Péter Esterházy: Die Freude über das neue Gesicht

Festrede

Aus dem Ungarischen von György Buda

Muss ich in deutscher Sprache eine Rede halten, kommt mir sofort reflexartig wie dem Pawlowschen Hund in den Sinn, genauer, mich überkommt das böse kleine Verlangen, ungarisch zu sprechen, und das hätte einen Preis, nicht wahr, und zwar, dass mich kein Schwein verstehen würde (auf ungarisch heißt es in dieser Redewendung „kein Hund“, somit ist hier und jetzt der haarfeine Rückverweis auf Pawlow verloren gegangen), spräche ich aber ungarisch, wären die sprachliche Situation und das Problem klar, um die es eben jetzt ginge. Bin ich in Deutschland, spreche ich deutsch (zumindest mein Deutsch), und das ist nicht ganz unlogisch, das nimmt jeder als natürlich hin, nur ich wundere mich ein wenig, nur ich bin mir selbst ein wenig fremd.

Da fällt mir sogleich mein kleiner Sohn ein - wie es scheint, stecke ich voller Pawlowscher Hunde - der seinerzeit noch ohne deutsch zu können eine Berliner Schule besuchte. Als ihn aber seine Mitschüler ansprachen, lauter kleine Preußen, hob er nicht an, mit Händen und Füßen zu reden und mit Infinitiven ans Ziel zu gelangen, ich kommen Ungarn, er sprach vielmehr auf Ungarisch zu ihnen, in ruhigen, langsamen, an einem ungarischen Fontane geschulten Gliedersätzen. (Ich merke an, es gibt keinen ungarischen Fontane.) Als ich ihm vorsichtig andeutete, dass dieses Vorgehen unter praktischen Gesichtspunkten möglicherweise nicht ideal sei, sagte er mit der kalten Klugheit und Gereiztheit eines neunjährigen Menschen: Sie sagten lange deutsche Sätze, ich sagte lange ungarische Sätze.
Das heißt, er hat etwa gesagt, er sei gleichrangig. Als hätte er unbewusst gespürt: Wer über die Sprache verfügt, besitzt auch die Macht.

Das andere, das ich als Motto jeglicher Rede ansehe, und was vielleicht gerade über das Gegenteil der Macht redet, ist das wunderbare Gedicht des schizophrenen Patienten Ernst Herbeck:

Die Einsamkeit
Die Einsamkeit ist ähnlich
eine Versammlung und
dann, wenn ein Herr eine
Rede hält.
Sie soll interessant sein
um die Einsamkeit zu
überwinden. Danke!

Ich möchte gern in diesem schizophrenen „Danke“ fortfahren.
Wer da redet, das heißt, die höchst mühselig zu bewältigende Aufgabe, ja die Lebensaufgabe, Ihnen zu definieren, wer ich denn sei, welches große Geheimnis der Schöpfung, dieses Rätsel möchte ich jetzt, wenn Sie gestatten, nicht lösen. Nebenbei bemerkt, diese Möglichkeit eröffnet sich zumeist in Romanen, und das meine ich nicht in der Art, dass ich in meinen eigenen Romanen enthalten wäre, sondern dass sich zum Beispiel in einem Cartarescu-Roman auch so manches über mich offenbart.
Ansonsten bin ich eher ein Leser, das geht von allein. Müsste ich ein Wappentier wählen, so wäre das kein adlerköpfiger Löwe mit dem goldenen Vlies, mit einem Schwert und drei Rosen im Schnabel, die wichtige und vergessene Tugenden (ich habe sie jetzt auch vergessen) symbolisieren, sondern ein Bücherwurm oder eine Leseratte, die zwar auf den ersten Blick scheinbar keine vornehmen Symbole darstellen, aber – aber, ja, diesen Satz wollen wir irgendwann, ein anderes Mal beenden. Ich bin also in erster Linie ein Leser, und unternehme täglich Anstrengungen, ein Schriftsteller zu werden, das geht nicht von allein.

