Hanns Zischler: Unentmischte Nachrichten

Festrede

Hin und wieder geschieht es, daß ich in einem für mich fast bedrohlichen Ausmaß aus der Zeit falle. Dies widerfährt mir vor allem dann, wenn ich lese. Ich will versuchen, das zu erklären.

Vorausschicken muß ich, daß ich ein unheilbarer Zeitungsfresser bin. Der Abrieb der Druckerschwärze an Fingern und Händen ist für mich das wirklich breakfast, begleitet von wilden, taumeligen Sprüngen über die Seiten: ein Sturz in die morgend-liche Entnüchterung, eine ebenso unvermeidliche wie euphorische Berührung mit den merkwürdigen, meist unheilvollen Botenstoffen der auswärtigen Welt.

In einer eigentümlichen Wahrnehmungstrance werden die semantischen Brosamen aus den Textkolonnen mit tautologischen Bildlegenden kleingehäckselt, um sich zu einem amorphen Tagtraum zu ballen, der kaum gebildet auch schon wieder zerfallen und vergessen ist.

Es ist der Gang durch die Kolumne, die verführerisch schmale Zeilenkolonne, an der die Augen behende wie Affen entlang gleiten, bis sie sich verheddern, um schließlich bei der kleinsten Ablenkung und unvermutet auftauchenden Wort- oder Bildattraktio-nen in ausgreifenden Sprüngen querbeet abwärts bis an das diagonale Ende zu hüpfen, umschwirrt von Sinnresten, Namenspflöcken, von Signal– und Reizwörtern, von störenden Einsprengseln und typographischen Wegelagerern, die überall auf der großen Druckseite dem Leser auflauern.

Alles, was in diesem Auflesen hier geschieht und womit man sich allmorgendlich affiziert, ist eine einzige ‚Störung’, ein Tag für Tag willentlich aufgenommener Wortsalat. Sein Name ist Information. Und nichts beschreibt die Auseinander-setzung mit dieser morgendlichen Zumutung besser als der verzweifelte Versuch, besonders wichtig, sensationell oder klug scheinende Artikel und Bilder oder auch nur eine gelungene Aufmachung aufzuheben – „für später“.

Als wüsste man nicht, daß diesem ungebunden herumflatternden Papier, den ausgeweideten Zeitungsartikeln das Stigma der bevorstehenden Makulatur oder des Gilbs, mithin des Vergessens förmlich aufgedruckt ist.

Aber infolge einer seltsamen Transsubstantiation eignen sich diese Ausschnitte, nachdem sie zwischen korrekt gebundenen, ordentlichen Buchseiten wie vergessene, aber immer noch pulsierende Meldungen überwintert haben, als Quelle überraschender Wiederentdeckungen.

Unversehens konfrontiert mich die Lektüre, wenn sie im Buch auf einen aus der Erinnerung längst entlassenen Zettel stößt, schlagartig mit der Vergangenheit des Lesers, der ich gewesen bin: ein Schock, der mir geradezu materiell vor Augen führt, was mich bewogen haben mag, die rasch verwelkende Lektüre der Zeitung in einen Herbarbeleg zu verwandeln.

Der Clip, der Ausschnitt mutiert zum Beleg eines lange Zeit verschwundenen Affekts, er wird zum Beweisstück. Und wie es häufig beim Lesen geschieht, gesellt sich zum schieren („sensationellen“, „unfassbaren“ etc. ) Inhalt der alten Nachricht das Nachbild eines gewesenen Augenblicks intensiver, kurz innehaltender Lektüre.

Die Zeitungsfresserei ist ein Fluch und eine Lust, ein Glück und eine Last – sie raubt mir die Zeit, die ich für andere, schwierigere Lektüre bereithalten müsste (vom Schreiben einmal ganz zu schweigen) und doch verhilft unter bestimmten Umständen dieser unökonomische Aufschub, dieser sprunghafte Umweg auch zu einer Lektüre ganz anderer Texte – der Literatur, der Dichtung.

Dem vielstimmigen, kakophonischen Layout der raumgreifenden Zeitung versucht der vergleichsweise bescheidene und mehr oder minder unverrückbare Satzspiegel des Buches zumindest den Schein einer Beruhigung, Ordnung und Richtung entgegenzusetzen. Und wenn für das Buch galt, was Ivan Illich von den Anweisungen zum Lesen im Mittelalter sagte: „Die Tätigkeit des Lesens wird in Analogie zu den Körperbewegungen dargestellt: als Schreiten von Zeile zu Zeile, als eine motorische Aktivität des Körpers, als ein Zusammenspiel zwischen Auge, Mund und Ohr. Die Ohren des Lesers sind aufmerksam und mühen sich ab, das aufzufangen, was der Mund äußert. Die Zeilen sind wie eine Tonspur, die mit dem Mund aufgenommen und vom Leser für das eigene Ohr wiedergegeben wird. Die Seite wird durch das Lesen buchstäblich einverleibt“, dann ist spätestens seit der diagonal und vektoriell überfliegenden, raffenden Lektüre der Zeitung der murmelnde Mund verstummt. Das selektierende, vom Layouter gesteuerte und überrumpelte Auge hat die Oberhand gewonnen.

