits als gefallenen Helden verehrte, erst einmal in den Keller gesteckt. Georgi Gospodinovs lustvoll montierender und collagierender Erzähler rettet aus den Kellern vieler Zeiten, was vergessen ist oder werden soll – nicht zuletzt natürlich die kommunistische Vergangenheit Bulgariens. Der Schriftsteller, der auch Lyriker, Theaterautor und Essayist ist, erweist sich in seinem zweiten Roman, dessen zahllosen Geistesblitzen, Stillagen und Formen Alexander Sitzmann mühelos gerecht wird, als eine mit allen Wässerchen der postmodernen Ironie, des absurden Witzes und der federleichten Selbstreflexion innig vertraute Scheherazade.“