Das Ende des Monologs

Olaf Nicolai, Wolken (2021), Aquarell auf Bütten

Der argentinische Künstler Leon Ferrari spricht vom täglichen Wahnsinn, der notwendig ist, damit alles normal zu sein scheint. In diesem Sinne kann unsere Arbeit am Haus der Kulturen der Welt zunächst als Versuch verstanden werden, Risse in diese Normalitätskonstruktionen zu bringen, die den Wahnsinn, der dabei am Werk ist, erkennbar werden lassen. Diese Vorgehensweise möchte ich an zwei Projekten vorführen, die ein Koordinatensystem unserer Arbeit in den letzten Jahren aufspannen.

Die Künstlerin Maria Eichhorn, die dieses Jahr den deutschen Beitrag auf der Venedig Biennale gestaltet hat, wurde 2015 von uns zu einem Projekt über den Ort eingeladen, an dem heute das HKW steht. In historischen Archiven entdeckte sie, dass die ehemalige Kongresshalle auf den Ruinen eines jüdischen Wohnviertels erbaut wurde, zu dem auch die Klinik des Sexualforschers und Mitbegründer der ersten Homosexuellen-Bewegung, Magnus Hirschfeld, zählte.

In ihrer Arbeit macht Maria Eichhorn die Gewalt erkennbar, die unter und in den Strukturen der Architektur des Gebäudes verborgen ist.

Hirschfeld musste in den 1930er Jahren fliehen. Die jüdische Besitzerin der anderen Häuser wurde gezwungen, ihr Eigentum unter Wert an einen deutschen Rechtsanwalt zu verkaufen. Dieser wiederum verkaufte den Besitz nach dem Krieg zu einem weit höheren Preis an das Land Berlin. Die jüdische Besitzerin wurde in ein Konzentrationslager deportiert. Der Restitutionsanspruch ihrer Söhne, die nach Lateinamerika geflohen waren, wurde abgewiesen.

In ihrer Arbeit macht Maria Eichhorn mit Markierungen die alten Wohngebäude sichtbar, die sich einst auf dem HKW-Gelände befanden. So wird die Gewalt erkennbar, die unter und in den Strukturen der Architektur des Gebäudes verborgen ist. Eine Gewalt, die den Anderen, Jüdinnen und Juden, im Namen einer nationalistischen Idee auslöschte.

Strategien des Vergessens hinterfragen

Dieses Projekt verdeutlicht das Fortleben des Nationalsozialismus in Deutschland nach 1945. Der deutsche Notar, der sich unrechtmäßig am Eigentum der jüdischen Familie bereichert hatte, unterhielt bis in die 1970er Jahre eine renommierte Kanzlei in Düsseldorf. Die 1957 errichtete Kongresshalle war ein Geschenk der USA an die Stadt Berlin. Eleanor Dulles, die das Projekt wesentlich vorantrieb, sah in der offenen Architektur ein Symbol demokratischer Freiheit, das an der Grenze zu Ostberlin in den Ostblock hineinstrahlte. Das Gebäude, auf den Ruinen eines jüdischen Quartiers errichtet, sollte genau diese Vergangenheit durch die Verkörperung universalistischer Werte im Kontext des Kalten Krieges überdecken. Die Nachkriegszeit war geprägt von solchen Strategien des Vergessens. Sie schufen in der neuen Bundesrepublik eine Oberfläche, unter der nationalistisches Gedankengut und nationalsozialistische Karrieren lange verborgen blieben.

Im Nachhinein konnte es aufmerksame Beobachter*innen der deutschen Geschichte kaum überraschen, dass eine nur scheinbar „neue“ nationalistische Rechte in den 2010er Jahren die öffentliche Bühne betrat, nahtlos an nationalsozialistisches Gedankengut anknüpfte und schließlich in Form der AfD sogar in den deutschen Bundestag einzog. Als Ort, dem die Wunden dieser Geschichte eingeschrieben sind, sah das HKW es deshalb als wichtige Aufgabe an, die damit verbundenen Formen des Antisemitismus zu bekämpfen und seine Logiken offenzulegen, wie es zuletzt in der Konferenz Hijacking Memory geschah.

Olaf Nicolai, Wolken (2022), Aquarell auf Bütten

Olaf Nicolai, Wolken (2022), Aquarell auf Bütten

Erinnerungslinien freilegen

Es gibt aber noch eine zweite Erinnerungslinie, die in das Haus eingeschrieben ist. Auf sie verwies ein Projekt des kürzlich verstorbenen Künstlers Jimmie Durham, einem bedeutenden indigenen US-Künstler, der seit Mitte der 1990er Jahre in Berlin lebte.