Das sind einfache Dinge, wir haben mehrerlei Identitäten (doch darauf komme ich noch zurück), so ist zum Beispiel eines meiner schönsten Ichs, und das bin ich heute der Gelegenheit entsprechend am meisten, als solcher spreche ich, als Schirmherr, als Schirmherr des Brücke-Preises. Das erwähne ich nicht, um damit anzudeuten, wie nahe mir die Thematik des heutigen Abends steht, oder wie es der Preis, der Internationale Literaturpreis formuliert, „die Arbeit und der Aspekt des Übersetzens, die Vermittlung internationaler Literatur, das inzwischen globalisierte literarische Schaffen”, Zitat Ende, sondern damit ich diese Thematik an eben diesem Wort, am Wort Schirmherr vorstelle.

Ich erzähle eine Geschichte, die erlogen ist, und nicht nur darum, weil ich sie erfunden habe (wobei ich alles nur so erfinde, auch das, was ich mit den eigenen Augen sehe), sondern wegen der inneren, der sozusagen strukturellen Widersprüche. Zu einer Geschichte gehört allerdings auch ihr Bankrott, oder um ein Wort von Kertész zu verwenden, das eigene Fiasko ist auch ein Teil der Geschichte, die wird dann in dieser paradoxen Weise zu einer wahren Geschichte. Das hoffen wir zumindest.
Einer meiner Enkel wollte wissen, was ich bin. Offenbar verspürte er eine Unklarheit in Bezug auf diese Frage. Ein Schirmherr, antwortete ich ihm, streng und selbstbewusst. Schirmherr, wiederholte er andächtig, und vor seinen Augen flogen bunte Parapluies unter der Brücke des Regenbogens dahin, er schien recht zufrieden damit, dass all diese Märchenhaftigkeit mit seinem Großvater zusammenhängt.
Er wäre zufrieden gewesen, wenn er kein Ungar wäre, so aber erwartete ihn bloß eine Enttäuschung. (Bitte das jetzt nicht als aktualpolitische Bemerkung zu verstehen.) Mein armes erz-ungarisches Enkelkind. Das schöne Wort Schirmherr heißt auf ungarisch lediglich „védnök”, was irgendwo zwischen Patron und Prottetore angesiedelt ist, ein gutes Wort, ist schlussendlich in Ordnung, es ist ein zielgerichtetes, aber graues Wort, mitnichten dichterisch, ungeeignet dazu, jemanden zu verzaubern, insbesondere ein wertebewusstes Enkelkind, das dabei ist, gerade die Welt für sich zu entdecken. Sie sehen also, meine Damen und Herren, die dramatische Situation: um zu einem verzaubernden, geheimnisvollen Großvater zu werden, muss ich nach Berlin kommen, das heißt, damit meine wahre Größe, meine großväterliche Größe ersichtlich wird, muss ich übersetzt werden.

Es wäre ein Leichtes, in dieser Tonlage fortzufahren, über die Schönheit und die Chancen der globalisierten Welt oder „über die Multispektralität des Übersetzens” zu sprechen. Wir könnten fröhlich und mit spielerischer Heiterkeit registrieren, dass wir es nunmehr statt mit einer Ja-Nein-Welt mit einer mehrwertigen, nicht binären Welt zu tun haben. Also: Sind es die Offenheit, die Vielsprachigkeit als Reichtum, die naturgemäße Anwesenheit der Übersetzung, die unsere Gegenwart immer mehr charakterisieren? Ist es nicht eher die Frage, die drängende und erschreckende Frage, ob diese so genannte globalisierte Welt überhaupt lesbar ist? Die Übersetzung ist nämlich nur dann möglich, wenn sie lesbar ist.
Globalismus und Provinzialismus wachsen miteinander, die Offenheit wächst und auch die Zahl derer wächst, die ihr mit Argwohn begegnen. Die integrative Kraft der EU nimmt zu, und auch der Nationalismus nimmt zu. Der Provinzialismus ist kein Privileg der kleinen Länder, er ist bei den großen bloß schwerer zu bemerken, weil die Provinz groß und reich ist. Die Tiefe des Provinzialismus birgt keine Engstirnigkeit, keine Bildungsferne oder Kulturlosigkeit, sondern Angst – Angst vor der Welt, die tatsächlich angsterregend genug ist. Daher rührt die Aggressivität des Provinzialismus. Wir und ihr – Provinzialismus und Nationalismus erzeugen Feindbilder. Das Symbol dieser Kulturauffassung ist eine Burg. Und die Burg muss verteidigt werden. Gemeinsames Charakteristikum der Burgen aber ist, dass jede von ihnen, ausnahmslos jede von ihnen, irgendwann zur Ruine wird. Die Kultur könnte eher eine weite grünende Wiese sein, auf der wir spazieren, uns unterhalten, zuweilen Streitgespräche führen, und uns dann unter einem schattigen Baum niederlassen, wie auf einem Bild von Renoir.

