Das Anthropozän aus globaler Perspektive lehren

Zum Gedenken an Yehuda Elkana. Von Manfred D. Laubichler und Jürgen Renn.

Das Anthropozän ist ein geologisches Zeitalter, das durch die Folgen menschlichen Handelns bestimmt ist. Als solches ist seine Ausdehnung global, ja planetarisch. Doch trotz der dramatischen Auswirkungen, welche die Aktivitäten des Menschen zeitigen und die wiederum eine Folge seines Wissens und Unwissens zugleich sind, bleiben die meisten unserer Tätigkeiten, die mit Wissen zu tun haben, auffällig fragmentiert und an einzelne Disziplinen gebunden. Wir unterrichten unsere Studierenden in gesonderten Fächern, wir strukturieren Forschungstätigkeiten anhand von Fragestellungen und Standards in Einzeldisziplinen. Und wir bewerten Studierende ebenso wie Forscher danach, wie gut sie sich in das überkommene System der wissenschaftlichen Spezialisierung einfügen.

Zugleich ist uns durchaus bewusst, dass sich sämtliche wirklichen Probleme der Welt nicht in fachliche Schubladen packen lassen. Sie erfordern inter- oder transdisziplinäre Ansätze. Infolgedessen werden breit angelegte Forschungsprojekte ins Leben gerufen, um mit derartigen Problemen umgehen zu können. Jedes Mal müssen die beteiligten Forscher beträchtliche Zeit aufwenden, um sich miteinander verständigen zu können und die unterschiedlich gelagerten Erwartungen, Anliegen und Standards zu verstehen. Und selbst wenn ihnen das gelingt, was keineswegs die Regel ist, stehen sie danach vor der zusätzlichen Herausforderung, ihre Erkenntnisse einer Öffentlichkeit darzulegen, die noch viel weniger bereit ist, die Komplexitäten heutiger Probleme zu verstehen und anzuerkennen. Es genügt der Hinweis auf das wiederkehrende Ritual falscher Interpretationen der IPCC-Berichte.

Während sich das System der Forschung allmählich in Richtung transdisziplinärer Arbeitsweisen bewegt und Forscher lernen, wie man in fächerübergreifenden Teams zusammenarbeitet, geraten unsere Bildungssysteme demgegenüber ins Hintertreffen. Inmitten all der dramatischen Umwälzungen bei der Weitergabe von Wissen aufgrund der digitalen Revolution haben unsere Universitäten mit einer geistigen Krise zu kämpfen. Es ist eine Krise des Zwecks, der Fokussierung und des Inhalts und sie entspringt einer grundlegenden Verunsicherung über alle drei Felder. Als Folge haben die Curricula nur wenig mit der Forschung zu tun, Gegenstände werden immer noch in disziplinärer Abschottung vermittelt, Wissen wird mit Information gleichgesetzt und in den meisten Fällen als statisch, nicht als veränderlich dargeboten. Hinzu kommt, dass die Universitäten überwiegend reagieren, anstatt klare, vorausschauende Visionen und kritische Perspektiven zu entwickeln. Die Krise ist heute umso augenfälliger, als die Geschwindigkeiten des gesellschaftlichen, geistigen und technologischen Wandels innerhalb und außerhalb der Universitäten immer weiter auseinanderfallen.

Zwar werden Universitäten in aller Welt vielen, oft radikalen, Strukturreformen unterzogen, doch die Lehrinhalte bleiben darüber meist eher unbeachtet. Für die Universität als Gemeinschaft der Forschenden und Studierenden sind sie aber die zentrale Aufgabe und der Schlüssel zur inneren Erneuerung. Universitäten sind in vielfältige institutionelle, wirtschaftliche, finanzielle, politische und Forschungsnetzwerke eingebunden, die nicht nur Druck und Einschränkungen erzeugen, sondern auch Chancen bieten. Unabhängig davon ist das Curriculum aber das eigentliche Kerngebiet jeder Universität.

Wie können nun die Universitäten mit heutigen Anforderungen, mit den Erfordernissen des Anthropozäns umgehen? Wir sind natürlich nicht die einzigen, die sich darüber Gedanken gemacht haben. Es gibt in letzter Zeit viele ähnlich gelagerte vorausschauende Initiativen und Experimente. Hier berichten wir von einem dieser Versuche, der aus Beratungen einer Gruppe von Wissenschaftlern am Wissenschaftskolleg zu Berlin hervorging. Die Gespräche wurden von Yehuda Elkana (1934–2012) organisiert, einem ehemaligen Wissenschaftshistoriker an der ETH Zürich und Rektor der Central European University in Budapest. Unter den Teilnehmern waren Vertreter verschiedener Disziplinen (der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften), geografischer Herkunft (Europa, Nordamerika und Indien) und Karrierestufen (von emeritierten Rektoren bis zu Studierenden). Die Gruppe erarbeitete zunächst elf Prinzipien, die einander teilweise überschneiden und sich als Grundlage für einen weltweiten Dialog und Experimentierprozess zur Neugestaltung der universitären Curricula bis zum ersten Studienabschluss verstehen. Für die jeweilige Umsetzung dieser Prinzipien kann es natürlich keine einheitliche Formel geben. Dafür sind die institutionellen Strukturen zu vielfältig und die kulturellen Unterschiede zwischen den Universitäten zu groß. Wir sind dennoch zuversichtlich, dass diese elf Prinzipien eine gute konzeptuelle Grundlage für das bieten, was zu tun ist.

  • Als zentrale Richtschnur gilt es, Fächer stringent in Einführungsveranstaltungen zu unterrichten und sie von mehreren Seminaren zu flankieren, in denen komplexe, disziplinenübergreifende Probleme des wirklichen Lebens behandelt werden.