In Building a Nation konterkariert Jimmie Durham die Idee, Architektur zum Instrument der Nationalstaatsbildung zu machen. So gesehen ist die Arbeit ein Kommentar zur Kongresshalle, die ein architektonischer Beitrag zur Demokratisierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg sein sollte. Die Installation besteht aus Zivilisationsresten, von Holzpaneelen über zerbrochene Whiskeyflaschen bis zu demolierten Autoteilen. Die Assemblage markiert die Auflösung der westlichen Zivilisation an ihren Rändern, die Implosion des universalistischen Siedlertraums, die Welt zu kolonisieren und zu dominieren.

Durhams Arbeit beinhaltet eine direkte Referenz auf eine Inschrift im Gebäude, die die Gewalt repräsentiert, die von diesem Universalismus ausgeht. Es handelt sich um ein Zitat von Benjamin Franklin, in dem dieser die Idee der Freiheit preist und eine Welt einfordert, in der ein Philosoph seinen Fuß, wo immer er möchte, aufsetzen und sagen kann „Dies ist mein Vaterland“. Die Installation stellt diesem Satz von Franklin Zitate entgegen, in denen Franklin und andere US-amerikanischen Staatsmänner die Native Americans als „Wilde“, „Abschaum der Erde“ etc. beschreiben. Damit führt er die Gewalt vor, die vom westlichen Zivilisationsprojekt ausgeht, indem es andere von dieser Zivilisation ausschließt, um sie zu kolonisieren und auszubeuten.

Die Installation aus Zivilisationsresten, von Holzpaneelen über zerbrochene Whiskeyflaschen bis zu demolierten Autoteilen markiert die Implosion des universalistischen Siedlertraums, die Welt zu kolonisieren und zu dominieren.

Dies macht deutlich, dass die beiden Bedeutungsebenen, die in die Forderung des „Nie wieder!“ eingeschrieben sind, zum Gründungsauftrag des HKW gehören. Neben dem partikularistischen Verständnis – dass es nie wieder einen Holocaust gegen Jüdinnen und Juden geben darf – gibt es auch die universalistische Lesart – den Kampf gegen jede Form von Völkermord, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führte. Jimmie Durhams Arbeit macht darauf aufmerksam, dass verschiedene Formen des Völkermordes von Beginn an Teil des westlichen Moderneprojektes waren, das große Teile der Welt vom Universalismus durch einen auf Rassismus gründenden Kolonialismus und Imperialismus ausschloss.

Ausschlussverfahren delegitimieren

Mit diesen Mechanismen der Exklusion, die die Funktionsweisen des Moderneprojekts im Sinne Ferraris normalisieren sollen, beschäftigten wir uns im Mai diesen Jahres in dem Projekt Die Zivilisationsfrage, in dessen Zentrum die Auseinandersetzung mit dem neuen Buch von David Graeber und David Wengrow, Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, stand. Die beiden Autoren zeigen, wie im Kontext der europäischen Aufklärung ein Standardmodell der Menschheitsgeschichte entwickelt wurde, das eine grundlegende und legitimierende Rolle für solche Ausschlussverfahren spielte. Dieses Modell wurde entwickelt, um Kritik aus anderen Teilen der Welt an den fehlenden Freiheitsräumen und der Dominanz des Privateigentums in Europa zu neutralisieren. Das Standardmodell der Zivilisationsgeschichte beschreibt in evolutionistischer Logik eine lineare Entwicklung der Menschheit von einfachen und ursprünglichen zu immer komplexeren Gesellschaftsformen, von egalitären Jäger- und Sammlergesellschaften über Pastoralismus und Ackerbau bis hin zu kapitalistischen Entwicklungen. In diesem Standardmodell werden die indigenen Gesellschaften einem vorzivilisatorischen Naturstand zugeordnet. Weitergeführt wurde dieses Modell in den „wissenschaftlichen“ Rassismus-Theorien des 19. Jahrhunderts, deren Denkformen die Diskurse bis heute prägen.

Damit schuf Europa ein Weltmodell, das zum einen seine kolonialen und imperialen Aspirationen legitimierte, zum anderen im Namen des Fortschritts, an dessen Spitze man sich sah, die eigene Position als alternativlos erscheinen ließ. Auf diese Weise wurden die substanziellen Freiheitsräume eliminiert, die von der indigenen Kritik angemahnt wurden. Die kritische Selbstreflexion des eigenen Projektes durch den Austausch mit anderen, also eine wirkliche Aufklärung, wurde durch die kolonialen und internen Machtinteressen desavouiert.