Aber dem ist nicht so. Wir sagen, nicht wahr, lasst uns auf einmal mehrere Spiele spielen, lasst uns über Sprachen und Grenzen hinwegtanzen. So weit, so gut, doch ist das auch eine Frage der Konstitution. Was ist mit dem, der nicht tanzen mag oder kann? Der nicht spielen mag oder kann? Der keinen Humor besitzt? Der monogam ist und nur das Eine liebt und nicht das Viele? Es gibt vielerlei Menschen, man kann sich auf vielerlei Arten freuen. Und nicht freuen. Was ist mit dem, der nicht mobil ist, der nicht gern reist? Oder der gern reist, aber kein Tourist sein möchte? Was ist also mit dem, der an diesem großen, bunten globalen Spiel nicht teilnehmen kann, was ist das Los dessen, der nicht nur nicht zwischen mehreren Sprachen wählen kann, sondern nicht einmal eine einzige besitzt? Der arm ist?
Und ist es nicht gerade der Schriftsteller, der für alles das empfänglich sein müsste? Ist es nicht gerade der Schriftsteller, der in die Unendlichkeit seiner eigenen Sprache eingesperrt ist? (Eine Sprache, zehntausende Seelen, wie Géza Ottlik sagt.) Ein Schriftsteller ist der, dem die Sprache Probleme macht – in der Sprache heimisch und fremd zu sein, „die Muttersprache als Fremdsprache zu nutzen“, ist nicht gerade das die Situation des Schriftstellers?

Das sind unsere neuen-alten unangenehmen Fragen. Wir haben gelernt: Navigare necesse est. Gleichermaßen necesse est zu übersetzen. Auch dann, wenn es unmöglich ist. Ich halte es für einen Verrat am Beruf, wenn ein Autor darauf achtet, einen gut übersetzbaren Text zu schreiben. Ich zum Beispiel freue mich ausgesprochen, wenn ich an einem meiner Sätze sehe, dass er nicht übersetzbar ist. Mein Jubeln hält so lange an, bis ich mich mit dem Übersetzer an die Arbeit mache. Das größte Hindernis des Übersetzens ist der Text selbst, befürchte ich. Allerdings ist er auch seine einzige Chance.

In der Übersetzung geht vieles verloren, darüber jammern wir meistens. Wenn der deutsche Satz ungenau ist, ist er schlecht. Wenn der ungarische Satz ungenau ist, dann ist er entweder schlecht oder schön. Was passiert mit dieser Schönheit? Andererseits ist die Übersetzung auch ein Gewinn, jede Übersetzung zeigt ein etwas anderes Gesicht des Originals. So ist also das wahre Gesicht eines Buches jenes, das sich aus der Übersetzung in alle Sprachen ergibt, dieses Multigesicht ist das wahre Gesicht eines Buches. Dieses Gesicht existiert freilich nicht, und existierte es, gäbe es niemanden, der es sähe. Dieses sein Geheimnis behält jedes Buch für sich.

Und jetzt sind wir zusammengekommen, um uns über das neueste Gesicht des Buches Mircea Cărtărescus, meines Kollegen zu freuen, das von Gerhardt Csejka und Ferdinand Leopold gezeichnet wurde. Musik, Tanz, kaltes Buffet.

Berlin, Haus der Kulturen der Welt
6. Juni 2012