  • Wissen soll in seinen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontexten unterrichtet werden. Es gilt, nicht nur den Tatsachenbestand zu vermitteln, sondern auch die Herausforderungen, offenen Fragen und Unsicherheiten jeder Disziplin hervorzuheben.

  • Die Lehre soll ein Bewusstsein für die großen Probleme schaffen, vor denen die Menschheit steht (Hunger, Armut, öffentliche Gesundheitsversorgung, Nachhaltigkeit, Klimawandel, Zugang zu Wasser, Sicherheit usw.). Sie soll zeigen, dass kein einzelnes Fach allein mit irgendeinem dieser Probleme angemessen umgehen kann.

  • Die genannten Herausforderungen sollen dazu dienen, Interdisziplinarität zu veranschaulichen und dezidiert anzuwenden, dabei jedoch interdisziplinären Dilettantismus vermeiden.

  • Wissen ist historisch zu betrachten und darauf zu befragen, wie es entsteht, erworben wird und zur Anwendung kommt. Machen wir deutlich, dass verschiedene Kulturen ihre jeweils eigenen Traditionen und unterschiedlichen Formen des Wissens haben. Behandeln wir Wissen nicht als etwas Statisches, das in einen starren Kanon eingebettet ist.

  • Allen Studierenden soll ein grundsätzliches Verständnis der Grundlagen von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften vermittelt werden. Dabei sind die Verbindungen zwischen den Wissenstraditionen zu unterstreichen und an Beispielen aufzuzeigen

  • Setzen wir uns mit der Komplexität und Unordnung der Welt auseinander. Das gilt für die Naturwissenschaften ebenso wie für die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Dimensionen dieser Welt. Damit werden wir zur Bildung verantwortungsvoller Bürgerinnen und Bürger beitragen.

  • Legen wir in allen Bereichen der Lehre Wert auf eine breit gefächerte und aufnahmebereite, evolutionäre Denkweise.

  • Machen wir Studierende mit nicht-linearen Phänomenen auf allen Gebieten des Wissens vertraut.

  • Verschmelzen wir Theorie und Praxis, analytische Stringenz mit der Anwendung von Wissen auf Probleme der wirklichen Welt.

  • Überdenken wir die Folgen moderner Kommunikations- und Informationstechnologien für die Lehre und Struktur der Universität.

Derart umfangreiche und bedeutsame Veränderungen der Curricula bedingen und erzeugen einen Wandel im Aufbau und institutionellen Profil der Universitäten oder anderen Formen höherer Bildung. Das Anthropozän-Curriculum gehört offensichtlich der zweiten Kategorie an, denn es ist als Experiment höchst ungewöhnlich, nicht nur in seinem Ansatz – mit langen interdisziplinären Beratungen im Vorfeld – sondern auch in der Zusammensetzung seiner „Studentenschaft“.

Das Anthropozän-Curriculum ist nur eines von mehreren Studienplan-Experimenten. Sämtliche im Manifest erwähnten Themen sind für anthropozäne Lehre relevant, doch vermutlich ist für das Wissen im und über das Anthropozän nichts so wichtig wie die globale Dimension dieses Wissens. Deshalb haben wir das Global Classroom Experiment entworfen. Es begann als gemeinsames Projekt der Arizona State University (der größten öffentlichen Universität in den Vereinigten Staaten) und der Leuphana-Universität in Lüneburg, Deutschland. Beide Universitäten gehören zu den ersten, die in Forschung und Lehre einen inhaltlichen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit setzen. In diesem Kontext haben wir einen dreisemestrigen Studiengang mit Forschungsschwerpunkt zum Thema „Sustainable Cities: A Contradiction in Terms?“ ausgearbeitet.

Der Lehrgang nutzt konsequent neue Technologien, um gemeinsames Lernen, Diskutieren und Forschen zu begünstigen. Von uns selbst und anderen entwickelte Internetressourcen gewähren vielfältige Einblicke in Themen der Urbanisierung und ihrer Probleme. Videokonferenzen ermöglichten (über eine Zeitzonendifferenz von neun Stunden hinweg) gemeinsame Seminare. Auch unsere länderübergreifenden Studententeams konnten auf diese Weise an ihren gemeinsamen Projekten arbeiten. Soziale Netzwerke und direkte Begegnungen in Form von gegenseitigen Besuchen vertieften die Zusammenarbeit und ermöglichten unseren Studierenden Entwurf und Umsetzung von Forschungsprojekten, die höchsten Ansprüchen genügten.

Doch obwohl diese Projekte beeindruckende Ergebnisse vorweisen konnten, waren sie nicht die wichtigste Bildungsleistung des Global Classroom. Im Lauf der drei Semester erwarben unsere Studierenden etliche Fertigkeiten (von der Zeiteinteilung bis zur Gemeinschaftsarbeit), die ihnen in ihrem gesamten Berufsleben nützlich sein werden. Sie erfuhren unmittelbar die Bedeutung unterschiedlicher Wertvorstellungen, Auffassungen und kultureller Normen, die Einfluss auf das haben, was in verschiedenen Kontexten als Wissen und als annehmbare Lösung eines Problems gilt. Mit anderen Worten, sie entwickelten ein vertieftes Verständnis der globalen Dimension des Anthropozän. Während die Studierenden des Global Classroom von verschiedenen Disziplinen kommen, blieb das Experiment jedoch immer noch auf Universitäten beschränkt. Hier geht das Anthropozän-Curriculum den notwendigen nächsten Schritt, indem es den Kreis potenzieller Teilnehmer auf Künstler und andere nicht-Wissenschaftler erweitert, um auch auf diesem Weg die Diskussion auf eine breitere Grundlage zu stellen.