Olaf Nicolai, Wolken (2022), Aquarell auf Bütten

Olaf Nicolai, Wolken (2022), Aquarell auf Bütten

Dies führt uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer doppelten Problemlage, mit der sich das Haus der Kulturen der Welt in weiteren Projekten auseinandersetzte. Auf der einen Seite zeigen die von Menschen erzeugte Klimakrise und die weiteren Effekte eines ungezügelten Wachstums, dass das westliche eindimensional evolutionistische Zivilisationsmodell uns an den Rand eines Kollapses führt. Mit dieser Krise beschäftigt sich das HKW in seinem Anthropozänprojekt. Gleichzeitig melden sich aus den kolonisierten Ländern, die lange Zeit unterdrückt und ausgebeutet wurden, immer mehr Stimmen, die ihre eigenen Perspektiven in den globalen Diskurs einbringen. Diese sind nicht mehr bereit, sich in das vom Westen proklamierte Masternarrativ einzuordnen, um eine Entwicklung nachzuholen, in der der Westen ihnen immer ein paar Schritte voraus ist. Dabei handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit der Gewalt und der Unterdrückung der Vergangenheit ebenso wie um den Entwurf alternativer Lebens- und Denkmodelle für die Zukunft.

Es ist gleichermaßen im Interesse westlicher Gesellschaften wie der ehemals ausgebeuteten und kolonisierten Gesellschaften geboten, den westlichen Alleinvertretungsanspruch auf Vernunft und damit symbolische Vorherrschaft aufzugeben. Dies ist ein schmerzhafter Prozess, werden dabei doch alte Gewissheiten infrage gestellt, verlieren bestehende Orientierungsmuster ihre Relevanz und muss Deutungshoheit über Diskurse abgegeben werden.

Olaf Nicolai, Wolken (2021), Aquarell auf Bütten

Olaf Nicolai, Wolken (2021), Aquarell auf Bütten

Einen neuen Politikhorizont eröffnen

In diesem Sinne machte es sich das HKW in den letzten Jahren zur Aufgabe, die mit Kolonialismus und Rassismus einhergehenden Ausschlussmechanismen westlicher Moderne zu hinterfragen und einen neuen Politikhorizont zu eröffnen. Es geht darum, das Einwanderungsland Deutschland von einem immer noch national geprägten Verständnis der eigenen Identität in eine plurale und mehrstimmige Gesellschaft zu überführen. Dieses Projekt kann aber nur gelingen, wenn die Stimmen derer, die über Jahrhunderte kolonisiert, unterdrückt und ausgebeutet wurden, von Anfang an einbezogen werden. Das Projekt Archiv der Flucht setzte dabei ein sehr wichtiges Zeichen.

Wir brauchen Formen des Gesprächs, die die Gewaltkontexte, aus denen unsere Gesellschaften entstanden sind, reflektieren, und ein Aushandeln neuer Weltentwürfe befördern.

Die hier kurz umrissene Arbeit des HKW der letzten Jahre bestand darin, deutlich zu machen, dass die vom Westen geprägten Referenzsysteme in Kunst und Wissenschaft, in Ökonomie und Politik den Planeten in die heutige Krisenlage gebracht haben – vom Klimawandel bis zum Artensterben und nie gekannten Migrationsbewegungen. Dabei spielte die Ausgrenzung nichtwestlicher Gesellschaften eine grundlegende Rolle. Ein neuer Dialogbegriff ist daher dringend vonnöten. Die bisherige Forderung eines „Gesprächs auf Augenhöhe“ mit nichtwestlichen Gesellschaften sollte verschleiern, dass es der Westen war, der die Augenhöhe bestimmte, auf die die Anderen anzuheben waren. Solche paternalistischen Gesten, die im Sinne eines falschen Universalismusverständnisses an das Gute und Wahre appellierten, sind obsolet. Sie waren Monologe des Westens mit sich selbst. Wir brauchen Formen des Gesprächs, die die Gewaltkontexte, aus denen unsere Gesellschaften entstanden sind, reflektieren, und ein Aushandeln neuer Weltentwürfe befördern – unter Anerkennung unterschiedlicher konfliktiver Interessenlagen und Wahrnehmungsweisen.

Um eine solche Differenzierung unterschiedlicher Positionen muss es angesichts der planetarischen Herausforderungen in Zukunft gehen, um einen destruktiven Kulturkampf zu vermeiden und alle für die Zukunft unserer Gesellschaften wichtigen Stimmen an einen Tisch zu bringen. Nur so lassen sich die Diskursräume offenhalten. Nur so können Lösungsmöglichkeiten für die existenziellen globalen Probleme entwickelt werden. Und nur so lässt sich dem Wahnsinn, den wir als Normalität betrachten, ein Stück sinnvoller, da geteilter Realität abgewinnen.

Der Essay basiert auf einer Rede, die Bernd Scherer am 31. August 2022 im HKW gehalten hat. Der Beitrag bildet die gedankliche Grundlage für den letzten Band der Reihe Das Neue Alphabet, Die neue Institution, mit Beiträgen von Eyal Weizman, Adania Shibli, Maria Hlavajova und anderen.