2013: Das Anthropozän ruft

Das Anthropozän-Projekt. Eine Eröffnung, © Joachim Loch

Sicher gilt, dass die „eigentliche“ Natur schon lange im Verschwinden begriffen ist: Auch als Rousseau seine Wanderungen im Wallis beschreibt, vermerkt er immer wieder Spuren menschlicher Eingriffe. Doch die industrielle Revolution, die in den letzten Jahrzehnten seines Lebens einsetzte, um sich dann immer weiter zu beschleunigen, schafft radikal neue Verhältnisse. CO2, strahlende Produkte der AKWs und feinste Plastikmüllteilchen werden von wem auch immer noch in Tausenden von Jahren zu finden sein. Geo-Engineering ist das neuste Stichwort in punkto menschlicher Allmachtsfantasien und künstliche Bäume dessen aktuellstes Projekt, riesige Grillrost-ähnliche CO2-Fänger. Das ist mehr als Umweltverschmutzung, Klima und Gestalt der Erde werden verändert, und auch das Denken bekommt etwas ab: Was ist, wenn die Natur nicht mehr das andere ist, wenn Menschenwelt/Natur, Natur/Kultur sich nicht mehr als unterschiedliche Prinzipien gegenüberstehen. Was ist dann etwa mit der komplentativen Distanzierung von den sozialen Festlegungen und Normen in der Begegnung mit der Natur? Oder wie werden globale Verantwortlichkeiten organisiert – und mit welchen rigiden Mitteln durchgesetzt? Was ist mit religiöser, spiritueller, auch naturwissenschaftlicher Erschließung der Welt, wenn sie zu einem nicht mehr ganz zu klärenden Maße menschengemacht ist? Was ist überhaupt mit dem Staunen über „die Natur“?

DAS ANTHROPOZÄN-PROJEKT kümmert sich in diesem und im Jahr 2014 um diese und ähnliche Fragen, das zweite große Langzeitunternehmen des HKW nach ÜBER LEBENSKUNST, ein Vorhaben zwischen Geistes- und Naturwissenschaft und Kunst. Prominente Denker gaben da die Anstöße, unter anderem der Erfinder der These vom „Erdzeitalter des Menschen“, der Nobelpreisträger Paul J. Crutzen. Nicht zufällig ist der Titel so gewählt, dass er anmutet wie das Massiv von Blockbuchstaben aus dem Vorspann von „Star Wars“. Natürlich sind die Fragen in ihrer Zahl und Vielfalt unüberschaubar, das fängt schon damit an, dass derzeit immer noch eine Anthropocene Working Group (AWG) der International Commission on Stratigraphy dabei ist, diesem Anthropozän in der geologischen Zeitskala einen Platz zuzuweisen. Oktober 2014 tagt die dann auch im HKW. So sind die Veranstaltungen dieses Menschenzeitalter-Programms so etwas wie die Stöckchen, an denen sich Kandiszucker kristallisiert: Anlässe des Nachdenkens. Das gilt nicht nur für die Panels, Präsentationen und Debatten, die bei der Eröffnung des Projekts im Januar stattfinden. Das gilt auch für die Serie von drei Musikfestivals, die unter salopp formulierten Namen daher kommen: UNMENSCHLICHE MUSIK, BÖSE MUSIK, DOOFE MUSIK. Sie stellen am musikalischen Beispiel die Einzigartigkeit der Schöpferkraft des Menschenzeitalter-Protagonisten in Frage, überprüfen seine Intentionen ebenso wie seine Fähigkeit und Bereitschaft zur Reflexion. Unvergessen der Auftritt von Jerry Dammers̕` Spatial AKA Orchestra mit seiner Hommage an Sun Ra oder auch die Roboterkonzerte beim ersten Festival oder beim zweiten Festival die unsägliche Gemeinheit der Hate-Rap-Gesänge, die Ale Dumbsky, Robert Stadlober und Freunde auf der Bühne aufspießten. In ihrer flachen Blödheit hätten sie auch ein Beitrag zum dritten, dem Festival DOOFE MUSIK sein können, bei dessen Eröffnung erstaunte, wie viel Spaß wie viele Menschen im Jahre 2014 beim Ententanz der 1960er-Jahre haben können.

Der Kandiszuckerstöckchen-Charakter der ANTHROPOZÄN-Veranstaltungen wird auch stark deutlich bei der Ausstellung THE WHOLE EARTH. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, einer durch Bild- und Musikgeschichte mäandernden Präsentation. Ausgangspunkt dazu ist das ikonenhafte Bild des “blauen Planeten“, der global bekannten Aufnahme der Erde gesehen vom Weltall, dessen Veröffentlichung durch die NASA eine ganze Kette von Denk-und Lebenspraxis-Eruptionen hervorrief. Die auch heute wieder in den Nerd-Groß-WGs von San Francisco gepflegte Symbiose von hippiehaft-alternativem Denken und computergestützten Kommerz-Visionen nahm so im Kalifornien der 1960er-Jahre ihren Anfang. Ein Themenschmankerl für die Kuratoren: den Pop(musik)-Theoretiker Diedrich Diedrichsen und den geübten Kurator von Denk-Ausstellungen Anselm Franke. Kristallisationspunkte auch die visuellen und reflektierenden Studien des ANTHROPOZÄN OBSERVATORIUMS von Armin Linke, Territorial Agency und eben Franke zu den Institutionen und Instrumenten, die sich die Erde zum Objekt machen. Die nächste große Ausstellung in diesem Kontext dann im März 2014: FORENSIS geht da neben anderen den Fragen der forensischen Spurensuche zu Eingriffen in die Erdgestalt nach – eine Spurensuche, so wird hier demonstriert, die durch die neuen bildgebenden Verfahren auch für NGOs und einzelne Umweltaktivisten möglich ist. Auch hier ist die Materiallage überwältigend, nicht nur die der forensischen Erhebungen, sondern ebenso die der Exponate und Texte, die vor dem Ausstellungsbesucher ausgebreitet werden.

Wie so häufig im HKW stand da neben dem Eingang zwar unsichtbar, aber dafür umso treffender ein Schild mit der Aufschrift „Nehmen Sie sich Zeit“. Aber das ist heutzutage ja nicht die schlechteste Aufforderung, nicht nur, wenn’s um’s Denken geht.

Axel Besteher-Hegenbart