Wenn aber das unersättliche Auge von James Joyce auf das Blatt fällt, kann auch noch aus der größten Nichtigkeit etwas unerhört Neues entstehen.

Im Gespräch erwähnt James Joyce gegenüber seinem Bruder Stanislaus, was von den täglich abfallenden Vermischten Nachrichten der Zeitungen zu halten – und was für ihn daraus zu gewinnen ist. Joyce nennt sie das „Graubrot des Alltags“, das „everyday bread“ – ein Grundnahrungsmittel, auf das wir nicht verzichten können, das aber rasch ungenießbar wird, es sei denn, derjenige, der es mit Bedacht und Inspiration aufliest, ist in der Lage, es in etwas anders zu verwandeln. Lesen ist, so gesehen, der Beginn eines mystischen Prozesses, an dessen Ende dieses „Graubrot“ in eine sehr viel weniger verwesliche Substanz, in Literatur überführt wird. Epiklese nennt Joyce diesen der Liturgie der Ostkirche entlehnten Vorgang. Der unersättliche Zeitungsleser Joyce schlüpft so in die Rolle des Priesters, der die Instrumente und den Prozeß der Transsubstantiation beherrscht. Ulysses quillt über von Epikleti – am eindrucksvollsten vielleicht die Szene, in der der Anzeigen-aquisiteur Leopold Bloom beim Schweinemetzger Dlugacz in einem winzige Augenblick den Text einer ausgeschnittenen Annonce liest, entziffert und weiterspinnt, in der, 1904, für ein Siedlungsprojekt in Palästina geworben wird. Der Zeitungsausschnitt dient als Einwickelpapier für die blutigen Schweinnieren, die Bloom im Laden kauft. Die Heftigkeit der rasend schnellen Lektüre und des daraus hervorschießenden Assoziationenfeuerwerks – man könnte es ein Blitzlicht des Lesens nennen – ist so enorm, daß man glaubt, die Augen fräßen förmlich das Gedruckte auf.

Joyce’ erster französischer Verleger, der diskrete Anarchist , Geburtshelfer und souveräne Schleusenwärter einer ganzen Dichter- und Malergeneration, der Kritiker Félix Fénéon hat auf unnachahmliche Weise demonstriert, welch phantastisches Potential in den Vermischten Nachrichten schlummert. Wenn man sie nur zu lesen versteht. Doch wie gelingt das? Durch eine nie ermüdende, das Gelesene stets weiterdenkende Aufmerksamkeit für das Einzigartige. Nicht das einzigartige Ereignis, sondern die extrem komprimierte Nachricht, das zu einem Kürzel geronnene Druckbild von jenem unerhörten Ereignis. Dieser Kritiker, von dem der Schriftsteller Verhaeren einmal gesagt hat, er „habe gesehen, wie Fénéon vor einem Bild errötete“, dieser Kritiker hat den durchdringenden Blick der Lektüre zu einer ungeahnten Schärfe getrieben – wie ein geistiger Stoffhändler, der mit Hilfe seines Fadenzählers die Echtheit des Textgewebes prüft.

Fénéons Überraschungsangriff, die Schockierung der Leser gelang im Jahr 1906, als er eine Pariser Tageszeitung mit über eintausend ebenso frei erfundenen wie unabweisbar glaubwürdigen Schreckensnachrichten zu 3 Zeilen („Nouvelles en trois lignes“) munitionierte. Seine Prosa ist Zeugnis einer ungeahnten Kunst der Zeitungslektüre und der Kunst, das „everyday bread“ zeitfest zu machen. Diese Nachrichten sind eine anarchistische Tat à la lettre.

„Der Sänger Luigi Ognibene verletzte in Caen mit zwei Kugeln Madelon Deveaux, die ihm kein Monopol auf ihre Schönheit einräumen wollte.“ (Eig. Ber.)

