2008: Nach-Sinnen über Wüsten und Wasser

Catherine David: DI/VISIONS, Ausstellungsansicht, © Jochen Wermann

Die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen zu westlichen und anderen Modernen, die das HKW schon seit Jahrzehnten führt (zu vergleichen bitte: 1977 „Kampf der Modernen“), geht in diesem Jahr in zwei neue Runden.

Da ist über die Jahreswende 2007/2008 das Haus angefüllt mit Stimmen: Stimmen von Denkern, Künstlern und Künstlerinnen aus dem Nahen Osten. In die Architektur der Halle strahlen die Bilder von Interviews, die Catherine David unter der Fragestellung führte, wie zivilgesellschaftliche Initiativen, Intellektuelle und Aktivisten in die öffentlichen Angelegenheiten eingreifen können. Der Kuratorin der documenta X kam es auf differenzierte und differenzierende Positionen an, jenseits des Fokus auf Krieg und Gewalt, jenseits auch des katastrophalen, damals wie heute andauernden Irak- Konflikts. DI/VISIONS war das programmatisch betitelt – Spaltungen und Visionen. Mit Spannung folgte man nun den riesigen Talking Heads, die ganze Wände füllten. Was dort etwa Samia Mehrez zu Ägyptens Kulturkriegen sagte und zum dualistischen Zusammenspiel von staatlicher Autorität und islamistischen Organisationen, oder Omar Amiralay in seinen Analysen Syriens – diese unabhängigen und kritischen Reflexionen würde man jetzt, nach den Erfahrungen des „arabischen Frühlings“, gern noch einmal hören und auch sehen. Neben den Positionen, die Einblicke in die politischen Situationen in den Ländern des Nahen Ostens gaben, war das Catherine-David-Projekt natürlich auch ein Beitrag in der lang anhaltenden Auseinandersetzung mit orientalistischen Vorstellungen der Art: Westen = Moderne, Säkularismus, Demokratie vs. Naher Osten = Rückstand, Fundamentalismus, Tyrannei.

Konsequenz solcher Vorstellungen ist natürlich, dem arabischen Anderen die Segnungen westlicher Moderne zu bringen, und sei es mit Gewalt. Und im Extrem noch mehr: Dessen Land als faktische Tabula Rasa zu betrachten, das auch als Versuchsfeld herhalten kann. Wie dies im Nordafrika der späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren geschah, wie die französische Kolonialmacht in Algerien, Tunesien und Marokko ein Laboratorium von Architektur und Stadtplanung errichtete, zeigte dann ein Programm im Herbst: „In der Wüste der Moderne – Koloniale Planung und danach“. Verblüfft musste man die Forschungsergebnisse eines internationalen Verbundprojekts zur Kenntnis nehmen, die zeigten, dass hinter den „aufgeklärten“ Konzepten des „Sozialen Wohnungsbaus für die große Zahl“ sowie den Ideen zu Stadtplanung und Architektur à la Le Corbusier Versuche mit modernistischen Wohnsiedlungen bei Casablanca oder Algier standen. Dass das Habitat arabischer Siedlungen in Marokko und die Quartiere von Armen und Migranten am Rande französischer Städte mit demselben (quasi-)kolonialen Blick untersucht worden sind. Dass in beiden Fällen groß angelegte Umsiedlungen geplant wurden. Dass auch die Kritiker kolonialer Verhältnisse dann in den 1960er-Jahren in ihrem Bemühen, von „vormodernen“ Formen des Bauens und der Stadt in Nordafrika zu lernen, im ethnologischen Blick des Kolonialismus befangen blieben. Dass kurz gesagt, dies alles ein Beispiel dafür ist, dass die europäische Moderne ohne Kolonialismus nicht denkbar gewesen wäre. Dafür wurden in der Ausstellung, die im Zentrum des Programms stand, vielfältige Belege gebracht. Staunend erfuhr man da, dass selbst die Wiege der Stadtautobahn bei Casablanca gestanden hat. Eine Menge zu schauen und zu lesen.

