27.4.–14.5.2006

Celluloid Revolutions

Filmreihe

Film

Ein Jahrhundert des chinesischen Films: Von den Stummfilmklassikern aus den Dreißigerjahren über die „Neue Welle“ nach der Kulturrevolution bis hin zu aktuellen Produktionen, die erst kürzlich auf der Berlinale zu sehen waren.

Gäste: Dai Jinhua, Filmwissenschaftlerin und Beraterin bei der Programmauswahl / Liu Jiayin, Filmemacherin / Ou Ning, Kurator und Filmemacher / Wang Bing, Filmemacher / Wu Wenguang, Filmemacher / Nathalie Bao-Götsch, Sinologin, Trigon-Film / Ulrich Gregor, Festivalmacher / Katharina Schneider, Filmemacherin.


Zwischen Epik und Realismus – 20 Jahre Film in China

Als ihr Spielfilm Yellow Earth 1985 beim Hong Kong International Film Festival die höchsten Preise gewann und stürmische Begeisterung auslöste, ahnten Regisseur Chen Kaige und Kameramann Zhang Yimou noch nicht, dass ihre Arbeit als Meilenstein des modernen chinesischen Kinos in die Filmgeschichte eingehen würde. Sie waren zusammen mit einigen anderen aus tausenden von Bewerbern zum Studium an der Beijinger Filmakademie zugelassen worden, als die nach 10-jähriger Schließung während der Kulturrevolution 1978 ihre Tore wieder öffnete. Als „fünfte Generation“ von Filmemachern der Volksrepublik China beendeten sie ihr Studium Anfang der Achtzigerjahre. Sie traten das reiche Erbe mehrerer Generationen von Regisseuren an, die damals bereits seit rund achtzig Jahren chinesische Filmgeschichte geschrieben hatten. Chen Kaiges und Zhang Yimous erste Arbeiten entstanden in einer wirtschaftlich und kulturpolitisch relativ liberalen Phase; ihre expressive Bildsprache und ihr kritischer Blick auf die chinesische Kultur und Geschichte sollten das Kino Chinas entscheidend verändern.

Unter ganz anderen Bedingungen begannen ihre Nachfolger zu arbeiten, die Vertreter der so genannten „sechsten Generation“. Der Abschluss ihres Studiums fiel mit der Niederschlagung der Studentenunruhen im Juni 1989 zusammen. Unter diesen Voraussetzungen sahen die Absolventen der Filmakademie keine Chance, in staatlichen Filmstudios ihre eigenen Ideen umsetzen zu können. Sie schufen Filme außerhalb der staatlichen Produktions- und Vertriebskanäle, die damit unzensiert – aber auch illegal und öffentlich unaufführbar blieben. Regisseure wie Zhang Yuan siedelten ihre Geschichten in der städtischen Moderne an, griffen soziale Themen auf und waren bestrebt, sie möglichst authentisch darzustellen. Etwa zur gleichen Zeit entstanden auch die eindrucksvollen Arbeiten von Dokumentarfilmern wie Wu Wenguang oder Wang Bing, die die gewaltigen sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche in China festhielten.

Mitte der Neunzigerjahre begannen die nach den Tiananmen-Unruhen von der Regierung intensivierten wirtschaftlichen Reformen auch die Filmindustrie zu berühren. Die Filmstudios konnten nicht mehr ausschließlich auf staatliche Mittel zählen und mussten selbst Investoren für ihre Produktionen finden. Gleichzeitig wurden die Gründung von privaten Produktionsfirmen und der Einsatz von neuen Investitionsformen zugelassen. Zu Anfang des neuen Jahrtausends wurden außerdem einige Zensurbestimmungen gelockert. Diese Maßnahmen sind wohl als grundsätzlich positiv zu beurteilen. Aber sie zwingen die meisten Filmschaffenden zu einem schier unmöglichen Spagat zwischen wirtschaftlichen und politischen Ansprüchen. Die neuen Marktmechanismen und eine limitierte Öffnung für ausländische Filme erzeugen großen Druck, kommerziell erfolgreiche Produktionen zu realisieren. Der zugleich nur eingeschränkt freie Filmmarkt und die nach wie vor unberechenbare Zensur haben zu einer riesigen Vielfalt illegal kopierter und äußerst preiswerter DVDs geführt, was sich wiederum fatal auf die Zahl der Kinobesuche auswirkt. Waren die ideologischen Vorgaben der Zensoren früher noch einigermaßen klar, so wird es immer schwieriger nachzuvollziehen, nach welchen Kriterien die Entscheidungen erfolgen. Trotz dieser Herausforderungen bieten die Vielfalt der Produktionsmöglichkeiten, ein schier unerschöpflicher Pool an kreativen und experimentierfreudigen jungen Künstlern und ein ungebrochenes Interesse an China Anlass zu Hoffnung, dass sich das chinesische Kino weiterhin erfolgreich behaupten kann. Die Pioniere der fünften Generation haben sich mittlerweile populäreren und kommerziell einträglicheren Genres zugewandt und machen dank ihrer international finanzierten Großproduktionen mit Stars aus China, Hongkong, Taiwan und Japan Schlagzeilen. Aber es sind die Autorenfilme von Absolventen der Filmakademie, renommierten Kameraleuten, Autodidaktikern oder Vertretern von ethnischen Minderheiten Chinas, die derzeit das Aufsehen an den internationalen Festivals erregen. Die in China übliche und von der westlichen Filmkritik übernommene Einteilung der Filmschaffenden der Volksrepublik in Generationen hat inzwischen ausgedient. Sie wird im Übrigen von den chinesischen Regisseuren, die für eine individuelle Beurteilung ihrer Filme plädieren, meist dezidiert abgelehnt. Zu unterschiedlich sind Werdegang und Werke der jungen Regisseure. Im Westen hat glücklicherweise die Tendenz abgenommen, einen chinesischen Film danach zu beurteilen, wie „subversiv“ bzw. regimekritisch er ist. Vielleicht ist die Zeit angebrochen, da in China wie im Westen ein chinesischer Film ganz einfach auch als individueller Ausdruck einer künstlerischen Vision wahrgenommen werden kann.

(Nathalie Bao-Götsch, trigon-film, Ennetbaden, Schweiz)