„Scheid aus Dünkirchen schoß dreimal auf seine Frau. Da er sie jedes Mal verfehlte, nahm er die Schwiegermutter ins Visier: Treffer.“ (Havas)

Aus einem Gegend unserer Erde und des vergangenen Jahrhunderts, aus der kein noch so kleines Ereignis sich zu einer Zeitungsnachricht hat verdichten können, ja, deren Mitteilung selbst in den Briefen geschwärzt wurde, aus der Kältewelt des GuLag überliefert der Dichter Warlam Schalamov Geschichten, die „Erzählungen aus Kolyma“, deren Wahrheit allein durch das unversiegbare Gedächtnis der Überlebenden bewahrt wurde. Schalamov, der notgedrungen mit großer Verspätung, jetzt aber immer größer werdend auf unseren Radarschirmen erscheint – in Deutschland dank der Übersetzungen von Gabriele Leupold – , Schalamov schreibt: „Das 20. Jahrhundert hat die Erschütterung, den Schock in die Literatur getragen. Man glaubt ihr nicht mehr, und der Schriftsteller mußte sich, um Schriftsteller zu bleiben, nicht als Literatur, sondern als das Leben ausgeben – als Memoiren, als eine Erzählung, die fester ins Leben eingepasst ist, als das bei Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ der Fall ist. (...) Kann man schreiben, damit etwas Böses verschwindet und damit es sich nicht wiederholt? Ich glaube nicht daran, und solchen Nutzen werden meine Erzählungen nicht bringen.
Alles kann sich wiederholen, und niemanden wird das anhalten und aufhalten (...) Aber selbst wenn es so ist, muß man trotzdem schreiben, es niederschreiben.“

Michail Schischkin, der heute Abend, zusammen mit seinem Übersetzer Andreas Tretner, für den Roman „Venushaar“ ausgezeichnet wird, überliefert auf sehr eindringliche Weise und in gewaltigen Schüben Geschichten, die, wenn sie, wie es täglich in den Zeitungen geschieht, zu kursorischen Nachrichten (aus den Tschetschenienkriegen, aus dem sowjetisch besetzten Afghanistan) verkürzt werden, taub und stumm bleiben. Doch weil er ihnen eine Stimme gibt (eine „Stimme in einem Chor“ im Sinne von Andrei Sinjawski ), eine zögernde, fragende, suchende Stimme, verwandelt sich die prekäre Glaubwürdigkeit derjenigen, die den Katastrophen entronnen sind – sie haben nichts vorzuweisen als eine persönliche Erinnerung, als Unentmischte Nachrichten – zu einer Wahrheit, die nur die Literatur zu leisten vermag. Die Epiklese von Joyce erwacht so zu neuem Leben. In einem ebenso geduldigen wie atemberaubenden Prozeß entmischt Michail Schischkin diese Nachrichten. Das Graubrot trotzt der Verwesung.

Im Ritual der Anhörung eines Asylsuchenden, in einer dialektischen Verkehrung von Frage und Antwort – der Fragesteller (der Dolmetscher der Behörde) erzählt mitunter ausführliche Geschichten, um deren Wahrscheinlichkeit (und Wahrheit) durch den Antwortenden bestätigen zu lassen, in diesem Ritual wird einmal die Zugfahrt eines Antragstellers während der Geiselname von Nasran beschrieben; dieser stelle sich vor [ - ich zitiere – ] „wie Mutter und Schwester jetzt am Tisch saßen und Nachrichten guckten, Tee dazu tranken und Quarkpfannenkuchen aßen; eben wurde gezeigt, wie ein mit Geiseln voll besetzter Bus in Nasran explodierte, Menschenteile schwebten kunstvoll in Zeitlupe, wie große rote Schneeflocken. Der ganze Zug las Krimis. Das war verständlich. Ein Kriminalroman setzt voraus, daß vor dem ersten Verbrechen bis zum Auftauchen der Leiche eine Art ursprüngliche Harmonie auf Erden herrschte. Die ist nun verletzt, und der Kommissar wird, indem er den Mörder ausfindig macht, die Weltordnung wiederherstellen. (...) Gelesen wird ja überhaupt nur, weil es einen graust, wie eine Mücke durch das Leben zu schwirren – unsichtbar, unhörbar, umnachtet. Ein Kriminalroman ist der gleiche Horror wie das, was in den Zeitungen steht, nur mit dem Unterschied, daß er gut ausgeht. (...) Wohingegen man die Zeitungen lieber gar nicht aufschlägt. Da geht es nicht mehr um Nachrichten. Da geht es nicht mehr um Nachrichten, sondern um die Auflistung besonders krasser Verbrechen, die einem das Herz im Leibe gefrieren lassen.“

Nach der Lektüre dieses Romans schlägt man das Neue vom Tage mit anderen Augen auf.

Berlin, Haus der Kulturen der Welt
29. Juni 2011