„Wüste der Moderne“ war die erste der Präsentationen, die ab jetzt das Bild in der Ausstellungshalle des HKW bestimmen sollten: vielfältig belegte, vielfältig medial aufbereitete, im Ergebnis meist verblüffende Thesenausstellungen. Ihr ästhetischer Reiz liegt in Inhalt und Gestaltung des Lernens, des Erfahrens neuer Fakten und Kontexte, nur in wenigen Momenten in sinnlichem Erleben. Ausnahmen, die wie immer die Regel bestätigen, werden wir im Folgenden natürlich auch begegnen.

Firkat al Bahrain, Wassermusik 2008, © Jochen Wermann

Aber jetzt erst mal, in einer Brachialüberleitung, zu einem neuen Festival im HKW, das die Paarung von sinnlichem Erleben und Reflexion als Programm hat und seit Juli 2008 jährlich stattfindet: WASSERMUSIK. Dazu passt die Meldung, die kurz zuvor, im April des Jahres über die Ticker läuft: In den spanischen Regionen am Mittelmeer werden strenge Maßnahmen zum Wassersparen angeordnet, vielerorts hatte es bereits seit anderthalb Jahren nicht mehr geregnet. Dass ein Zuwenig an Wasser für Mensch und Natur große Gefahren mit sich bringt, leuchtet unmittelbar ein, und man weiß auch von den neuen Drohungen des Zuviel. Während an der Nordsee darüber nachgedacht wird, um wie viele Meter die Deiche sicherheitshalber wohl noch erhöht werden sollen, ist schon klar, dass manche Inselgruppen in Folge der globalen Erderwärmung in nicht allzu ferner Zukunft verschwunden sein werden. Nur, was tun? Überraschenderweise will das HKW diese und ähnliche Fragen rund um das fließende Element auf einem neuen Open-Air-Festival ansprechen. In einem Open-Air-Event auf der Dachterrasse, am grünen Strand der Spree. Soweit Sommer in Berlin überhaupt stattfindet, hier wird er auf der Haut und im Ohr spürbar. Nachdem die Sommerfestivals JAZZ ACROSS THE BORDER und dann dessen Nachfolger popdeurope abgeschaltet wurden, hatte die Musik für einige Jahre nur noch sporadisch am HKW gespielt. 2007 dann war Worldtronics – „Festival of Electronic Music“ aus der Taufe gehoben worden, im November, für eine etwas speziellere Klientel, aber immerhin. Jetzt aber dreht das Haus voll den Hahn auf mit dem, was es gut kann: Interdisziplinarität. Die erste Ausgabe bringt Konzerte zu ebenso eingängigen Stilen wie Surf und Tiki sowie Seefahrerlieder, Obertitel sind hier „Strandaussteiger, Surf`n`Roll und Wassertunnel“ oder „Exotica, Geisterwelten und Hawaiihemden“. Kombiniert ist der Musikspaß mit Lesungen, Spielfilmen und Dokus, mit Vorträgen zum Meeresschutz und einem thematischen Wassermarkt mit Umweltinitiativen. Eine Wasserakademie in Kooperation mit der UNESCO lädt zu Workshops. In den nächsten Jahren folgen WASSERMUSIKen zu Südsee, Amazonien, aber auch der Wüste, um nur einige Beispiel zu nennen.

Lassen Sie uns aber mal unter dem anderen Aspekt Sinnlichkeit/Reflexion in die Zukunft blicken: Nach einigen Festival-Ausgaben, die Konzerte mit Begegnungen mit Edouard Glissant zur Kreolisation oder mit Michel Serres zum Charme des Fließenden verbinden, wird sich WASSERMUSIK bis 2014 auf Konzerte und Filme reduzieren. Das kann man so oder so sehen. Reduzieren heißt beim 4-Sterne-Koch ja: auf die geschmackliche Essenz einkochen. Übrig bleibt jedenfalls, rund und handlich wie ein vom Wasser abgeschliffener Kiesel, ein Sommer-Open-Air-Event voller Musik und Filmbilder. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Axel Besteher-Hegenbart