2002: Das "In Transit"-Jahr

Das Haus der Kulturen der Welt geht mit einem Festival schwanger

Michel Groismann, Transference, (c) Michel Groismann

Am Anfang herrschte Erklärungsnotstand. Was sollte das für ein Festival sein, das im Untertitel stolz mit „Transforming the Arts“ warb?! Für Übergänge und transitorische Prozesse stand dieses Haus längst, als es sich „In Transit“ schuf. Klar war aber nur, dass in Anna Seghers Kofferträgern aus Exilromanen gar nichts mehr wurzeln würde. Vielmehr ging es um Grenzverschiebungen und Reisebewegungen des 21. Jahrhunderts, zwischen „geografischen Ursprüngen, Geschlechtern und Biografien“ in der globalisierten Welt. Im Fokus: Das Aufeinandertreffen von Künstlern aus verschiedenen kulturellen Kontexten mit extrem unterschiedlichen Biografien. Deren Geschichten und Geschicke sollten nicht in weltumspannenden Konstrukten, sondern am individuellen Dissens deutlich gemacht werden. Als erster „In Transit“-Kurator wurde Ong Keng Sen, Direktor von „Theatre Works“ in Singapur, engagiert. Wo das Festival langgehen sollte, machte er deutlich mit seiner Dokuperformance über eine kambodschanische Tempeltänzerin, die den Killing Fields entkommen war. Auch „He left quietly“ vom Überleben eines südafrikanischen Anti-Apartheid-Aktivisten nach dem Todesurteil, unterstrich den von „In Transit“ angestrebten neuen performativ-politischen Ansatz. Dem Programmmacher Johannes Odenthal oblag es, die prozessorientierte Veranstaltungsreihe mit Laborcharakter einzudeutschen und einzugemeinden. Er verstand „In Transit“ als neuerlichen Aufbruch weg von „eurozentristischen Kriterien“ hin zum „Mitdenken von politischen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Kontexten von Kunst“. In „Translated Acts“ mit chinesischer Performancekunst und dem Afrika-Schwerpunkt „Short Century“, beide im Jahr 2001, gründeten für Odenthal Vorläufer. Dennoch: Für das Haus bedeutete es eine neuerliche gewaltige Kraftanstrengung, die nicht mehr als „exotisch“ betrachteten „Anderen“ mit dem zunächst auf einen einjährigen Turnus angelegten Festival „In Transit“ und den auf jeweils zwei Jahre verpflichteten außereuropäischen Kuratoren, wie zum Auftakt Ong Keng Sen, in ihren Veranstaltungszyklus zu integrieren. Und darüber hinaus, schließlich trafen sich zumindest einige der 150 in 52 Performances verpflichteten Künstler im nichtöffentlichen Rahmenprogramm zu Workshops und „Labs“, um gemeinsam neue Produktionen zu erarbeiten. Denn „In Transit“ sollte auch auf künstlerische Kontinuität setzen. Wer sich hier traf, wollte ein Jahr später wieder zusammenkommen. Das ist nicht immer gelungen, aber die nigerianische Tänzerin Sophiatou Kossoko oder der interaktive Videoarbeiter Matthew Ngui aus Singapur gehören mittlerweile zum Stammpersonal der „In Transit“-Fortsetzungen.

„Ritual“ hieß ein großes Thema der ersten Ausgabe. Während der afrikanische Tänzer Vincent Matsoe die Verbindung zu den Wurzeln seiner Zulu-Kultur längst auch auf europäischen Bühnen zum Ausdruck brachte, wie die indonesische von der Kampfkunst beeinflusste Gruppe Gumarang Sakti ihre Spurensuche, hatte der Stamm der Karajá aus dem Busch Brasiliens sein angestammtes Amazonas-Gebiet noch nie zuvor verlassen. Die indigenen Tänzer brachten ihre traditionellen Rituale, darunter das zentrale des Lachens, für „In Transit“ zum ersten Mal außer Landes. Und gingen nach ihrem Auftritt im großen Auditorium im kleinen Stammes-Kreis begeistert Hamburger essen. Ihr Auftritt wirkte letztlich ähnlich befremdlich und obskur wie der des schwulen südafrikanischen Performance-Duos Steven Cohen & Elu. Die beiden weißen Südafrikaner knebelten sich zum Beispiel mit schwarzen Dildo-Kopfschmuckwerken, um ihre „sehr persönliche Hardcore-Erkundung von Queer-Identität im heutigen Südafrika“ zu untermauern. Da ging doch einigen Zuschauern der Fortschrittsglaube aus. Andererseits gehörte der Auftritt von Jin Xin, der transsexuellen chinesischen Tänzerin, die längst auch weltweit Furore macht, zu den Highlights des Festivals – weil sie eben die Grenzen von Geschlecht und Herkunft in ihren Performances überschreitet. Für andere, wie die libanesischen Geschichtsforscher und Theaterperformer Elias Khoury und Rabi Mroué markierte „In Transit“ einen Karrierewendepunkt in ihrer Wahrnehmung durch deutsche – und europäische - Kulturveranstalter. Als sie 2002, ein Jahr nach 9/11, ihr Videodokumentartheater aus dem Innenleben eines islamistischen Selbstmordattentäters vorführten, galten sie noch als wenig bekannte Minderheitenstimmen des aufgeklärten Libanon. Mittlerweile sind sowohl Khoury als auch Mroué eingeführte Größen im globalen künstlerischen Dialog über den Nahost-Konflikt – und darüber hinaus. Dissens und Aufbruch in die Moderne repräsentieren sie längst auch bei Documenta und Biennale. So hat sich „In Transit“ als Durchlauferhitzer und Diskursverstärker bewährt.
Ute Büsing

Ute Büsing arbeitet als freie Autorin und Journalistin, im Hörfunk hauptsächlich für RBB Inforadio Berlin.